Читать книгу Lasst uns über Liebe reden - Walter Muller - Страница 9

Dem himmlischen Stern hinterdrein (Richard Mühl, 1947–2012)

Оглавление

„Deine Wangalan“ heißt die kleine Melodie, die du sehr gemocht hast, Richard. Tobi Reiser, der Jüngere, hat sie komponiert, das Reiser-Ensemble hat sie gespielt. Wir waren Hirten beim Salzburger Adventsingen, lang ist es her. Tobi Reiser, Karl Heinrich Waggerl, das war unsere Bubenzeit, Hirtenstock und Filzhut, der Andachtsjodler und der Stern, dem wir andächtig Jahr für Jahr gefolgt sind, auf dem Weg zum Stall von Bethlehem, auch wenn wir längst gewusst haben, dass der Stern bloß ein heller Scheinwerfer hoch droben im Beleuchterhimmel in der Aula oder im Festspielhaus gewesen ist.

Wer einmal Hirte war, der bleibt ein Hirte, dem Herzen nach, sein Leben lang. Du hast oft von dieser Zeit geplaudert, Richard, bist später gerne zu den Treffen der ehemaligen Hiatabuam und Hirtensänger gekommen. Wenn du aufgetaucht bist, nicht nur beim Hirtentreffen, ich glaube, das hast du immer und in jeder geselligen Runde so gemacht, hast du zuallererst jedem erzählt, wie lang du mit der Anni verheiratet bist. Und im nächsten Satz, dass du deinen erstgeborenen Sohn, den Richard, 1994 durch einen tragischen Unfall verloren hast. Das waren die ersten Sätze. Dann alles andere.

In der Nacht vor deinem so überraschenden Tod heute vor einer Woche, hast du mit der Nachtschwester im „Wehrle“ ein bisschen geshakert, kavaliersmäßig, und hast ihr dein ganzes Leben erzählt. Der erste Satz war wohl der: „45 Jahre bin ich mit der Anni verheiratet!“ Und der zweite: „Seit 18 Jahren ist mein erster Bub, der Richard, tot.“

Du warst so stolz und so verwundbar zugleich. Kein Diplomat, weiß Gott nicht. Wie einseitig wäre das Leben, wenn es nur diplomatische Menschen gäbe! Die zu allem Ja und Amen sagen. Du bist immer den geraden Weg gegangen, und der führt manchmal mit dem Kopf durch die Wand. Du bist einer mit Ecken und Kanten gewesen, da eckt man hin und wieder an. Das ist halt so.

Du hast oft einfach die Wahrheit gesagt, gradheraus – das verträgt nicht ein jeder. Das Wichtigste: Du hast Handschlagqualität besessen, auf dich hat man sich hundertprozentig verlassen können, ob als Versicherungs-Kunde oder als Freund. Du hast geholfen, wo es was zu helfen gab, ohne Zögern und ohne auf die Uhr zu schauen. Warst einfach da – zur richtigen Zeit. Du mit deiner rauen Schale und diesem großen butterweichen Herzen!

Der Anfang, der Einstieg ins Leben, war nicht gerade leicht. Die Jahre vor deiner Geburt: Der Vater im Krieg, die Mutter mit zwei Mädchen, der Judith und der Helga, deinen älteren Schwestern, auf der Flucht vor den Russen – irgendwohin in den Westen. In der Unterfischach-Mühle bei Köstendorf sind sie angekommen, haben beim Bauern wohnen und mitarbeiten dürfen. Gott sei Dank ist auch der Vater unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt. Und dann hast du das Licht der Welt erblickt, Ritschi – am 24. Februar 1947.

Richard Mühl, genauso wie der Vater. Dein Vater war gelernter Tischler und später ist er Finanzbeamter geworden. Aber vor allem war er so geschickt mit den Händen, beim Bauen, beim Basteln, ach bei allem. Wie tatkräftig hat er später beim Umbau eurer so sehr geliebten Hütte am Fuß des Schlenken mitgearbeitet! Er hat dir früh beigebracht, dass ein richtiger Bub immer ein Taschenmesser, eine Schnur und Streichhölzer bei sich tragen muss. Das hast du als richtiger Bub befolgt und später an deine beiden Buben weitergegeben. Beim Bauern von der Unterfischach-Mühle bist du am liebsten mit dem Traktor herumgefahren. Aber dann seid ihr mit Kind und Kegel in die Stadt gezogen, Salzburg, Nonntaler Hauptstraße – die ganze Familie auf engstem Raum. Platz ist in der kleinsten Hütte. Und dann ist noch der Bernhard, der kleine Bruder, zur Welt gekommen.

Eure Mutter, Leopoldine Mühl, hat sich einen Namen gemacht als engagierte Funktionärin bei den ÖVP-Frauen. Du hast ja später auch, ihrem Vorbild folgend, viel Zeit und Energie in die Partei-Mitarbeit bei der Ortsgruppe Parsch gesteckt.

Du, Ritschi, hast die Volksschule in Nonntal besucht, bist beim Sternsingen als einer der Heiligen Drei Könige vor lauter Übermut in den Almkanal gefallen, aber dir ist nichts passiert und man hat dir statt dem nassen Heiligen-Gewand Klamotten aus der Altkleidersammlung der Pfarre angezogen, dass du dir keinen Schnupfen holst. Du hast im Nonntaler Kirchenchor mitgesungen, warst Handballspieler, Hirte beim Adventsingen und Ministrant.

Lasst uns über die Liebe reden. Dass Ehen im Himmel geschlossen werden, ist ein allseits bekannter Satz. Aber dass sich zwei junge Menschen in der Kirche ineinander verschauen, so sehr, dass sie später einmal heiraten, das kommt nicht so oft vor. Du warst also Ministrant im Nonntal, Richard, fromm und spitzbübisch zugleich. Grad einmal fünf Jahre jung, als du damit angefangen hast. Und später dann, als ihr Ministranten alt genug dafür wart, habt ihr, deine Kollegen und du, leidenschaftlich gern mit dem Herrn Pfarrer tarockiert, wenn er nicht grad im Brevier gelesen hat.

Wo Ministranten sind, da sind meistens auch die Jungscharmädchen nicht weit. Eines dieser Mädchen, sie ist noch in die Hauptschule gegangen wie du, hat Anni geheißen, die Anni vom Hinterholzerkai. Jedes der Mädels hat sich einen Ministranten ausgesucht, rein platonisch, nur so zum Anhimmeln. Sie, die Anni, hat dich erkoren, den schlanken, ranken Ministranten Richard, blond und blauäugig … obwohl sie eigentlich von einem Schwarzhaarigen mit braunen Augen geträumt hätte. Egal – es war ja ohnehin eine Liebe ohne Worte, aber eine mit Herzklopfen. Deinetwegen ist sie mit dem Rad jedes Mal in die Frühmesse gefahren, weil du so fromm ministriert und so spitzbübisch gelächelt hast. Ach, diese wunderbare erste Verliebtheit!

Dann haben sich eure Wege getrennt. Die Anni vom Hinterholzerkai hat eine Bürokaufmannslehre gemacht, du hast eine Zeit lang die LBA besucht, die Lehrerbildungsanstalt. Einer deiner Lehrer war Hans Katschthaler, der spätere Landeshauptmann, der jetzt drei Wochen vor dir gestorben ist. Dein Musiklehrer in der LBA wollte unbedingt, dass du ein Instrument erlernst, weil du so musikalisch warst. Orgel zum Beispiel. Bei euch daheim hätte es eine Harfe für dich zum Spielen gegeben. Aber das war nicht in deinem Lebensplan vorgesehen. Singen – gern. Und laut! Dein ganzes Leben lang. Hunderte Wander-, Berg-, Volks- und Wienerlieder. Die Kirchenlieder sowieso. Fehlerfrei und textsicher. Aber kein Instrument.

Und auch die LBA hast du vorzeitig wieder verlassen. Lieber zum Bundesheer, hast du gedacht, für eine Weile.

Dann habt ihr euch wiedergefunden, die Anni und du. Am 24. Februar 1965, an deinem 18. Geburtstag. Bei einem Fest beim Römerwirt in Nonntal, gleich gegenüber von eurem Wohnhaus.

Du hast einen Nebenbuhler, den die Anni ohnehin unbedingt loswerden wollte, unmissverständlich in die Schranken gewiesen. „Hoppla, jetzt komm ich!“ Und die Sache war gelöst. Ihr habt getanzt, du und die Anni, und ihr seid beisammen geblieben, für immer.

Was für ein guter Tänzer du gewesen bist! Wenn die Anni mit ihren Bürokolleginnen unterwegs war, dann hast du auch mit denen getanzt, Kavalier, der du warst. Kein Ball, kein Fest, bei dem ihr nicht bis zum letzten Walzer getanzt habt. Als dich, später dann, das Knie im Stich gelassen hat, habt ihr zumindest in der Silvesternacht auf der „Hütt’n“ zu lauter Musik den Donauwalzer getanzt, die Feuerwerkssterne am Nachthimmel. Ihr zwei, im schönsten Walzerschritt. Da hättest du am liebsten die ganze Welt umarmt!

„Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen“, hat Augustinus geschrieben. Die Engel, da droben oder da drüben, wo auch immer sich der Himmel befindet, werden sich reißen um einen Tanz mit dir. Und du, Gentleman der alten Schule, wirst ihnen keinen Tanz verweigern.

Du hast ihnen ja längst und stolz erzählt: „45 Jahre war ich mit der Anni verheiratet!“ Vom Richard, dem Erstgeborenen, musst du nichts erzählen. Der ist ja längst bei dir. Ihr habt euch umarmt. „Alles ist gut.“ Und heute Nacht werdet ihr eine spontane Fahrt durch das Sternenmeer unternehmen, wie du, Ritschi, mit ihm früher das eine oder andere Mal, einfach so, spontan, mitten in der Nacht runter in den Süden ans Meer gedüst bist.

Im Jänner 1967 habt ihr in der Kirche Herrnau geheiratet, du und die Anni. Vier Monate später, die Liebe hat ihre eigene Zeitrechnung, ist der Richard zur Welt gekommen. Ihr habt in Obertrum gewohnt, dann in der Josefiau – und 1970 seid ihr Parscher geworden und geblieben, im Haus gegenüber der Parscher Kirche.

Die Anni hat beim ORF zu arbeiten begonnen. Du, Richard, hast verschiedenes ausprobiert in deinem Berufsleben: Hypo, dann Verkaufsförderer bei einer Getränkefirma. Und neben der Arbeit, sprich: in der Nacht, hast du, fleißig wie du warst, bei der Firma Albus die riesigen Busse gewaschen und gesäubert, damit mehr Geld ins Haus kommt. Bald seid ihr ja zu viert gewesen. 1973 ist euch der zweite Sohn, der Christian, geboren worden.

Ein fürsorglicher Vater bist du gewesen, sagt der Christian. Immer da, wenn man dich gebraucht hat. Du hast den beiden „Türen geöffnet“ und warst an ihrer Seite – das ist das Wichtigste, ob man sich immer ganz einig ist oder nicht.

Als der Richard und der Christian beim SAK Fußball gespielt haben, bist du selbstverständlich bei jedem Spiel dabei gewesen. Du warst ein richtiger Spielervater, hast alles in die Hand genommen, hast deine Buben unterstützt und angespornt.

Wenn der Richard auf Jungscharlager gefahren ist, bist du mitgefahren, als väterlicher Betreuer für alle. Du hast junge Menschen so gut motivieren können, Richard! Wenn der Christian ins Pfadfinderlager gezogen ist, bist du natürlich ebenfalls mitgekommen, hast organisiert, was zu organisieren war; und wenn noch Kochgeschirr gefehlt hat, hast du halt beim Bundesheer welches besorgt. Später dann, als der Christian in Graz studiert hat, hast du für ihn oft vorgekocht, hast ihm in der Kühltasche allerlei Köstliches und Nahrhaftes mitgegeben, damit der Bub, der Student, nicht verhungern muss.

Bei „SPAR“ bist du Finanz- und Vermögensreferent gewesen, da hast du selbstständig wichtige Entscheidungen treffen müssen und hast dich dabei wohlgefühlt, zehn Jahre lang. Bis auch dieses Kapitel für dich abgeschlossen war. Bei der Wiener Städtischen hast du 20 Jahre lang gearbeitet als Kundenbetreuer. Ich weiß es selbst, wie gewissenhaft und ausdauernd du Menschen, die keine Ahnung vom Versicherungswesen haben, beraten und begleitet hast. Und wenn es gepasst hat, hat man ein paar nagelneue Witze dazu serviert bekommen. Du warst Bezirksinspektor, aber Titel waren für dich das Unwichtigste überhaupt. Zu deinen Aufgaben hat es auch gehört, in den Kasernen die jungen Grundwehrdiener über Versicherungen zu informieren. Das hat dir Freude gemacht. Junge Menschen hast du gemocht.

Du hast die Natur geliebt, Richard, und hast die Deinen mitgenommen, deine Familie und Annis Familie – in die Berge, auf den Hochkönig zum Beispiel. Urlaub auf den Almen! Als du selbst noch ein junger Mann warst, bist du mit deiner Schwester Helga mit dem Fahrrad über den Pass Lueg gestrampelt und dann seid ihr zu Fuß hinauf auf die Werfener Hütte gestiegen. Die Berge haben dich fasziniert.

Zur Bundesheerzeit hast du am Untersberg beim Seilbahnbau mitgeholfen und hast Ziegel geschleppt. Das karge Ziegelgeld ist nach den Anstrengungen meist fürs Durstlöschen draufgegangen.

Wo du glücklich warst? Beim Schwammerlsuchen in Hüttau! Auf Reisen, mit dem Auto nach Kroatien. Du, der Frühaufsteher, hast alle anderen zum Frühstück mit Obst und Gemüse versorgt, das du bei Sonnenaufgang gepflückt oder eingekauft hast. Die Kreuzfahrt durchs Mittelmeer, die Schiffsfahrt auf dem Rhein, die Reise zur Zitronenblüte in Nizza und Cannes. Wanderurlaube in Niederösterreich. Die Flugreisen nach Amerika, nach Florida … und einmal mit dem Wohnmobil von Los Angeles bis Las Vegas. Deinen 65. Geburtstag, heuer im Februar, habt ihr, die Anni und du, Richard, auf Mallorca gefeiert, als die Mandelbäume so wunderschön geblüht haben.

Über alle Maßen glücklich? Auf der „Hütt’n“! Seit 30 Jahren – in jeder freien Minute „auf der Hütt’n“! Am Fuße des Schlenken habt ihr einen Stadel umgebaut, habt jedes Brett händisch hinaufgeschleppt, und dein Vater hat dir geholfen beim Fenster-Einbauen. Die zweite Hütte, die in Adnet-Wimberg, ist schon gestanden, aber hübsch erweitert habt ihr sie, immer fest Hand angelegt. Und dann diese unvergesslichen Momente: In der Hütte sitzen, vor der Hütte sitzen, mit lieben Freunden die prachtvolle Aussicht genießen, den Sonnenuntergang.

Einfach glücklich sein. Reden, singen, erzählen … wie lange du und die Anni schon verheiratet seid zum Beispiel. Voller Genuss das Bier trinken und den Schweinsbraten verspeisen, den du eigenhändig am alten Bauernofen zubereitet hast … oder deine Kaspressknödel. Ein begnadeter Koch bist du gewesen. 25 Leberknödel auf einmal – eine Kleinigkeit. Koch und Genießer. Beim Kochen hast du dich so gut vom Arbeitsstress und vom Alltagsärger erholen können. Redselig warst du. Und leutselig. Selig mit Leuten rund um dich.

Deine Anni hast du überallhin begleitet, auch zu den Dreharbeiten fürs Klingende Österreich. Du warst stolz auf deine Familie, über das erste Schulzeugnis eurer Enkelin Stefanie, lauter Einser!, hast du dich sehr gefreut. Vor vier Wochen warst du noch auf der „Hütt’n“, ein bissl was herrichten, für später.

Am Schluss ist alles so schnell gegangen. Dass du alles erledigt hast, hast du der Anni gesagt, „wann i’ a Bankl reiß“. Das war deine Art: raue Schale, butterweiches Herz. Du hast viele Seiten des Lebens kennengelernt, nicht nur die strahlenden. Du hast verzweifelt und du hast so glücklich sein können, Ritschi, Hirtenbruder. Du hast dir den Himmel weiß Gott redlich verdient.

Lasst uns über Liebe reden

Подняться наверх