Читать книгу Lasst uns über Liebe reden - Walter Muller - Страница 10
Barfuß über jeden See (Robert Christl, 1922–2013)
ОглавлениеDa braust einer übers Wasser, am Seil von einem Motorboot gezogen, mehr als 60 Stundenkilometer schnell – braust so dahin und hat nicht einmal Skier unter den Füßen. Barfuß ist er unterwegs, auf den nackten Sohlen. Nicht irgendeiner: Robert Christl, Weltmeister im Barfuß-Wasserskifahren!
Dreieinhalb Kilometer barfuß übers Wasser flitzen. „Dann passt du drei Tage lang in keinen Schuh hinein, so geschwollen sind die Füße“, hat er mir erzählt, beim späten Besuch, keine vier Wochen vor seinem Tod, draußen in Itzling, in der Wohnung, in der er 65 Jahre lang gelebt hat. 26 Kilometer von seinem geliebten Mondsee entfernt, zu dem er bei jedem halbwegs schönen Wetter gefahren ist. Sein See, sein Club. Und er der Star, als Läufer und als Lehrer. Der Barfußkaiser.
„Er war ein Unikum, die Seele der Wasserschule, das Mädchen für alles“, sagt Sepp Mörtl vom Wasserskizentrum Mondsee. Immer für alles und für alle da. Hunderte Menschen haben von ihm das Wasserskilaufen gelernt … Wie Hunderte Menschen im Winter von ihm das Schneeskifahren gelernt haben.
„Das Wichtigste ist“, erzählt der Robert – und er kann so anschaulich erzählen auch ganz am Ende seines langen Lebens –, „dass du im richtigen Moment aus den Ski-Schlaufen springst und dann ganz flach arschlings und am Rücken auf der Wasseroberfläche landest. Wie ein Stein, den man über den See plattelt. Dann ziehst du den Körper hoch und braust dahin. Auf den Sohlen.“ So einfach ist das, wenn man einer wie er ist.
Wasserskifahren: Wahrscheinlich seine größte Leidenschaft – neben Skispringen, Kunstturnen, Turmspringen, Langlaufen, Drachenfliegen, Marathonlaufen und so weiter und so fort. 24 Sportarten in 46 Disziplinen hat er wettkampfmäßig betrieben. Und immer überall ganz vorne dabei. Einmal ist er Allround-Europameister in einer Kombination aus 20 Sportarten geworden!
Am meisten abgeräumt hat er freilich beim Wasserskilauf. 85 Medaillen allein bei Welt- und Europameisterschaften, davon 30 in Gold. Wenn man sein Trophäenzimmer in der Bognerstraße besichtigt, glaubt man, da müssen die Pokale, Medaillen und Urkunden einer ganzen Sportlergeneration deponiert sein. Es sind aber einzig und allein seine. 700 werden es wohl sein.
Darunter etwa ein Pokal, den ihm König Hussein von Jordanien persönlich überreicht hat. Dass er zweimal im Internationalen Guinness-Buch der Rekorde steht, hat ihn besonders stolz gemacht: 1997 mit 30 Teilnahmen an Wasserski-Europameisterschaften (es sind ja danach noch vier weitere gefolgt) und 2006 als ältester Schneeski- und Wasserski-Lehrer der Welt. Der Titel „Doyen der europäischen Wasserski-Elite“ hat ihn gefreut und geehrt. In Florida, in Australien ist er, Robert Christl, Ehrenmitglied bei den diversen Barfußfahrer-Clubs. Letzten Sommer, das ist ja erst ein halbes Jahr her, ist er in bestechender Manier über den Mondsee gefahren, mit dem Mono-Wasserski, nach seinem 90. Geburtstag noch.
Dabei wäre sein Leben, das Leben des Robert Christl, nach einem halben Jahr schon fast vorbei gewesen. In Stall im Mölltal hat er das Licht der Welt erblickt. Am 26. Juni 1922. Der Vater: nicht da. Ein lediges Kind also. Und die Mutter sieht nur eine Chance, den Buben über die Runden, in eine halbwegs gute Zukunft zu bringen: Er muss nach Zell am See, zu den Großeltern, den Steinachers. Also bettet sie ihn im kalten Jänner 1923 in einen Wickelpolster und die Hebamme macht sich mit ihm auf den Weg. Zu Fuß von Stall über Flattach bis Mallnitz, durch den Schnee, stundenlang.
Der Robert, der Bub, hat Keuchhusten und ist dem Tod näher als dem Leben. Von Mallnitz aus geht es mit dem Personenzug nach Zell. Der Opa ist ein sehr tüchtiger, erfolgreicher Schuhmacher; die Oma, die der Robert später dann und immer „Mutter“ nennen wird, schaut sich das hustende, kleine Würmchen im Wickelpolster an, meint lächelnd „So a liab’s Biabl!“, und schon gehört er zur Familie. 13 Kinder gibt es bereits, da kommt es den Steinachers auf ein weiteres wahrlich nicht an. „Bei dir“, sagt die Oma, die „Mutter“, später einmal, „hab i’ ma nur die Geburt erspart!“
Das „liabe Biabl“ wird rasch gesund und entwickelt sich in Zell am See prächtig. Wird ein lebendiges Kind im wahrsten Sinne des Wortes. An jedem Spiel, an jedem Sport interessiert. Spielt Fußball auf der Straße, mit so einem Temperament, dass dann und wann eine Fensterscheibe dran glauben muss. Vor allem aber gibt es den See für den Sommer. Und die Berge und bald schon die Schanze im Winter!
Der Robert ist grad einmal 14 Jahre alt, als die Sprungschanze im Köhlergraben eröffnet wird, 1936. Der legendäre Bubi Bradl siegt mit einem Sprung über 81,5 Meter. Robert Christl schafft als Vorspringer immerhin 49 Meter, ohne Training und mit 2,40 Meter langen Skiern, in die der Wagner von Zell am See schnell zwei Rinnen auf der Waxlseite gezogen hat, damit man mit diesen Dingern halbwegs springen kann. Am Gersberg, später dann, wird der Robert den Schanzenrekord aufstellen, der ewig hält – 38 Meter. Bis ins Flache. Und dann haut es ihn hin und er liegt eine Zeit lang im Gips, vom Hals bis zum Bauch. Auch das gehört zu so einer unglaublichen Sportlerkarriere. Wie er ja auch das Barfuß-Wasserskifahren nicht ohne gewaltige Salti, spektakuläre, schmerzhafte Stürze erlernt hat. Aber irgendwie ist er immer aufgestanden. Und weitergefahren, weitergesprungen.
Zurück in die 30er-Jahre. Die Schule ist vorbei, der Robert hat etliche Jugend- und Ortsmeisterschaften in verschiedenen Sportarten gewonnen. Jetzt geht es um den Beruf. Robert Christl hat einen großen Traum: Schauspieler möchte er werden. Einer wie der Heesters, der Albers oder der Willy Forst, die er in den Kinofilmen so bewundert. „Mach was G’scheites“, sagen die Großeltern. „Schauspieler ist kein Beruf!“ Also beginnt er eine Bäckerlehre in Lend. Bäckerlehrling, Bäcker sein – das heißt: In den Nachtstunden mit der Arbeit beginnen. Dann wird das Trainieren danach doppelt schwer.
Das wirft den Robert nicht aus der Bahn. Er ist willensstark und zäh. Und hat noch immer diesen Traum im Herzen: Schauspieler werden! Im März 1939 hat er als Bäcker ausgelernt. Drei Monate später ist er auch schon in Berlin. „Ich hab einen fürchterlichen Dialekt gesprochen“, erzählt er. Also nimmt Robert Christl Sprechunterricht, in einer renommierten Schule, in die auch so prominente Leute wie Rudolf Platte und Heinz Rühmann gegangen sind.
Ganz unrecht haben die Großeltern nicht gehabt. Viel Geld kann man als Schauspielanfänger nicht verdienen. Man muss eher dazuzahlen. Immerhin kann er in einigen Stücken an Berliner Theatern als Statist mitwirken. Einmal steht er an der Volksbühne Berlin in der Zirkuskomödie mit Gusti Wolf gemeinsam auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Oder bedeuten könnten.
Aber da ist schon Krieg, und jetzt beginnt ein ganz anderes Kapitel in seinem Leben. Robert Christl rückt zu einer Infanterie-Division ein. „Wer kann Skifahren?“, heißt es.
Wer schon! Er natürlich; und schon ist er Gebirgsjäger. Wird im Laufe des Krieges mit seiner Einheit in 50 Nahkämpfe verwickelt. Hat sehr viel Glück, aber am 22. Juli 1943 verwundet ihn ein Bauchschuss lebensgefährlich. „Da ist die Kugel rein“, erzählt der alte Herr und deutet auf die Narbe auf seinem immer noch braungebrannten Körper, vier Wochen vor seinem Tod, „und da hinten …“, und jetzt dreht er mir den Rücken zu, „… ist sie wieder raus!“
Eigentlich könnte der Krieg ab sofort für ihn vorbei sein, aber er wird noch einmal mit einem „letzten Aufgebot“ an Soldaten an die Fronten geschickt. Ins Baltikum, mit der „Ju 52“. Über Tallinn, Reval hieß die Stadt damals, werden sie alle einfach aus dem Flugzeug geworfen und müssen per Fallschirm landen. Der allererste Fallschirmsprung für ihn. Ohne Training, wie so oft. Noch eine Verwundung kommt dazu: Eine Ferse wird ihm durchschossen. Dass er später auf dieser Ferse, vom Motorboot gezogen, übers Wasser braust – unglaublich.
Dann ist der Krieg endgültig vorbei. Robert Christl arbeitet wieder in der Bäckerei in Lend. Aber der Traum von der Schauspielerei lässt ihn immer noch nicht los. Diesmal geht es, von einer Bekannten vermittelt, die Beziehungen hat, nach Wien, an das Horak-Konservatorium. Bibiane Zeller und Peter Minich sind seine Schauspielschul-Kollegen. Peter Minich verdankt er es übrigens, dass er mit dem Rauchen Schluss gemacht hat. Robert Christl, der brillante Sportler, hat bis zu seinem 28. Lebensjahr viel geraucht, 30 Zigaretten am Tag. Der Opern-, Operetten-, Musical-Sänger Minich, der ein guter Freund geblieben ist und sich im Laufe des Lebens oft mit ihm am Mondsee getroffen hat, sagt eines Tages, 1950: „Wetten, dass du es nicht schaffst, damit aufzuhören!“ Robert Christl hört in derselben Stunde damit auf, für immer, und gewinnt die Wette: 200 Schilling.
Die große Schauspielerkarriere hat sich nicht ergeben. In ein paar Filmen hat er kleinere Rollen übernommen, war dabei, als Luis Trenker seinen Dokumentarfilm über die Männer von Kaprun, über den Kraftwerksbau, gedreht hat. Und in Werbefilmen.
„Nivea Reklame“ – wer hätte besser gepasst als der ewig braungebrannte, smarte Robert Christl? Werbung hätte er für Vieles machen können. Für Sonnenbrillen, Zahnpasta, bunte Hawaii-Hemden – aber vor allem: fürs Leben selbst. Was für ein flirrend buntes Leben!
Also doch Bäcker von Beruf. Und das gerne und mit vollem Einsatz. Wie immer in seinem Leben. Bäcker bei seinem Bruder in Salzburg. Und später beim „Haidenthaler“. Bäcker bis zur Pensionierung vor gut 30 Jahren. Die Großeltern, die ja wie Eltern waren, haben schon recht gehabt. Für die Leidenschaft Sport war da allemal Platz genug. Bei der Schauspielerei wäre das viel schwieriger gewesen.
Wenn man den Namen Robert Christl nennt, bekommen heute noch viele Damen im reiferen Alter glänzende Augen und geraten regelrecht ins Schwärmen. „Womanizer“, würde man heute sagen. Ein Charmeur. Einer mit einem g’sunden Schmäh; und getanzt hat er auch fantastisch. Turniertänze – Walzer, Tango, Slowfox und Rumba. Nie „schlampert“ beisammen, immer ein Sir.
Am Tag, bevor ich mir seine Geschichten anhören darf, ist die Tochter von Bubi Bradl bei ihm, beim Robert, zu Besuch gewesen, zum Abschiedsbesuch. „So a fesche Frau!“, hat der Robert gesagt.
Die vielen Prominenten, die er gekannt und die ihn geschätzt haben! Katerina Jacob, die Kommissarin aus dem Bullen von Tölz, hat ihn in den Goldenen Hirschen eingeladen, um mit ihm über ihren Vater zu plaudern, der im Krieg sein Vorgesetzter gewesen ist, Major Jacob. Der Schauspielerin Hildegard Knef hat er, als sie in Salzburg war, ziemlich krank, ein Bett in seiner Wohnung zur pflegerischen Betreuung überlassen. Sepp Forcher hat ihn in einem Brief „mein Über-Weltmeister“ genannt. Jochen Rindt, Klammer, Goldberger, Hinterseer, Helmuth Lohner – alle haben sich gern mit ihm fotografieren lassen und mit ihm über den Sport, das Leben, das Theater geplaudert.
„I’ möcht auch amoi so berühmt werden wie der Onkel Robert!“ Der das gesagt hat, ist sogar noch berühmter geworden. Robert Christls Großneffe – Hans-Peter Steinacher, Doppel-Olympiasieger im Segeln.
Wenn man Robert Christl nach dem Geheimnis für seine Fitness und für seine grandiosen Erfolge befragt hat, dann hat er immer locker aus der trainierten Hüfte heraus gesagt: „Viel Sport, kein Nikotin, viel Milch und Kakao, kein Alkohol, keine Sorgen!“
Das mit den Sorgen ist so eine Sache. Dass neben dem Beruf und dem Sport zu wenig Zeit für die Familie geblieben ist, das hat er, vor allem in den letzten Jahren und Monaten, sehr bedauert. Eine Ehe, die früh gescheitert ist. Und dann der Sohn, die Enkelin mit ihrer Familie, Urenkel. Viel zu selten in den Arm genommen. Alles im Leben hat seinen Preis. Und nichts im Leben kann man zurückdrehen.
Schön, dass Wolfgang, der Sohn, in einer der letzten Nächte bei ihm in der Palliativstation im Landeskrankenhaus sein konnte. Und dass Magdalena, die Enkelin, mit ihren Kleinen gekommen ist – mit dem Theo und dem Konstantin, der im Sterbezimmer noch Bilder gemalt hat für den Uropa.
Schön, dass die Frau Lackner, die liebe Nachbarin, sich so sehr um ihn gekümmert hat, und die Tante Mitzi und die Cousine Christa vor allem, die ihm in der allerletzten Nacht im Kerzenschein noch das lange Weihnachtsgedicht aufgesagt hat, das man in der Familie immer so gern gehört hat. Frau Dr. Faber, der Engel von der Palliativstation, hat extra für ihn, nachdem er noch die Krankensalbung bekommen hat, auf dem Klavier gespielt.
Was bleibt und was ihn stolz gemacht hat: die Anerkennung, die Wertschätzung in der Welt draußen und in seiner Heimat. Die Verdienstzeichen in Gold und Silber, seinen Lieblingsfarben, der Republik Österreich, des Landes Salzburg, der Sportverbände, der Wörtherseer und seiner Mondseer vor allem.
Geld hat Robert Christl mit dem Sport nicht wirklich verdienen können. Ein paar Hundert Schilling bei Wasserski-Vorführungen beim Seefest in Zell. Aber darum ist es ja nicht gegangen.
Er hat sein Leben gelebt, er, das liabe Biabl aus dem Mölltal, er, der so besondere Mensch, der mehr als ein Mal dem Tod von der Schaufel gesprungen ist, als Kind, im Krieg.
87 Meter: Seine Höchstweite beim Skispringen, einstmals in Bischofshofen, die Arme voraus, tadelloser Telemark.
Pumperlgesund, 90 Jahre lang. Dann, nach diesem schönen letzten Sommer am Mondsee, auf dem Mondsee – die Krankheit, gegen die es kein Gewinnen mehr gibt. Wenn ihn in den letzten Wochen seines Lebens ein Hospizbegleiter besucht hat, dann hat der Robert ihm – ach, dieses Elefantengedächtnis! – die lateinischen Gebete rezitiert, die er als Ministrant in seiner Kinderzeit in Zell am See gelernt hat.
In seinem Krankenzimmer daheim in Itzling, beim Fenster mit dem Blick ins Weite, bis zum Untersberg hin, steht der Hometrainer. „Da setz ich mich im Moment lieber nicht drauf“, hat er gesagt, vier Wochen vor seinem Tod. Gegen den Tod, letztendlich, kann man nur verlieren. Robert Christl ist als fairer Verlierer abgetreten von der Lebensbühne. Nein, nicht als Verlierer, einfach als Zweiter. Hinter dem Tod. Einmal ist er bei der österreichischen Marathon-Meisterschaft Zweiter geworden, hinter der Marathon-Legende Adolf Gruber. „Der hat’s leicht g’habt“, hat er gemeint, „der hat ja nix anderes g’macht!“
Robert Christl hat diese Welt gefasst verlassen, in Frieden. Mit einem Lächeln und in großer Dankbarkeit für sein sagenhaftes, unvergleichliches Leben.