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Frau von Schellemarr spürte die Tränen durch die Finger rinnen. Sie hörte sich schluchzen, und schließlich hörte sie zu schluchzen auf. Die Erinnerung, die mit fast unerträglicher Gewalt ihr Herz gepackt hatte, verließ sie, ließ sie fast leblos zurück. Sie spürte das erst wie einen feinen Schmerz. Dann begann sie die Leere als wohltätig zu empfinden.

Sie richtete sich auf. Sie setzte sich auf den halbverfallenen Grabhügel wie auf eine Bank. Von dieser Stätte aus konnte sie das Drama sich noch einmal abrollen sehen. Und war es nicht vielleicht möglich – einen Augenblick hoffte sie das –, an den entscheidenden Stellen die Handlung zum Besseren zu wenden? Wenigstens für ihr Herz, das von den Erinnerungen wie von Ratten zernagt wurde.

Ja, wenn das nicht möglich sein sollte (so dachte sie erbittert), wozu dann überhaupt diese helle, wache, genaue Erinnerung, die sie ihr Leben lang geplagt und ihr nie gestattet hatte, im geringsten zu lügen. Selbst dort sagte sie sich die Wahrheit, wo fast alle lügen, in der Putz- und Flitterstube der Erinnerung, in der klägliche kleine Betrügereien als große Leidenschaften verkleidet werden, in der enttäuschte Männer sich als Helden kostümieren und abgewiesene Liebhaberinnen sich zu Asketinnen herausputzen.

Sie schüttelte ernst den Kopf. Nein, sie wollte nicht lügen. Das Drama war vollendet. Die Akteure, wenn sie noch einmal diese alte und so wenig veränderte Szenerie belebten, sie mußten nach dem gleichen Gesetz, nach dem das Drama aufgebaut war, nach dem Gesetz der Vergangenheit also, dasselbe tun, denken, handeln, das sie damals getan hatten. Wenn das aber so war, wozu dann die Qual, wozu dann die ganze Aktion? Sie konnte es jetzt nicht mehr beantworten.

Die Erinnerungen hatten sich lebendig gemacht, und das Spiel begann.

Die Bäume standen in vollem Laub, graugrün schon etwas. Denn es war Juli. Juli 1918. Die junge Frau von Schellemarr, sechsundzwanzig Jahre alt, war drüben am Erbbegräbnis gewesen. Vor ein paar Wochen hatte man Schellemarrs Großmutter begraben, einundneunzig Jahre alt. Der Hügel war noch frisch, und die junge Frau nahm die letzten verwelkten Kränze und ging mit ihnen in den leeren Teil des Friedhofs, damals noch nicht der »frische« Teil genannt, damals noch nicht von den Toten in Gebrauch genommen und als Wohnung erobert.

Sie ging, zwei welke Kränze über dem Arm. Das Drahtgeflecht im alten Teil des Friedhofs war übervoll. Denn man hatte fast jeden Tag Soldaten begraben, die an ihren Wunden im Lazarett gestorben waren oder von der Front hierher übergeführt wurden. Frau von Schellemarr stand jetzt unten am Wege, dort, wo er damals endete. Die Sonne blendete. Sie hatte die Augen geschlossen. Es war angenehm, lebendig zu sein, warm zu sein, die Sonne zu spüren, das rote Blut zu sehen, das in den Augenlidern pochte. Es war schön, allein zu sein. Das etwas staubige Hundsgras stach in ihre Strümpfe. Jetzt mußte sie gleich an der Mauer sein, über die sie die Kränze werfen wollte. Sie öffnete die Augen. Sie sah hier an der Ecke, ja hier, wo jetzt das Grab war, sah sie zum erstenmal Friedrich von M.

Er stand mit dem Rücken zu ihr. Er beugte sich und pflückte Blumen. Jetzt wandte er sich um und sah sie an. Er trug eine ziemlich zerschlissene Felduniform, graubraun von Regen und Schlamm, aber gut ausgewaschen und tadellos gebügelt. Ja, die Hosen hatten eine scharfe Bügelfalte. Das erinnerte sie etwas an ihren Mann, Reinhold von Schellemarr, von dem man behauptete, daß er sich vor einem Angriff die Nägel gestutzt und den Bart abrasiert hatte.

Jetzt erst erblickte Marianne sein Gesicht. Erst die Sonne und nun dieses Lächeln! War das eine täuschende Erinnerung? Borgte dies Lächeln seine verführerische, rührende Wärme, seine Herzlichkeit, seinen zarten Spott aus der später entdeckten Wärme des Herzens, aus dem späteren, herzlichen Lachen?

Frau von Schellemarr, die jetzige, sechsundvierzigjährige, erhob sich. Sie trat, als könnte sie damit die Frage beantworten, an den Platz, an dem sie damals stand. Ganz lebendig stand Friedrich von M. vor ihr, als wäre der schwarze Erinnerungsstein von seinem Grabe gehoben, stand vor ihr, dem Herzen nah und erfaßbar und nur mit den Händen nicht zu greifen. Sie ging auf die Sandsteinmauer zu. Sie lehnte sich gegen die rauhen Steine, die so besonnt waren, so warm wie damals, die sich überhaupt nicht verändert hatten. Ihre Hände hielt sie wie damals, hielt sie, als ob sie welke Kränze hielten, und in einem gespenstischen Nachhall des damaligen Tages warf sie die Schattenkränze über die Mauer. Sie wandte sich wieder zurück. Sie verwandelte sich wieder in die Erinnerte von 1918, in die Frau von damals.

Sie stand abwartend. Friedrich von M. hielt ihr den kleinen Strauß entgegen: Glockenblumen und Zittergras, kleine Grasrispen, an deren winzigen Stengelchen kleine, blütenbestaubte Herzen hingen. Er sagte: »Darf ich Ihnen das geben?« Sie antwortete: »Warum?« Er lächelte: »Ich hab’ mich nicht danach gefragt. Warum fragen Sie?«

Sie nahm den kleinen Strauß und stand unschlüssig. Er stellte sich dicht vor sie hin, nahm ihr den Strauß aus der Hand und steckte ihn ihr an den Gürtel, dicht unter dem Herzen. Frau von Schellemarr sah gespannt auf den Strauß hinunter, auf die Hände, die ihn befestigten, mit ein paar sicheren, geschickten, zarten Griffen.

Jetzt sah sie, wie die Herzen des Zittergrases unter ihren Herzschlägen zu schwingen begannen. »Auf Wiedersehen«, sagte Friedrich von M. Frau von Schellemarr antwortete nicht. »Warum schweigen Sie?« fragte der Mann.

Die junge Frau schüttelte verwirrt den Kopf. Sie strich mit etwas hilfloser Gebärde an ihrem Trauerkleid hinunter. Friedrich von M. sagte leise: »Trauern Sie wirklich so tief?« Und dann: »Warum klopft Ihr Herz dann so sehr?«

»Ich trauere gar nicht so sehr«, sagte Frau von Schellemarr. »Dies ist nur wegen einer ganz alten Frau.« Friedrich von M. nickte: »Und ich dachte Ihr Mann . . .« Er deutete auf seine Uniform: » . . . gefallen!«

Frau von Schellemarr sagte hart: »Was geht Sie das überhaupt an?« Friedrich von M. antwortete: »Es geht mich gar nichts an. Auf Wiedersehen.«

Damit wandte er sich um und ging schnell über die Grasnarbe, über den Weg, zögerte, kam zurück und sagte: »Verzeihen Sie . . ., hier geht mein Weg.« Er schwang sich mit einer Flanke über die Mauer und war verschwunden. Daran, daß die Stämme der Akazie ein wenig erzitterten, erkannte man, daß er den Abhang zum Steinbruch hinunterlief und sich dabei ein wenig an den Bäumen bremste.

Frau von Schellemarr, die jetzige, zog fröstelnd den Pelz zusammen. Denn ein Wind hatte sich aufgemacht, wehte über sie weg und sprang in die Akazienbäume, die sich zu neigen begannen, als stütze sich jemand im Hinablaufen gegen sie. Jetzt wandte sie sich schnell und lief über den »frischen« Teil des Friedhofs unter den Trauerbäumen hinweg und am Erbbegräbnis vorbei. Was gingen jene erbbegrabenen Toten sie an, nachdem sie einem wahrhaft lebendigen Toten wieder begegnet war?

Akazien

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