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ОглавлениеFrau von Schellemarr lag auf ihrem Liegestuhl ihres Balkons im Parkhotel. Sie hielt ihren Schreibblock auf den Knien und zeichnete in die Ecke des ersten Blattes ein kleines spöttisches Selbstporträt. Die krausen Haare vom Winde etwas zerzaust, die schwarze Brille ein wenig auf die Nase vorgeschoben, die Pelzjacke als Windschutz für den empfindsamen Hals aufgeschlagen, eine Decke um die Knie geschlungen (obwohl es eigentlich ganz hübsch warm war).
Sie setzte von neuem zu dem Brief an, den sie im Zug fortgeworfen hatte:
»Liebste Melanie, der Wind treibt immer wieder die Wolkenschatten über den Wald und über meinen Balkon. Dann fröstelt man. Wenn aber die Sonne scheint, dehnt sich das Holz des Balkons, knackt wie alte Knochen und riecht nach Harz.
Vorläufig spiele ich Sommerfremde. Es ist keine gute Rolle für mich. Denn weder ist es Sommer, noch bin ich fremd hier. Im Gegenteil. Gleich am Anfang traf ich einen Bekannten von Reinhold. Da überfiel es mich, daß er nun auch über Sechzig wäre, und die große Frage beschäftigt mich: Wird man so alt, wie man werden kann, das heißt: stirbt man dann, wenn man eine andere Gestalt nicht mehr erlangen kann, oder hätte er doch noch eine andere Gestalt erreicht, wenn er nur weitergelebt hätte?
Ich weiß, ich drücke mich schlecht aus. Aber Du wirst mich schon verstehen, obwohl Du knapp vierzig bist und ich schon sechsundvierzig und man doch eigentlich weise frühestens mit fünfundvierzig wird.
Was ich sagen wollte, ist dies: Reinhold mit seiner Schärfe, seiner Schneidigkeit und Zweischneidigkeit konnte seiner Natur nach nicht älter werden als fünfzig oder fünfundfünfzig. Als weiser Greis ist er nicht denkbar, ja nicht einmal als ein Sechziger, bei dem doch auch das Herz zu sprechen anfängt. Aber da sehe ich Dich schon lachen. Du weißt natürlich, worauf ich hinaus will. Ich will mich entschuldigen. Vor mir, vor Dir. Vielleicht sogar vor den Kindern. Aber ich sage doch nichts anderes damit, als was wirklich gewesen ist. Der Mensch stirbt meinem festen Glauben nach an sich selbst und nicht an anderen. Wenigstens ist das meine Hoffnung.«
Sie saß eine Weile bewegungslos und sah über die Blütenplantage von Kirschbaum und Flieder im Garten. Dann schrieb sie sehr schnell in ihrer winzigen Schrift, die sich fast runenartig ausnahm, den Brief zu Ende:
»Natürlich . . ., wenn man unsicher ist, drückt man sich möglichst heftig aus. Wenn ich irgendwas ernstlich glaubte, hätte ich nicht herzufahren brauchen. Und jetzt, hier auf dem Balkon des etwas schäbigen und altersschwachen Hotels, das einen verblichenen Glanz von lebensgroßen Fürsten-Fotografien her ausstrahlt (mit eigenhändiger Widmung und dem Zeugnis, daß der alte Fürst genau am 23. 6. 96 im Parkhotel vorzüglich gespeist hat, Mockturtle-Suppe als erstes natürlich) . . ., hier auf diesem Balkon begreife ich nicht mehr, was mich mit solcher Gewalt hergezogen hat.
Es ist alles hell, nüchtern und von einer, weil es Frühling ist, lieblichen Alltäglichkeit. Wer hier lebt, führt ein Leben ohne Hintergrund und Untergrund vor der grünen Kulisse des Heuberges, des Hirschfelsens oder des Nesselkopfes. Vielleicht, niemand (niemand?) hat mir ja befohlen, herzufahren, fahre ich genauso Hals über Kopf wieder weg, wie ich hergekommen bin. Die Gräber brauchen mich nicht. Für sie sorgt der Gärtner Bräutigam. Natürlich denkst Du wieder, dieser Name ist eine Erfindung oder Übertreibung von mir. Aber die Wirklichkeit ist erfinderischer als ich. Bräutigam ist nicht nur Friedhofsgärtner, sondern auch stellvertretender Totengräber, weil der amtliche krank ist. Und im übrigen gibt’s auch sonst noch allerlei gegenteilige Namen hier, die ich vergessen hatte. Der Konditor heißt Bitterlich. Der Kohlenhändler Kühl und Sohn, als ob so ein Sohn den unpassenden Namen wärmen könnte. Vielleicht also bin ich vor meinem Brief noch da, und Du kannst mich auslachen. Deine Marianne.«
Sie stand auf. Sie faltete das Blatt zusammen, steckte es in einen Umschlag, wollte ihn schließen, nahm den Brief noch einmal heraus und schrieb ganz schnell hinzu: »Kann aber auch sein, ich muß mich ausheulen.«