Читать книгу Gewalt des Glaubens Teil 1 - Werner Diefenthal - Страница 12

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Erster Teil

Bamberg, Februar 1527

Markus fror wie ein junger Hund. Missmutig stapfte er durch den Schnee und folgte den Pferden und Wagen, die sich vor ihm mühsam den Weg bahnten. Neben ihm marschierte Max, der eigentlich wie fast immer gut gelaunt war. Schnee, Regen, Sturm, nichts schien seiner Laune etwas anhaben zu können. Nur wenn es zu wenig zu essen gab, dann wurde Max ungehalten. Aber mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass die Rationen, die sie erhielten, ihn nur bedingt sättigten. Doch der Hüne war ein Überlebenskünstler. Er hatte es sich zu eigen gemacht, mittels selbstgemachter Drahtschlingen Hasen und Kaninchen zu fangen, die er sogar recht schmackhaft zubereiten konnte. Es war eine willkommene Erweiterung des Speiseplans, die ihm den Respekt und die Gunst der meisten Kameraden eingebracht hatte.

Auch Bandit, der nie von Markus' Seite wich, half dabei, indem er immer wieder Kaninchenbauten erschnüffelte, die Max aushob, wofür der brave Wolf dann seinen Teil abbekam.

Zu Beginn hatte es gerade wegen Bandit Probleme gegeben, denn ein Tier, das kein Pferd war, hatte im Regiment nichts verloren - schon gar nicht, wenn es ein Wolf war! Nach einigem Hin und Her und der Fürsprache von Markus' Truppenführer war man letztendlich jedoch übereingekommen, ihn zu dulden.

Endlich kam ihr Ziel in Sicht. Es lag in einer Senke, direkt am Ufer der Regnitz, unterhalb von Bamberg. Oben auf dem Hügel sah Markus den Dom, der dort thronte und alles zu überragen schien. Das Lager, in dem er seine Ausbildung zum Soldaten fortsetzen sollte, bestand hauptsächlich aus Zelten, die, wie er erkennen konnte, sorgfältig in einem Quadrat angeordnet waren. Er freute sich darauf, endlich wieder etwas Wärme zu spüren. Und er hatte Heimweh.

Obwohl Zeit seines Lebens unseßhaft, so hatte er doch in der kurzen Spanne, in welcher er in Rothenburg bei Matthias Wolf und dessen Frau gelebt hatte, so etwas wie Heimatgefühle entwickelt.

Doch Rothenburg war für ihn im Moment so weit weg wie der Mond und er fragte sich, ob er die Stadt irgendwann wiedersehen würde.

Die Kolonne schob sich in das Lager, neugierig beobachtet von Dutzenden Augenpaaren. Schließlich blieben sie stehen. Ein Mann, dem eine wulstige Narbe quer übers Gesicht lief, kam heran und teilte die neuen Soldaten auf. Jeder kam in eine bereits bestehende Gruppe, in der er ausgebildet werden sollte.

Nach und nach leerte sich der Platz, bis nur noch Markus und Max übrig waren. Langsam näherte sich ein Soldat, sah Markus lange ins Gesicht. Markus erwiderte den Blick des Fremden. Er war groß und breitschultrig, das braune Haar kurz und ordentlich geschnitten, und seine grauen Augen strahlten eine selbstbewusste Ruhe aus. Sofort hatte Markus das Gefühl, hier jemanden vor sich zu haben, dem er sich bedingungslos anvertrauen konnte.

»Du bist also Markus«, sagte der Soldat mit eindringlicher Stimme. »Man hat mir bereits von dir berichtet.« Er musterte Max, streifte auch Bandit mit einem kurzen Blick. »Und das sind deine, nun, Gefährten. Ich bin Conrad von Waldow, Hauptmann und in Zukunft dein Vorgesetzter. Wollen wir mal sehen, was wir aus euch machen können.«

Er sah sich um und winkte einen Mann zu sich, der mit gemächlichem Schritt näherkam.

»Hauptmann?«

Markus erlaubte sich einen Blick auf den Neuankömmling. Er war in etwa genau so groß wie Waldow, allerdings im Gegensatz zu dem ordentlich rasierten Hauptmann mehr als üppig mit rotbraunem Haupthaar ausgestattet, das sich in einem wilden Vollbart fortsetzte.

»Eberschneider, was machen wir mit den beiden?«

Der Angesprochene ging einmal um Markus herum, dann einmal um Max und versuchte, sich ein Urteil über die neuen Rekruten zu bilden.

»Das ist ne gute Frage. Ich meine, der Dicke hier, der frisst uns arm. Und dem da«, er zeigte auf Markus, »dem pfeift ja fast der Wind durch die Rippen. Vielleicht erst einmal was tun lassen, was sie stärkt und uns hilft? So wie«, er kratzte sich am Kinn, »Holz hacken?«

Von Waldow grinste, doch urplötzlich wurde die Musterung unterbrochen, als ein Geräusch wie Donner ertönte, dazu die Schreie von Männern, und die fröhliche Miene des Hauptmanns gefror. Er fuhr herum und sah, wie aus dem westlichen Teil des Lagers ein Pferd herangaloppiert kam. Die Zügel schleiften über den Boden, Schnee und Eis spritzten unter den Hufen hervor, und wie wild verdrehten Augen zeigten, dass es vollkommen außer Kontrolle war.

»Verdammt!«, fluchte er. »Bringt euch in Sicherheit, aus dem Weg, los!«, stieß er hervor und packte Markus am Arm.

Doch noch bevor er einen Schritt machen konnte, schob sich etwas an ihm vorbei und er erkannte mit Entsetzen, dass Max sich genau in die Bahn des Pferdes stellte und damit seinen Freund schützte. Er hob beide Arme hoch in die Luft.

»HOH!«, rief er laut. »Langsam, Pferd.«

Bewegungslos blieb er stehen, wie ein Fels ragte er empor. Das Tier, das in vollem Galopp war, sah die Gestalt und stemmte alle vier Hufe in den Boden. Es rutschte gefährlich nah an Max heran, aber kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen, schnaufte laut. Max sah ihm in die Augen, ließ die linke Hand sinken, griff in die Tasche und zog eine verschrumpelte Mohrrübe hervor, hielt sie dem Pferd vor das Maul. Skeptisch schnupperte das Tier, bevor es das Gemüse aus der Hand nahm und kaute.

Mittlerweile waren etwa zehn Männer angekommen, die völlig verstört zusahen, wie Max die Zügel nahm und das Tier an ihnen umdrehte.

»So, Pferd, du musst Max sagen, wo du wohnst«, brabbelte er.

»Moment!«, rief von Waldow, der wie vom Donner gerührt das ihm gebotene Schauspiel beobachtet hatte und ging auf Max zu, sah ihn lange an. »Warum hast du das gemacht?«

»Was?«, antwortete der Hüne. »Max was gemacht? Nur Pferd angehalten, wollt mein Freund umrennen. Max immer beschützt Freund.«

Er tätschelte dabei den Hals des Tieres, das sich lammfromm verhielt. Von Waldow schüttelte den Kopf, sah zu Markus.

»Macht der so was öfter?«

Markus hob die Schultern.

»Er hat sich in den Kopf gesetzt, auf mich aufpassen zu müssen. Es wäre besser, ihn das auch tun zu lassen, denke ich.«

Waldow kratzte sich am Kopf, rief nach dem Stallmeister, der in geduckter Haltung näherkam.

»Was habt Ihr mir zu sagen?«

Seine Stimme war auf einmal eiskalt. Markus erkannte sofort, dass er es gewohnt war zu befehlen und keinen Widerspruch zu dulden.

»Es tut mir leid, aber diese Schindmähre macht nur Ärger. Aber ich verspreche Euch, morgen habt ihr ihn auf dem Mittagstisch!«

»NEIN!«, rief Markus entsetzt.

Der Hauptmann fuhr herum.

»Du wagst es, etwas zu sagen, ohne dass dich jemand um deine Meinung gebeten hat?«

»Verzeiht mir. Aber es ist nicht richtig, ein Tier zu töten, weil die Menschen es nicht verstehen, mit ihm umzugehen.«

»Ach, und du kannst es?«

Der Spott in der Stimme des Stallmeisters war nicht zu überhören. Aber Markus hatte etwas gesehen, das ihm den Grund gezeigt hatte, warum das Tier so reagiert hatte.

Er wandte sich an den Hauptmann.

»Entschuldigt, aber darf ich?«

Waldow verschränkte die Arme und nickte. Das schien mehr als interessant zu werden.

»Nur zu.«

Markus ging langsam auf das Pferd zu, legte ihm eine Hand auf die Nüstern.

»Pscht, schon gut. Alles gut«, flüsterte er. Als er die Trense berührte, zuckte das Tier. »Max, kannst du seinen Kopf halten?«

»Max hält Kopf bis Sommer kommt, wenn du es sagst.«

Er schlang einen seiner kräftigen Arme um den Hals und hielt das Tier so fest. Markus löste die Trense und zog sie dem Pferd aus dem Maul. Blut klebte an ihr. Er holte tief Luft, schluckte, dann zog er langsam das Maul auf und sah hinein.

»Wie ich es mir gedacht habe.« Er sah zu von Waldow. »Hauptmann, wenn Ihr …«

Doch der stand schon neben ihm, betrachtete die Trense, sah in das Maul des Tieres und erkannte sofort, was geschehen war. Man hatte dem Pferd mit Gewalt die Trense hineingeschoben und dabei einen Zahn, der entzündet und vereitert war, noch weiter verletzt. Durch den Schmerz war das Tier an den Rand des Wahnsinns getrieben worden und schließlich durchgegangen.

Waldow drehte sich zum Stallmeister.

»Was habt Ihr getan?«, fauchte er. »Wisst Ihr, was ein solches Pferd wert ist? Wolltet Ihr das Tier zugrunde richten?«

Seine Stimme wurde immer leiser. Der Stallmeister wurde blass, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er wollte etwas erwidern, aber Waldow brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

Er wandte sich wieder an Markus.

»Woher hast du das gewusst?«

»Gewusst habe ich es nicht«, erwiderte er ehrlich. »Aber ich habe es vermutet, als ich gesehen habe, wie er gekaut hat. Immer wieder hat er gezuckt. Da dachte ich, vielleicht hat er etwas am Zahn, und da ist eine Trense das Richtige, um ihn durchdrehen zu lassen. Wahrscheinlich hat der Stallmeister den Zahn gestreift, als er dem Tier die Trense ins Maul gezwungen hat.«

Waldow nickte, dann ging er zu Max und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Also, ich habe mich entschieden. Du wirst dich zunächst einmal um das Tier kümmern. Ich sorge dafür, dass sich jemand den Zahn ansieht und dafür sorgt, dass da etwas geschieht. Aber so lange bleibst du bei dem Pferd. Verstanden?«

Max warf sich in die Brust.

»Ja, Hauptemann!«

Waldow schüttelte den Kopf.

»Eberschneider, Ihr bleibt bei ihm, nicht, dass er sich verläuft und auf einmal oben beim Bischof steht.« Der Angesprochene nickte und winkte Max, ihm zu folgen. Waldow blickte Markus direkt in die Augen. »Junge, ich spüre, du bist etwas Besonderes. Aber bevor ich mich entscheide, was ich mit dir mache, muss ich dir noch ein paar Fragen stellen.« Er hob den Zeigefinger. »Und ich warne dich: Lüg mich an, und du wirst erkennen, dass die Hölle gegen das, was dich dann erwartet, der reinste Lustgarten ist. Verstanden?«

Markus nickte.

»Nun gut, ich weiß nicht viel über dich«, fuhr Waldow fort. »Ich weiß nur, dass du in Rothenburg warst und dort, sagen wir mal, in seltsame Geschichten verwickelt wurdest. Darüber reden wir später. Doch was ich nicht weiß: Was hast du davor getan?«

Markus erzählte bereitwillig von seiner Vergangenheit und wie er vom Henker von Rothenburg vor einer wütenden Meute beschützt worden war, weil er aus Hunger zwei halbvergammelte Würste aus dem Schweineimer gestohlen hatte. Er berichtete, wie er zum Gehilfen ausgebildet worden war.

»Gut. Ich spüre, dass du mir nicht alles erzählt hast, aber du scheinst nicht zu lügen. Weiter: Hast du, bevor du in diese Ausbildung kamst, jemanden getötet?«

»Nein, Hauptmann.«

»Nun, das Töten wirst du bei uns früh genug lernen.« Er machte eine Pause. »Junge, bist du getauft?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?«

»Nein Hauptmann. Ich weiß es nicht. Ich weiß weder, woher ich stamme, noch kann ich mich an meine Eltern erinnern. Ich kann also nicht sagen, ob ich getauft bin.«

Von Waldow sah Markus versonnen an, dann lächelte er.

»In Ordnung, darum kümmern wir uns. Fürs Erste wirst du in meiner Nähe bleiben, als mein Bursche. Aber du wirst, wie alle anderen, die Ausbildung machen, die für euch vorgesehen ist. Verstanden?«

»Ja, Hauptmann.«

»Gut, und jetzt, komm mit, du bist ja völlig durchgefroren.«

W

»Wann sind wir denn endlich da?«

Anna hatte das Gefühl, dass sie den Dom zu Bamberg schon seit einer halben Ewigkeit sehen konnte. Nur schien er nicht näherzukommen! Der Gauklertross kämpfte sich langsam an der Regnitz entlang auf die Stadt zu. Quälend langsam, denn auf der Straße war der Schnee von zahlreichen Fuhrwerken und Füßen festgefahren und -getreten und gefährlich glatt geworden.

»Vor Sonnenuntergang auf jeden Fall!«

Silvanus' Stimme kam dumpf hinter dem Schal hervor, den er sich um den Kopf gewickelt hatte. Es war so kalt, dass einem der Atem schier vor dem Mund gefror! Er konnte die Ungeduld seines Zöglings neben ihm auf dem Kutschbock durchaus verstehen, freute sich ebenfalls auf ein Feuer und, im besten Fall, falls sie irgendwo in der Stadt Wasser finden konnten, das noch nicht gefroren war, einen Besuch seines eigenen Badezubers, aber er wagte es nicht, die Pferde zu einer schnelleren Gangart anzutreiben. Immer wieder glitten sie auf dem vereisten Boden aus und fingen sich nur mühsam wieder. Eines zu verlieren konnte er sich nicht leisten. Die Tiere waren wertvoll, sowohl für die Vorstellung als auch zum Ziehen der Wagen. Ein neues Pferd kaufen zu müssen würde die Verdienste mehrerer Wochen, vielleicht sogar Monate, kosten. Christine, die auf Annas anderer Seite auf dem Kutschbock saß, wandte sich an das Mädchen.

»Wenn dir langweilig ist, kannst du ja schon einmal nach hinten klettern und dir ein Kostüm für die Ankunft in der Stadt aussuchen!«

Anna verzog leicht das Gesicht; vor etwas mehr als einem Jahr, an ihrem dreizehnten Geburtstag - oder dem Tag, den die Truppe als ihren Geburtstag feierte - war sie offiziell bei den Gauklern aufgenommen worden. Das bedeutete, dass man sie nicht länger als Kind betrachtete, und dass sie nicht nur mit den anderen auftreten durfte, sondern sogar musste. Bis dahin hatte sie nur dafür sorgen müssen, dass die Kostüme in Ordnung waren, hatte überall mit anfassen müssen, wo Hilfe benötigt wurde und auch auf den Märkten als Beutelschneider in der Menge die Menschen um ihre Geldbeutel erleichtert. Man hatte früh ihr Talent erkannt und sie sorgfältig auf die kommenden Auftritte vorbereitet und sie recht schnell auf die Bühne geschickt. Normalerweise liebte Anna nichts mehr als das. Sie war eine begnadete Tänzerin, genoss die Begeisterung, den Jubel des Publikums. Aber der Gedanke, sich in dieser Kälte aus den Fellen und der dicken Wollkleidung, die sie trug, schälen und eins der doch eher knapp bemessenen Kostüme anziehen zu müssen, verursachte ihr nicht gerade einen Freudentaumel.

Sie haderte noch mit sich, als Silvanus sich zur Seite lehnte und nach hinten zu den nachfolgenden Wagen brüllte: »IN SPÄTESTENS EINER STUNDE SIND WIR DA! MACHT EUCH FERTIG!«

Diensteifrig sprang Christine auf; sie war Anfang zwanzig, schon seit langer Zeit bei den Gauklern, und Silvanus' Wort war Gesetz für die junge Frau mit den kastanienbraunen Haaren. Auffordernd zog sie Anna am Ärmel.

»Na komm schon, du Frostbeule! Wenn du erst tanzt, wird es dir schon warm werden!«

Seufzend folgte Anna Christine in's Innere des Wagens; sie wusste, dass die Frau Recht hatte.

Eine halbe Stunde später war das Stadttor Bambergs in Sichtweite gekommen, und Anna, die bibbernd ihren Kopf aus einem Seitenfensterchen des Wagens streckte, erspähte in der Senke neben der Stadt ein Zeltlager.

»Oh, seht nur, Soldaten! Vielleicht sollten wir dort auch halten?«

Silvanus warf einen Blick in's Tal hinunter und schüttelte kurz den Kopf.

»Lohnt nicht. Das ist ein Ausbildungslager. Die haben noch kein Geld!«

Langsam zogen sie an dem Lager vorüber, und Anna beobachtete die winzigen Gestalten, die dort umher gingen, das Eis auf dem Fluss aufbrachen, um an Wasser zu kommen, Waffen schärften und Pferde striegelten.

Plötzlich weckten zwei der Soldaten Annas Aufmerksamkeit; sie standen am Rand des Lagers und hackten Holz. Ihre Umrisse waren so gegensätzlich, dass sie einfach zweimal hinschauen musste - einer der beiden war klein, schlaksig und hager, er schien noch sehr jung zu sein, fast ein Junge. Der andere war riesig und breit, neigte ein wenig zum Bauchansatz.

Neben den beiden lag ein großer Hund und ließ die Männer nicht aus den Augen. Anna vergaß für einen Moment die Kälte und reckte den Hals. Sofort hatte sie das Gefühl, die beiden zu kennen, und sie wusste auch woher.

Markus und Max, das kuriose Paar, das sie zwischen Rothenburg und Ansbach im Wald entdeckt und mitgenommen hatten. Und das, was da neben ihnen lag, war kein Hund, sondern ein Wolf! Etwa ein halbes Jahr war das jetzt her, und Anna hatte keinen der beiden vergessen.

Noch bevor sie sich jedoch ganz sicher sein konnte, ertönte Silvanus' lautes Gebrüll.

»RAUS MIT EUCH, WIR SIND GLEICH AM TOR!«

Das war das Stichwort, das Signal, das besser niemand verpasste, sonst konnte Silvanus fuchsteufelswild werden.

Es war, als ob der Gauklertross explodierte, kaum dass sie in die Nähe des Tors kamen. Die Türen der Wagen flogen auf, und aus allen sprangen Menschen wie Grashüpfer. Die Musikanten spielten auf, und Anna, die mittlerweile ein knappes, feuerrotes Kleid mit klingelnden Münzen und unzähligen Bändern trug, wirbelte mit den anderen Tänzerinnen und den Akrobaten über die Straße, durchs Tor hindurch.

Die Stadtsoldaten hielten sie nicht einmal auf, glotzen nur und grinsten, als Silvanus seine Glocke schwenkte und zu schreien begann:

»HÖRT HÖRT, IHR GUTEN LEUTE, HÖRT HÖRT! DER ZIRKUS DER WUNDER IST DA! EXOTISCHE WAREN, GAUKLER, DIE SCHÖNSTEN FRAUEN DIE IHR EUCH VORSTELLEN KÖNNT, GESCHICHTEN, MEDIZIN, ES GIBT NICHTS, WAS ES HIER NICHT GIBT! HÖRT, HÖRT!«

In jeder Stadt der gleiche Ruf, und in jeder Stadt zog er die Menschen an wie ein Magnet. Schon als sie gerade erst das Tor durchquert und die Stadt betreten hatten, rannten die Leute herbei, Kinder zerrten ihre Eltern an der Hand hinterher, junge Leute beeilten sich, ganz vorn zu stehen und alles sehen zu können, innerhalb von Sekunden bildeten sich jubelnde Menschentrauben.

Und wie jedes Mal vergaß Anna alles um sich herum. Wie Christine es prophezeit hatte, rückte die Kälte in den Hintergrund, als das rothaarige Mädchen zum treibenden Rhythmus der Musik wilde Pirouetten drehte, die Beine bis zum Kopf hinauf warf und schwungvolle Räder schlug.

Sie nahm neben sich Zacharias den Drachen wahr, der hochprozentigen Alkohol in eine brennende Fackel spuckte und damit eine gewaltige Flamme erzeugte, was dem Publikum entzücktes Gekreische entlockte.

Hinter ihr her ging der Tierdompteur Bartholomeus, seinen Bären an der Kette, der unbeeindruckt von den vielen Menschen neben dem Dompteur hertrottete und auf Zuruf brüllend auf die Hinterbeine ging, was die Zuschauer erschrocken zurückweichen ließ. Gefolgt von halb Bamberg zogen die Gaukler mit viel Lärm und Hallo in die Inselstadt. Vor jedem Auftritt setzte Silvanus sich mit Christine zusammen und die beiden studierten eine Stadtkarte des Ortes, den sie besuchen wollten.

Dann gab Christine mit den anderen Musikanten die Richtung an, führte den Trupp in's Stadtzentrum oder je nachdem, wo genug Platz für die Wagen und vermutlich das größte Publikum zu erwarten war.

Diesmal war es ein Platz südlich eines kleinen Schlosses, auf dem die Wagen einen Halbkreis bildeten, die Gaukler in der Mitte.

Silvanus sprang vom Kutschbock, trat vor die Schaulustigen und hob nur mit gewichtiger Miene die Hände. Er war groß und breit, den kahlen Kopf bedeckte er mit einem gewaltigen Federhut, der riesige schwarze Schnauzbart machte ihn zu einer imposanten Erscheinung, und die Bamberger verstummten ehrfurchtsvoll.

»Meine Damen und Herren, liebe Kinder, liebe Bürger von Bamberg«, begann er mit großen Gesten seine Rede, um dann in den leuchtendsten Farben zu beschreiben, was die Zuschauer erwarten würde, wenn sie zur Abendvorstellung kämen - exotische Waren, bezaubernde Frauen, Magie und Kunststücke, Gesang und Tanz - kurz, ein Fest für alle Sinne.«

Um die Leute endgültig anzulocken, tanzten die Frauen noch einmal, und auch die Akrobaten gaben eine kleine Kostprobe ihres Könnens, bis Silvanus mit einer fast herrischen Geste die Vorstellung abbrach.

So schnell sie konnten, liefen alle Gaukler in die Wagen zurück, und es war, als wäre nichts gewesen - wenn da nicht der Anführer der Gruppe gewesen wäre, der mit einem »Das, und noch viel mehr, bekommt ihr, wenn ihr heute Abend zur sechsten Stunde hierher zurückkehrt!«, sicherstellte, dass die sensationslüsternen Bamberger auch wirklich kommen würden.

Dann verschwand er selbst im ersten Wagen, wo Anna, Christine und ein paar andere schon gespannt auf ihn warteten.

»Was meinst du?«

Zacharias hob fragend die Augenbrauen. Silvanus grinste breit, zeigte ein Gebiss, das einem Pferd alle Ehre gemacht hätte.

»Ich meine, wir werden uns heute Abend vor Zuschauern kaum retten können! Gut gemacht, meine Lieben!«

Sie warteten in der Dunkelheit der Wagen, bis sich draußen das Summen der Stimmen entfernt hatte. Dann stiegen sie alle aus und begannen, gemeinsam die Bühne aufzubauen und das Lager aufzuschlagen.

Anna war gerade dabei, die bunten Fähnchen an der Bühne anzubringen, als sie einen vornehm gekleideten Mann sah, der von dem kleinen Schloss zu ihnen herüber schlenderte und an Silvanus herantrat. Gespannt hielt Anna inne. Schon während der kurzen Vorstellung hatte sie gesehen, dass sich im Schloss Fenster geöffnet und weitere Menschen von dort aus zugesehen hatten.

Die Aufmerksamkeit von Vornehmen zu erregen war ein zweischneidiges Schwert - es konnte sehr gut sein oder sehr schlecht. Anna beobachtete, wie Silvanus mit dem Mann sprach. Schließlich schienen sie sich einig zu sein - sie schüttelten sich die Hände, und der Vornehme verschwand wieder im Schloss.

Behände sprang Anna von ihrer Leiter und rannte zu ihrem Anführer hinüber.

»Was ist los? Was wollte er?«

An Silvanus' breiten Grinsen erkannte das Mädchen bereits, dass es diesmal ein »sehr gut« war. Der Gaukler rieb sich die Hände.

»Heute Abend geben wir noch eine private Vorstellung im Schloss Geyerswörth!«

W

Markus ließ sich auf sein Lager fallen. Das Holzhacken hatte ihm nichts ausgemacht. Im Gegenteil, es erinnerte ihn an die ersten Tage bei seinem Meister. Damals hatte er auch klafterweise Holz gehackt, um seine Zielsicherheit zu üben. Auch heute hatte er sich wieder vorgestellt, auf dem Holz wären Striche aufgemalt, die er treffen musste.

Am Anfang waren er und Max alleine gewesen, aber nach kurzer Zeit waren einige Männer gekommen. Zunächst wollten sie ihn verhöhnen, aber als sie sahen, mit welcher Präzision und Schnelligkeit er mit der Axt arbeitete, waren sie ruhiger geworden. Schließlich zeichneten sie wirklich Striche auf die Scheite und schlossen Wetten ab, ob er sie treffen würde.

Max war inzwischen wieder zu seinem neuen vierbeinigen Freund gerufen worden, der sich jeglicher Behandlung widersetzte. Erst als der Hüne ihm eine Hand auf die Nüstern legte, hielt er still. Der Stallmeister war über diese Tatsache völlig verwirrt, konnte es nicht begreifen.

Die Öffnung des Zeltes ließ ein wenig Dämmerlicht herein, als ein Mann eintrat. Er stellte sich an Markus' Pritsche.

»Gemütlich?«, fragte er leise.

Markus sprang auf. Er war tatsächlich eingedöst.

»Entschuldigt, Herr. Ich wollte nicht …«

Der Mann winkte ab.

»Nur ruhig, Junge. Und ich bin kein Herr, nur ein Soldat. Du bist Markus, oder?«

»Ja, Herr.«

»Ich bin Heinrich von Gaisberg. Aber mehr Gaisberg als ›von‹.«

Markus betrachtete sein Gegenüber genauer. Was ihm sofort auffiel, war das fehlende rechte Ohr. Ansonsten war Heinrich ungefähr so groß wie er, aber von kräftiger, gedrungener Statur. Das braune Haar wuchs ihm bis knapp über die Ohren, oder eher das noch vorhandene Ohr, der Oberlippen – und Kinnbart war sauber gestutzt. Die grünen Augen blitzten leicht verschmitzt. Er lächelte Markus an.

»Musterung beendet? Ich kann verstehen, dass dies alles hier neu und ungewohnt für dich ist. Aber hinlegen darfst du dich nur, wenn es erlaubt wurde.«

Markus senkte den Kopf.

»Es tut mir leid, das wusste ich nicht.«

»Schon in Ordnung. Es ist dein erster Tag hier bei uns. Ich bin in den nächsten Wochen für dich verantwortlich, wenn du nicht beim Hauptmann bist. Ich bilde dich in allem aus, was du wissen musst, also Schwertkampf, Axt, Messer, Faustkampf, Ringen.«

Markus horchte auf. Es wurde also wirklich ernst, er wurde Soldat. Aber von Gaisberg war noch nicht fertig.

»Ich habe gesehen, mit der Axt bist du verdammt geschickt. Hat dir das dein Meister beigebracht?«

»Ja. Er sagte immer, ein Henker richtet nur, er quält nicht. Wenn man eine Hand abschlägt, dann nur die Hand und nicht den halben Arm. Und das mit einem sauberen Schlag.«

»Dein Meister hat gut gesprochen. Ich weiß, dass du beim Henker von Rothenburg in der Ausbildung gewesen bist. Und ich weiß auch, dass er einer der besten seiner Zunft war. Irgendwann musst du uns alles erzählen. Doch jetzt nimm deinen Bettvorleger und komm, wir müssen den Stallmeister davon abhalten, von deinem Gefährten bereits am ersten Tag verprügelt zu werden.« Er machte eine Pause. »Denn dann müssten wir ihn verprügeln, was schade wäre, denn dieser Bastard von Stallmeister ist …«

Er brach ab, als ihm bewusst wurde, dass er zu offen zu einem Rekruten sprach. Markus war indes schon zum Zelteingang gehastet, dicht gefolgt von Bandit. Von Gaisberg schüttelte den Kopf und schmunzelte. Markus' Eifer, seine ganze offene Art gefiel ihm.

»Der Junge muss noch verdammt viel Disziplin lernen.«

Im Stall herrschte indes das reinste Chaos. Das Pferd, das Max aufgehalten hatte, fing jedes Mal, wenn der Hüne auch nur in Richtung Stalltür ging, an zu keilen und zu wiehern, und beruhigte sich erst, wenn er wieder bei ihm war. Der Stallmeister raufte sich die Haare. Er versuchte verzweifelt, dem Pferd Herr zu werden. Als er nach der Peitsche gegriffen hatte, war die Situation eskaliert. Max hatte einfach in das pfeifende Leder gegriffen und so fest daran gezogen, dass es den Stallmeister von den Beinen geholt hatte. Er schäumte förmlich vor Wut, während die Umstehenden sich köstlich amüsierten.

»Dieser Bastard! Er soll die Peitsche schmecken!«

Als Markus mit von Gaisberg in den Stall kam, drangen bereits einige der Stallburschen mit Mistgabeln gegen Max vor und hatten ihn in eine Ecke gedrängt. Bandit knurrte, sein Schweif peitschte durch die Luft. Markus sprang zwischen Max und die Männer.

»Aufhören! Tut ihm nichts! Er weiß es doch nicht besser!«

»Ihm nichts tun? Der gehört ausgepeitscht! Ach, was sage ich, zu Tode gepeitscht! Das ist ein Nichtsnutz! Ein Drecksack! Ein …« Er verstummte, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.

»Du weißt, der Herrgott mag keine Flüche!«

Von Gaisbergs Stimme klang sanft, aber seine Hand drückte fester zu, bis der Stallmeister wimmerte.

»Entschuldigt! Aber dieser Kerl dort …«

»… scheint von Pferden mehr zu verstehen als du!« Hauptmann von Waldows Stimme peitschte durch den Stall. »Ihr dort! Die Gabeln weg, oder ihr lernt, wie die Nachtkälte sich anfühlt, wenn ich euch durch die Regnitz jage!«

Markus sprach leise mit Max, der sich wieder beruhigte, und ging zum Hauptmann. Mit gesenkter Stimme erklärte er ihm, was vorgefallen war. Von Waldow nickte.

»Ich habe jetzt ein Problem. Dein Freund dort hat gegen die Disziplin verstoßen. Als ehemaliger Wachsoldat müsste er das wissen. Aber, um es offen zu sagen, scheint dieser Gaul dort einen Narren an ihm gefressen zu haben. Weiß der Teufel, warum.« Er sah Markus in die Augen. »Du bist für ihn verantwortlich. Also muss ich euch beide bestrafen. Verstehst du das?«

Markus senkte den Kopf. Das fing ja gut an. Nicht einmal einen halben Tag im Lager, und schon wurde er für etwas bestraft, was er nicht getan hatte. Doch dann hob er seinen Kopf wieder. Nein, er würde sich nicht brechen lassen. Max war sein Freund. Und genau wie Max jederzeit sein Leben für ihn geben würde, so würde Markus das seine für seinen Freund geben. Von Waldow lächelte.

»Das gefällt mir besser. Duckmäuser und Arschkriecher kann ich nicht gebrauchen. Also, höre meine Strafe: Du wirst die nächsten drei Wochen mit deinem Freund und diesem Vieh«, er deutete auf den Wolf, »hier im Stall schlafen. Am Morgen wirst du die Pferde füttern, dann Ausbildung bei von Gaisberg für euch beide. Nach dem Mittagessen ausmisten. Abends wirst du bei mir sein, ich werde dir einiges andere beibringen, während dein Freund Küchendienst macht. Verstanden?«

Markus nickte. Das sollte eine Strafe sein? Er verstand es nicht, bis er das Zwinkern in den Augen des Hauptmannes sah. Im Stall zu schlafen wäre für die meisten mit Sicherheit eine Strafe, auf dem harten Boden im Stroh. Auf der anderen Seite war es einer der wärmsten Plätze. Und er konnte ein Auge auf Max haben.

»Ja, Hauptmann«, nickte Markus eifrig, der Max zu sich winkte.

»Was ich mit dir anstellen soll, das weiß ich beim besten Willen nicht. Aber du bist ab sofort für dieses Pferd verantwortlich.«

Max nickte, warf sich in die Brust.

»Ja, Hauptemann! Max Freund von Pferd. Pferd mag Max.«

»Scheint so«, brummte von Waldow und fragte sich gleichzeitig, wie dieser tumbe Bursche es geschafft hatte, in die Rothenburger Stadtgarde zu kommen. Er wandte sich an den Stallmeister. »Wie mir scheint, seid Ihr mit der Pflege der Tiere überfordert. Ihr seid hier aus Bamberg?«

»Ja, Herr.«

In der Tat war der Stallmeister ein aus der Stadt angestellter Mann, da dem Regiment noch jemand fehlte, der diesen Posten übernehmen konnte.

»Ab sofort seid Ihr hier nicht mehr willkommen. Wenn die Sonne untergeht und Ihr seid noch im Lager, lasse ich Euch mit der Peitsche verjagen. Ihr habt einen Soldaten angegriffen. Im Krieg steht darauf der Tod.« Er näherte sich dem leichenblassen Mann, bis nur noch eine Hand zwischen sie passte. »Lasst Euch beim Zahlmeister auszahlen und dann macht, dass Ihr fortkommt!«

Der entlassene Stallmeister drehte sich nach einem letzten, hasserfüllten Blick auf Markus und Max um und befolgte dann widerstandslos den Befehl. Dass er wegen einem Idioten und einem halben Kind entlassen worden war, kratzte schwer an seinem Stolz. Die Stallburschen, die danebenstanden, fürchteten sich bereits, denn dass sie ungeschoren davonkommen sollten, war nicht zu erwarten. Schließlich hatten sie Max mit Mistgabeln bedrängt. Doch von Waldow schickte sie nur nach draußen mit der Warnung, dass sie beim nächsten Vergehen mit harten Strafen zu rechnen hatten.

Als nur noch Max, Markus, von Gaisberg und er im Stall waren, sah er die Gefährten lange an.

»Ich weiß nicht, warum ich das tue. Aber ihr beiden solltet euch über eines im Klaren sein: Jeder andere hätte euch draußen an einen Pfahl gebunden und die Peitsche spüren lassen. Und eine Warnung gebe ich euch mit auf den Weg: Das war das letzte Mal, dass ich euch geschützt habe. Passt euch an oder aber ihr werdet es auf die harte Art lernen!«

Damit verschwand er.

Von Gaisberg blickte ihm nach, dann sah er Markus lange an.

»Ich weiß nicht, was er in dir sieht, Junge. Aber du hast wahnsinniges Glück. Merk dir eins jedoch gut: Verlass dich nicht zu sehr auf das Glück, es ist launisch wie eine Frau und lässt dich von heute auf morgen im Stich.«

Markus nickte. Er verstand, was von Gaisberg ihm sagen wollte.

W

»Fester, Anna! Du musst viel fester ziehen!«

Anna war schon rot im Gesicht vor Anstrengung, und die Lederbänder von Agnes' Mieder hatten tiefe Striemen in ihren Handflächen hinterlassen.

»Ich kann nicht fester ziehen«, klagte das Mädchen. »Du gehst jedes Mal rückwärts!«

»Verflucht nochmal«, schimpfte Agnes, brüllte dann durch den Wagen: »WALTRAUD! Hilf mal! Du musst mich festhalten!«

Anna verdrehte genervt die Augen; Agnes erzählte in den Tagesvorstellungen den Kindern Märchen. Sobald aber die Sonne untergegangen war, wurden ihre Geschichten deutlich schlüpfriger, und in Anschluss nahm sie - wie fast alle Frauen, die den Gauklertrupp begleiteten - Männer gegen Geld mit auf ihr Lager.

Agnes zählte schon an die dreißig Sommer und ihre Figur war ausgesprochen üppig. Darum legte sie immer besonderen Wert auf ihre Erscheinung, umso mehr, wenn besondere Kunden zu erwarten waren wie am heutigen Abend die vornehmen Herren, und darum musste das Mieder so fest geschnürt sein wie irgendwie möglich.

Inzwischen war die honigblonde schlanke Waltraud herangekommen. Sie steckte noch im Unterrock und grinste breit, als sie Agnes beide Hände reichte.

»Beeilt euch ein bisschen, ich bin auch noch nicht angezogen!«

Anna seufzte tief, wickelte die Bänder des Mieders fest um ihre Hände, biss die Zähne zusammen und zog.

»FESTER!«, kommandierte Agnes sofort, die es mit Waltrauts Hilfe nun schaffte, dem Zug nicht nachzugeben. Anna unterdrückte einen deftigen Fluch und ein paar Schimpfwörter, um dann einen Fuß auf Agnes' gut gewölbtes Hinterteil zu setzen. Als sie diesmal zog, blieb Agnes buchstäblich die Luft weg und Waltraut lachte laut auf: »So ist es richtig, ihre Augen quellen schon vor!«

Anna wollte gerade mitlachen, als die Schnüre mit einem sirrenden Geräusch rissen und die Rothaarige erschrocken aufschreiend rückwärts zwischen die Kleidertruhen polterte, während Agnes nach vorn fiel und Waltraut unter sich begrub.

Das Gelächter der anderen Frauen war ohrenbetäubend. Schimpfend kämpfte Anna sich unter den zahlreichen Kostümen hervor, aber als sie dann die strampelnde Agnes auf Waltraut liegen sah, musste sie ebenfalls kichern.

»Schluss jetzt mit den Albernheiten!« Dorothea, die älteste der Frauen, eilte herbei und half zuerst Anna auf die Füße. »Wenn ihr so weitermacht, werden wir nie rechtzeitig fertig!« Gemeinsam mit Anna zog sie Agnes wieder hoch und beugte sich zu Waltraut hinab. »Alles in Ordnung?«

Die Blonde japste nach Luft.

»Ich glaube, meine Rippen sind gebrochen!«

»Ach, Schnack«, murrte Agnes beleidigt, »so schwer bin ich auch wieder nicht! Und außerdem schön weich!«

Mit einer vielsagenden Geste zeichnete sie ihre Silhouette nach, was erneut den ganzen Wagen in Gelächter ausbrechen ließ, bis Dorothea in die Hände klatschte.

»Genug jetzt, ihr albernen Gänse! Etwas schneller! Agnes, wenn du unbedingt geschnürt werden willst, bis du keine Luft mehr bekommst, dann geh zum starken Adam, sonst gibt es hier noch Verletzte!« Langsam kehrte wieder Ruhe ein, und Dorothea wandte sich an Anna, strich ihr über die Wange. »Hast du dir wehgetan, Kleines?«

Anna lächelte dankbar.

»Nein, Doro, alles in Ordnung!«

Sie hing mit ganzem Herzen an der älteren Frau mit der dunklen Lockenmähne. An ihre richtige Mutter konnte Anna sich nicht erinnern, aber Dorothea war immer da gewesen und hatte sie wie eine Tochter behandelt. Sie war für alle Frauen im Tross wie eine Mutter, aber für Anna noch ein wenig mehr.

»Komm, setz dich, ich mach dir die Haare«, bot Dorothea an, und Anna gehorchte bereitwillig. »Was ziehst du heute an?«

Darüber hatte Anna sich noch keine Gedanken gemacht.

»Hm, ich weiß nicht, vielleicht dasselbe wie heute Mittag, als wir angekommen sind!«

»Oder wie wäre es damit?«

Keine von ihnen hatte bemerkt, dass Christine sich genähert hatte. Sie hielt ein Kostüm in den Händen, dass Anna sofort erkannte. Die dunkelgrüne Seide schimmerte im Licht der Öllampen. Es war eins von Christines Kostümen, das angeblich aus dem Orient stammte. Es war sehr wertvoll und sie hütete es wie ihren Augapfel. Sprachlos sah Anna sie an.

»Aber das ist dein Lieblingskostüm!«

Christine zuckte die Achseln.

»Der Auftritt heute Abend soll etwas ganz Besonderes werden! Wir müssen umwerfend aussehen! Probier es an!«

Anna war Feuer und Flamme! Schon immer hatte sie das knappe Kostüm mit den goldenen Stickereien bewundert. Dorothea betrachtete skeptisch, wie sie es anzog, und warf Christine einen tadelnden Blick zu.

»Sie ist noch viel zu jung dafür!«

Christine schüttelte energisch den Kopf.

»Unsinn! Sie wird bald fünfzehn, und schau sie dir an! Sie ist kein Kind mehr!«

Es war schwer zu leugnen, als Anna in dem Seidenkostüm vorm Spiegel stand. Es war kein einteiliges Kleid, sondern ein eng anliegendes Oberteil mit langen Ärmeln, das unter ihren Brüsten endete, und ein bodenlanger Rock mit einem Schlitz fast bis zur Hüfte, der ihr Bein sichtbar werden ließ.

Dorothea schluckte. Innerhalb des letzten Jahres hatte Anna sich sehr verändert. Ihr engelhaftes Gesicht hatte viel von seiner Kindlichkeit verloren. Sie hatte einen gewaltigen Schuss in die Höhe gemacht und an dem zierlichen Körper waren Rundungen aufgetaucht, die es vorher nicht gegeben hatte.

Anna betrachtete fast ungläubig ihre Reflektion. Sie konnte fast nicht glauben, dass sie das sein sollte. Erwachsen, beinahe verführerisch. Christine klatschte begeistert in die Hände.

»Du siehst umwerfend aus!«

Dorothea senkte stumm den Kopf. Sie wünschte sich, die Natur hätte dem Mädchen ein wenig mehr Zeit gelassen.

W

»Wann können wir denn endlich hinein?«

Unruhig trat Anna von einem Bein aufs andere. Die Vorstellung vor den Bambergern war ein großer Erfolg gewesen. Die Leute hatten gejubelt, die Truppe endlos beklatscht und immer wieder Zugaben gefordert. Die Münzen waren auf die Bühne geklimpert wie ein Sommerregen, die halbe Stadt schien gekommen zu sein und hatte trotz der eisigen Temperaturen ausgeharrt bis zum Schluss und darüber hinaus.

Anna war noch berauscht von all dem Applaus und den Hochrufen, aber langsam wurde sie nervös. Sie standen schon eine Ewigkeit in einem dunklen, kalten Flur im Schloss Geyerswörth und warteten darauf, dass die Vorstellung endlich beginnen konnte. Hatten die vornehmen Herren es sich am Ende anders überlegt?

Es war eng, obwohl nicht der gesamte Trupp mitgekommen war. Bartholomeus weigerte sich strikt, seine Tiere in geschlossenen Räumen auftreten zu lassen und auch die drei Hochseilartisten mitzunehmen, die sich die Grimaldinis nannten, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren und nur einer von ihnen tatsächlich aus Italien stammte, wäre Unsinn gewesen. Sie hätten ihre Künste hier doch nicht vorführen können.

Also hatte Silvanus nur eine geschrumpfte Truppe mitgenommen - die drei Artisten Caspar, Moritz und Valentin, die Balance- und Kraftakte aufführten, Zacharias, der außer seinen Feuerkünsten auch als Schwertschlucker brillierte, den Kastraten Cesare Della Bella, die Musikantengruppe, den starken Adam, der auf Wunsch eine voll gedeckte Festtafel hochheben konnte, Lorentz den Roten, der nicht nur mit der Clownstruppe auftrat, sondern auch ganz passabel mit allen möglichen und unmöglichen Dingen jonglierte, und natürlich sämtliche Frauen. Tänzerinnen und Dirnen konnte man, gerade in solch vornehmer Gesellschaft, nie genug haben.

Das wussten auch die Frauen, und dementsprechend prächtig sahen sie aus. Agnes war tatsächlich zu Adam gegangen, und ihr Busen quoll dank seiner Schnürung so sehr aus dem Mieder, dass Anna Angst hatte, er würde komplett herausfallen, sobald sie sich bückte. Wie sie so noch atmen konnte, war der Rothaarigen ein Rätsel. Sie wirkte auch nicht sonderlich glücklich, nestelte an ihrem Mieder und japste leise: »Hoffentlich zieht mich bald jemand aus!«, was Anna ein nervöses Kichern entlockte.

In dem Moment öffnete sich die Tür, hinter der sie warteten, einen Spalt breit, und Silvanus hob die Hand. Sofort machte sich angespannte Stille breit, und als der Anführer der Gruppe nach einem Moment mit lautem Poltern die Tür aufstieß, wirbelte die Gruppe tanzend, singend und musizierend in den Saal, wo drei lange Tische in U-Form aufgestellt waren. In der Mitte gab es genug Bewegungsfreiheit und schon bald hatte jeder seinen Platz gefunden. Die Vorstellung konnte beginnen, und die Männer - ein kurzer Blick durch den Raum verriet Anna, dass keine einzige Frau bei den Zuschauern war - schienen nur darauf gewartet zu haben. Sofort sprangen sie auf die Füße, klatschten und johlten.

Anna gab ihr Bestes, drehte sich schneller, warf die Beine höher als sonst. Sie fühlte sich großartig in dem schönen Kostüm und plötzlich bemerkte sie etwas, was vorher entweder noch nie geschehen war oder was sie niemals wahrgenommen hatte - die Blicke nicht weniger Männer ruhten auf ihr.

Für einen kurzen Moment verunsicherte es sie. Dann aber spornte es sie nur noch mehr an. Sie wusste seit langem, dass sie nicht immer nur Tänzerin und Akrobatin bleiben würde. Das tat keine der Frauen in der Gruppe. War schon heute der Tag, an dem sich alles für sie ändern sollte?

Der erste Tanz war vorüber und die Zuschauer klatschten begeistert. Die Frauen und Musikanten zogen sich etwas zurück, machten den Akrobatenbrüdern Platz. Anna zog sich zu dem mächtigen Kamin zurück, der wärmsten Stelle im Raum. Das grüne Kostüm mochte verführerisch sein, aber einen Schutz vor der winterlichen Kälte bot es nun wirklich nicht, und es war nicht leicht, einen so großen Raum zu heizen.

Statt die Artisten zu beobachten, deren Kunststücke Anna praktisch selbst hätte ausführen können, so häufig hatte sie schon zugesehen, ließ das Mädchen die Blicke durch den Raum wandern.

Ein Mann am Kopf der Tafel, um die vierzig Jahre alt mit bereits ergrautem Haar, winkte Silvanus zu sich. Mit sichtlichem Überschwang ging der Gaukler zu ihm hin und die beiden steckten zuerst die Köpfe zusammen, sahen dann zu Anna hin, um wieder miteinander zu diskutieren.

Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in Annas Magengrube aus. Sie verhandelten. Über sie! Wie in Trance sah sie zu, wie Silvanus und der Fremde ihr Geschäft mit einem Handschlag besiegelten. Dann kam der Anführer der Gaukler durch den Raum auf sie zu.

Kurz bevor er sie erreichte, stellte Dorothea sich ihm in den Weg.

»Was hast du gemacht?«

Sie klang atemlos, alarmiert, fast panisch.

Silvanus beachtete sie gar nicht, streckte Anna die Hand entgegen und strahlte sie an.

»Anna, komm. Der Graf von Cottenau möchte dich sehen!«

Anna wurde ein wenig schwindelig. Einerseits vor Angst. Andererseits vor Stolz. Ein Graf!

»Silvanus, das kannst du nicht machen, sie ist doch noch fast ein Kind!«

Dorotheas Stimme war eindringlich und zitterte vor Entsetzen. Nun sah Silvanus sie doch an, und seine schwarzen Augen waren eiskalt.

»Du sagst es, liebe Dorothea - FAST! Du machst dir etwas vor! Jeder kann sehen, was sie ist, nur du nicht, weil du nicht akzeptieren kannst, dass sie erwachsen ist! Geh mir jetzt aus dem Weg! Ein Graf hat nach ihr verlangt, Herrgott nochmal, so ein Angebot kriegen wir garantiert nicht wieder!«

Dorothea wollte erneut protestieren, aber Anna legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sich neben sie.

»Doro … nicht. Ich kann das. Ich bin alt genug!«

Es tat ihr weh, zu sehen, dass die ältere Frau Tränen in den Augen hatte. Dorotheas Unterlippe zitterte.

»Bist du sicher?«

Anna nickte, lächelte tapfer.

»Ja. Ich bin sicher. Und ich bin kein Kind mehr, Doro. Irgendwann muss es passieren, und heute ist so gut wie jeder andere Tag!«

Sie ergriff Silvanus' ausgestreckte Hand, der deutlich beeindruckt aussah, als er sie durch den Raum an den Kopf der Tafel führte. Der Mann, mit dem er gesprochen hatte, erhob sich, als sie sich näherten. Anna musterte ihn unverhohlen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Zu behaupten, sie hätte keine Angst gehabt, wäre eine Lüge gewesen, aber jeder hatte Angst vor dem Unbekannten. So war das Leben nun mal.

Der Graf von Cottenau war hochgewachsen und schlank, und obwohl er sicher die Vierzig schon überschritten hatte, wie sie jetzt aus der Nähe sehen konnte, war er ein attraktiver Mann mit dichtem, ergrautem Haar und stahlblauen Augen in einem markanten Gesicht. Feine Linien darin verrieten, dass er gerne lachte, und als Silvanus Annas Hand in seine legte, lächelte er sie an.

»Anna, nicht wahr?«

Die Rothaarige nickte, vielleicht ein bisschen zu hektisch, und brauchte zwei Anläufe, bis sie ihm antworten konnte.

»Ja, Herr. Anna. Ihr seid der Graf von Cottenau, sagte man mir.«

Wieder ein Lächeln.

»Das bin ich. Aber du darfst Alexander zu mir sagen. Magst du mit mir kommen?«

Wieder nickte sie. Ja zu sagen brachte sie nicht übers Herz. Als Alexander von Cottenau den Arm um ihre Taille legte und sie aus dem Saal wegführte, zitterten Anna die Knie. Sie gingen eine Weile schweigend durch dunkle, kalte Flure, bis sie das Zimmer des Grafen erreichten. Hier war von der Musik der Gaukler nur noch dumpfes Trommeln zu hören. Die Tür schloss sich mit einem Knacken hinter Anna und sie war sich nicht ganz sicher, ob sie ohnmächtig werden oder fortlaufen sollte. Sie tat schließlich nichts davon, setzte sich unsicher aufs Bett. Der Graf musterte sie in einer Mischung aus Belustigung und Entzücken.

»Dein Silvanus hat mich jedenfalls nicht angelogen. Du hast wirklich noch nie bei einem Mann gelegen, das spüre ich deutlich. Es wundert mich, dass noch niemand deine Schönheit gesehen und für sich beansprucht hat.«

Anna wurde rot und lächelte unwillkürlich.

»Ich danke Euch, das ist sehr freundlich!«

Er setzte sich neben sie aufs Bett und spürte, wie sie zitterte, strich ihr über den Rücken.

»Hab keine Angst, Kleines. Ich werde dir nicht wehtun. Versprochen!«

Und als sie ihm in die Augen sah, konnte Anna ihm dieses Versprechen sogar glauben.

W

Seit einer Woche waren Markus und Max jetzt in ihrer Einheit und die Ausbildung nahm Gestalt an. Zunächst hatte Markus, genau wie Max, mit einem Stock, dann mit einem Schwert, gegen Strohpuppen kämpfen müssen. Doch heute sollten echte Zweikämpfe folgen.

»Gegen eine nur dumm in der Gegend stehende Puppe zu kämpfen ist nicht wirklich etwas, das einen Kämpfer aus dir macht. Es sorgt nur dafür, dass du dir nicht das eigene Bein abhackst«, hatte von Gaisberg, der ihn im Schwertkampf trainierte, zu ihm gesagt. »Der Kampf gegen einen Gegner aus Fleisch und Blut, der nur das Ziel hat, dich tot auf dem Boden zu sehen, das ist etwas anderes.«

Markus hatte nur ein Problem. Obwohl Max während seiner Zeit in der Stadtwache von Rothenburg bereits ausgebildet worden war, war zu befürchten, dass der Hüne sich weigerte, gegen seine »Freunde«, wie er die Soldaten bereits nannte, zu kämpfen. Und, falls doch, war Max sich seiner immensen Körperkräfte nicht bewusst und Markus fürchtete, dass sein Freund es zu ernst nahm und unbeabsichtigt Schaden anrichten könnte. Das musste er auf jeden Fall verhindern.

Also suchte er von Waldow, um das Problem mit ihm zu besprechen. Er fand ihn in seinem Zelt, das Markus in der letzten Woche oft betreten hatte. Sein Anführer hatte sich als strenger, aber sehr guter Ausbilder erwiesen, der wusste, wie er Markus motivieren konnte.

»Hauptmann, darf ich offen sprechen?«, fragte er vorsichtig. Langsam begriff er die Gepflogenheiten und passte sich an.

Von Waldow nickte.

»Hauptmann, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.«

Zögernd erklärte Markus seine Bedenken. Sein Hauptmann hörte aufmerksam zu.

»Ich verstehe. Aber du musst begreifen, dass auch Max sich anpassen muss. Und ich muss wissen, ob ich mich im Ernstfall auf ihn verlassen kann.«

»Ja, Hauptmann, aber was, wenn er aus Versehen jemanden verletzt oder gar tötet?«

Das war für Markus ein Albtraum. Er fühlte sich für Max verantwortlich und wollte nicht, dass er für etwas bestraft würde, was er mit seinem kindlichen Gemüt nicht verstand.

»Ich denke, du machst dir zu viele Sorgen. Ich werde ihm einen Gegner geben, der ihm in nichts nachsteht. Und ich verlasse mich darauf, dass du ihm klarmachst, was er zu tun hat.«

Genau das hatte Markus befürchtet. Doch er seufzte nur ergeben und machte sich auf die Suche nach seinem Freund, den er, wie erwartet, im Pferdestall fand. Er sah ihm zu, wie er die Pferde streichelte, dann legte er ihm eine Hand auf den Rücken.

»Max, ich muss mit dir reden.« Der Hüne nickte nur, und sie setzten sich zusammen auf den Boden. »Max, vertraust du mir?«, fing Markus das Gespräch an.

»Max vertraut Freund!«

»Max, du weißt, wir sind bei den Soldaten.«

Sein hünenhafter Freund nickte eifrig.

»Soldaten, ja. Sind Freunde. Nette Männer. Nicht Max ärgern wie in Stadt.«

Markus lächelte gequält. In der Tat war Max in Rothenburg immer wieder Opfer des Spotts der Männer geworden, die eigentlich seine Kameraden waren.

»Du weißt auch, dass wir lernen müssen, zu kämpfen, um deine Freunde zu beschützen?«

Max warf sich in die Brust.

»Max beschützt alle Freunde! Keiner tut Freunde was!«

»Ja, Max, das weiß ich. Aber wir müssen das lernen, damit wir nicht selber verletzt oder getötet werden.«

Der Hüne kratzte sich am Kopf, sah Markus verständnislos an. Markus seufzte leise.

»Max, unsere Freunde beschützen uns, so wie wir sie beschützen. Aber damit wir das auch können, müssen wir üben. So wie mit den Puppen.«

Das Gesicht seines Gegenübers hellte sich auf.

»Ja! Darf Max wieder Puppen hauen?«

Das hatte ihm Spaß gemacht, mit Stock, Axt und Schwert auf die Strohpuppen einzudreschen, bis nur noch Fetzen übriggeblieben waren.

»Nein Max. Heute müssen wir richtig kämpfen. Gegen Männer.«

»Welche Männer? Böse Männer?«

»Gegen unsere Freunde.«

Das verstand Max nicht. Er sah Markus mit einem Blick an, der seine ganze Verzweiflung widerspiegelte.

»Warum soll Max Freunde verhauen?«

»Du sollst sie nicht verhauen. Nicht kaputtmachen, nicht töten, nicht wehtun. Du musst ihnen nur zeigen, dass du weißt, wie du dich wehrst.«

Max starrte an die Wand des Stalls.

»Ich soll mich wehren? Tun Freunde mir weh?«

»Es kann sein, dass sie dir wehtun, damit du lernst.«

»Und ich muss Freunde wehtun?«

»Nein, das eben nicht. Du musst nur verhindern, dass sie dir wehtun.«

Max nickte.

»Gut, dann ich nur ein bisschen wehtun werde.«

»MAX!«, rief Markus. »Auch nicht ein bisschen. Es ist nur ein Spiel, verstehst du?«

Der Hüne stand auf, kratzte sich am Kopf.

»Spiel wie mit Puppen?«

»Ja, Max, wie mit den Puppen.«

»Dann gut. Wenn Markus sagt, nicht wehtun, dann Max nicht wehtun.«

»Das ging ja besser, als ich gedacht habe«, brummte Markus.

Eine Stunde später standen sie auf dem Übungsplatz. Man hatte Markus ein dick gefüttertes Wams übergezogen, das Bauch und Rücken schützte, dazu auch die Arme dick umwickelt. Auch Max wurde damit ausgestattet, dazu bekam jeder Handschuhe und einen Helm. Schließlich bekamen sie ihre Gegner zu Gesicht. Markus stöhnte auf. Wie er es geahnt hatte, musste er gegen von Gaisberg antreten. Er wusste bereits jetzt, dass er danach trotz aller Schutzmaßnahmen überall blaue Flecke haben würde, denn von Gaisberg würde ihn nicht schonen, und er hatte ihn schon kämpfen sehen - der Adlige war gut. Markus musste auf seine Schnelligkeit setzen. Als er jedoch sah, wen man für Max ausgesucht hatte, wurde ihm übel.

Ausgerechnet Fritz Astheimer war der Gegner. Ein kräftiger Kerl, groß wie ein Baum, der Max an Körperkraft in nichts nachstand. Markus hatte mittlerweile einiges über seine Kameraden in Erfahrung gebracht. Astheimer war ein Mann, der nicht viele Worte machte. Seine Waffe war ein Beidhänder, der in seinen Händen wie ein Spielzeug wirkte, wenn er ihn schwang. Die blauen Augen waren kalt wie Eis und er roch nach Tod, dachte Markus sich immer, hatte einen Heidenrespekt vor ihm. Er fasste sich ein Herz und ging zu dem Mann, der mit einem langen Stock anstelle seines Beidhänders bewaffnet war.

»Bitte, Herr, tut ihm nicht zu weh«, flüsterte er ihm zu, wofür er nur einen kalten Blick erntete.

»Wir sind hier nicht in einem Mädchenchor«, brummte Astheimer nur.

Von Waldow klatschte in die Hände.

»Also, ihr habt in den letzten Tagen die Grundzüge gelernt. Heute wird es Zeit, dass ihr wisst, wie es sich anfühlt, wenn dort keine Puppe steht, die alles mit sich machen lässt, sondern ein Mann, der sich wehren wird. Markus: Du fängst an.«

Markus nahm seine Waffe, einen etwa armlangen und genauso dicken Knüppel aus Birkenholz, und stellte sich von Gaisberg. Er machte eine Finte, zog nach links, doch der erfahrene Kämpfer hatte das geahnt, und drosch mit seinem Knüppel auf Markus' linken Arm. Trotz der Polsterung schmerzte es und Markus konnte nicht verhindern, dass ihm ein dumpfer Laut entfuhr. Die Männer, die alle zusahen, johlten. Markus änderte seine Taktik. Er fühlte sich in der dicken Schutzkleidung unwohl, konnte seine Stärke, nämlich seine Schnelligkeit und Geschicklichkeit, nicht ausspielen. Ein ums andere Mal bekam er den Knüppel zu schmecken. Nach einer halben Stunde hatte er nicht einen einzigen Treffer landen können, stattdessen tat ihm alles weh, denn von Gaisberg schlug hart zu.

Dann reichte es Markus und zerrte sich das dicke Wams herunter.

»Was zum Teufel wird das?«, fauchte von Waldow. »Soll er dir die Rippen brechen, Kerl?«

»Hauptmann, er wird mich nicht treffen!«

Von Gaisberg stutzte, dann lachte er laut auf.

»Ich werde ihm nur eine oder zwei brechen! Vielleicht noch einen Arm!«

Die Männer ringsum brachen in lautes Gelächter aus und schlossen Wetten ab, wie lange Markus im Lazarett liegen würde, wenn von Gaisberg mit ihm fertig war. Aber der Bursche ließ sich nicht beeindrucken, schwang seinen Knüppel aus dem Handgelenk und sah seinem Gegner in die Augen.

»Bereit für eine Überraschung?«, zischte er.

Und noch, bevor sein Gegner sich versah, hatte Markus ihn attackiert. Jetzt, von der störrischen und schweren Schutzkleidung befreit, war er so schnell, dass von Gaisberg ihm kaum folgen konnte. Markus wirbelte förmlich um den Mann herum, rammte ihm den Knüppel in die linke Kniekehle, so dass der erfahrene Soldat sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Blitzschnell stand Markus über ihm und deutete einen Schlag auf den Kopf an, der im Ernstfall tödlich gewesen wäre.

»Hol mich der Teufel!«, brummte der Geschlagene, während die Männer ringsum Beifall klatschten.

Markus reichte seinem Gegner die Hand und half ihm auf die Beine. Der sah ihn lange an, dann zog auch er die dicke Kleidung aus.

»So, dann wollen wir mal sehen, ob dir das ein weiteres Mal gelingt.«

Jetzt, wo beide Gegner beweglicher waren, dauerte der Kampf länger. Aber beide hielten sich bei den Schlägen zurück, das war deutlich zu erkennen. Es war mehr Respekt als Angst vor von Waldow, der sie mit Sicherheit bestrafen würde, wenn einer von ihnen ernsthafte Verletzungen davontrug. Nach weiteren zwanzig Minuten hob von Gaisberg die linke Hand.

»Ich muss zugeben, Bursche, du hast mich überrascht. Du bist schneller als alles, was ich bisher gesehen habe.« Er drehte sich zum Hauptmann. »Ich denke, er ist so weit, dass wir ihn ab morgen mit einem echten Schwert üben lassen können.«

Von Waldow nickte, diesen Eindruck hatte auch er.

»Gut. Markus, das hast du wirklich gut gemacht, ich sehe, wir müssen für dich ein leichtes Kettenhemd auftreiben. Deine Stärke ist deine Geschwindigkeit.« Er blickte zu Max. »Und nun du.«

Max, der zitternd beobachtet hatte, wie Markus ein ums andere Mal getroffen worden war und dann doch am Ende unverletzt geblieben war, stapfte in Richtung seines Gegners. Er senkte den Kopf, ging stur weiter. Astheimer nickte böse, dann nahm er seinen Knüppel und ließ ihn mit voller Kraft gegen den Arm seines Gegners krachen. Max blieb stehen, besah sich seinen Arm, dann schaute er zu Markus, der nur mit offenem Mund dastand. Astheimer konnte nicht fassen, dass sein Schlag keine stärkere Reaktion hervorgerufen hatte, und wollte ein zweites Mal zuschlagen, doch dieses Mal knallte sein Knüppel nur auf den von Max, der seinen instinktiv hochgerissen hatte.

Astheimer keuchte auf, als der Zusammenprall ihm durch Mark und Bein fuhr. Jetzt schlug Max zu, aber er traf, wie beabsichtigt, nur das Holz der Waffe seines Gegners, der dieses nicht mehr festhalten konnte. Im hohen Bogen flog der Knüppel durch die Luft.

Astheimer nahm seine Waffe wieder auf, nutzte einen Moment, in dem Max zu Markus hinüber sah, und ließ den Knüppel auf den Rücken des Gegners krachen. Markus zog unwillkürlich den Kopf ein. Er wusste, dass er unter diesem Schlag zusammengebrochen wäre wie ein gefällter Baum. Aber Max schüttelte sich nur, als hätte man ihn mit kaltem Wasser übergossen.

»Das nicht mit Freunden machen«, brummte er. »Freunde tun nicht weh dem anderen.«

Astheimer jedoch kannte keine Gnade. Erneut traf das Holz Max, dieses Mal an die Brust, sodass dem Hünen für einen Moment die Luft wegblieb. Von Waldow beobachtete das Geschehen aufmerksam. Er kannte Astheimer, wusste, dass dieser sich in einen Rausch steigern konnte, und war bereit, sofort dazwischen zu gehen, wenn der erfahrene Kämpfer die Kontrolle verlieren würde. Doch dazu kam es gar nicht.

Max sah Astheimer an, und als der Knüppel erneut gegen seine Brust geschlagen wurde, griff der Kraftprotz einfach zu und hielt ihn fest. Mit einem kräftigen Ruck entriss er Astheimer die Waffe, betrachtete sie und hieb sie seinem Gegner erstaunlich präzise auf die linke Schulter. Es krachte einmal, dann sank Astheimer in die Knie. Mit einem solchen Schlag hatte er nicht gerechnet, vor allem nicht mit einer so rohen Kraft. Es kam ihm vor, als hätte ihn ein Pferd getreten! Der Schmerz machte ihn nur noch wütender. Rote Schleier tanzten vor seinen Augen, als er sich aufrichtete und sich auf Max stürzen wollte. Der jedoch brummte nur was von »dummer Freund« und ließ die Knüppel fallen, breitete seine Arme aus und drückte den anstürmenden Angreifer an sich, hob ihn vom Boden hoch und hielt ihn einfach fest. Astheimer strampelte wie verrückt, als ihm langsam die Luft ausging. Als die roten Schleier einer Schwärze wichen, hörte er nur »MAX! LASS LOS!«, dann fühlte er, wie er fiel und auf den Boden prallte.

Max kniete sich bestürzt neben ihn, die Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Hab ich Freund zu wehgetan? Aber Freund mir wehgetan.«

Astheimer rappelte sich auf, keuchte. Er hatte sich wieder beruhigt, schüttelte den Kopf.

»Bleib mir bloß vom Leib, du Wahnsinniger!« Dann wankte er zu von Waldow. »Dieser Kerl da«, er zeigte auf Max, »der ist ohne Waffe gefährlicher als manch anderer mit. Ich hoffe nur, dass der Kleine ihn unter Kontrolle halten kann.«

Mit einem letzten vernichtenden Blick auf Max humpelte er davon. Die Soldaten, die schweigend und staunend zugesehen hatten, wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Noch niemals hatte jemand dem Astheimer eine solche Niederlage bei einem Übungskampf beigebracht. Genau gesagt konnte sich niemand erinnern, dass er überhaupt schon einmal verloren hatte. Von Waldow wollte etwas sagen, aber er wurde durch einen kleinen, abgerissen wirkenden Jungen, der aus der Stadt gerannt kam, dass der Schnee nur so stob, unterbrochen. Er hörte aufmerksam zu, nickte.

»Männer, wir müssen nach Bamberg hinein. Es haben sich Diebstähle ereignet. Und es gab Fälle von Vergewaltigung, angeblich auch von Kindesentführung. Es heißt, dass eine Gauklertruppe möglicherweise dahintersteckt. Abmarsch in zehn Minuten. Markus, du und Max, ihr kommt mit mir. Macht euch fertig.«

W

Behutsam zog Anna die Tür zu Alexander von Cottenaus Gemach hinter sich zu. Ein paar Momente lang stand sie in dem langen, leeren Flur und lauschte, doch im Schloss herrschte völlige Stille, obwohl die Sonne schon aufgegangen war. Schließlich setzte sie sich in Bewegung, hatte dabei das Gefühl, ihre Füße berührten gar nicht den Boden. Sie war nicht mehr dieselbe wie noch vor einer Woche, fühlte sich älter und irgendwie stärker. Alexander von Cottenau hatte tatsächlich weitgehend Wort gehalten - zwar war es am ersten Abend nicht vollkommen schmerzlos vonstattengegangen, aber doch fast. Sie wusste, dass bei weitem nicht alle Frauen dieses Glück bei ihrer ersten Begegnung mit einem Mann hatten, und war dem Grafen dankbar für seine Rücksicht.

Danach hatte er sie jeden Abend zu sich geholt. Es war nicht so unangenehm, wie Anna befürchtet hatte. Und nach und nach hatte sie es sogar genossen, hatte sich von dem älteren Mann in die Kunst der Liebe einführen lassen.

Die Münzen in dem Beutel, die er ihr gegeben hatte, klapperten leise, als Anna die Treppen hinabstieg. Sie hatte hineingeschaut und ungläubig nach Luft geschnappt, als sie gesehen hatte, wie viele es waren - und auch noch aus Gold! Silvanus hatte zu diesem Preis wahrhaftig nicht nein sagen können, das war ihr nun klar. Alexander von Cottenau hatte über ihr überraschtes Gesicht gelacht und ihr noch drei Münzen in die Hand gedrückt.

»Die hier, die behältst du für dich. Du bist jede Einzelne davon wert, das glaube mir!«

Selbst bei der Erinnerung daran schoss ihr noch die Verlegenheitsröte in die Wangen.

Im Innenhof bei den Wagen grüßte Anna hektische Betriebsamkeit. Die Gaukler waren dabei, in höchster Eile alles abzubauen und in die Wagen zu packen. Das war mehr als ungewöhnlich, nicht nur, weil sie erst vor kurzem angekommen waren, sondern weil das Wetter nicht gerade einladend war. Vom grauverhangenen Himmel wirbelten Schneeflocken, so dicht, dass Anna kaum das andere Ende des Hofs sehen konnte. Eigentlich vermied Silvanus das Reisen unter solchen Umständen.

»ANNA!«

Dorothea stürzte auf die junge Frau zu und riss sie beinahe von den Beinen, als sie sie umarmte. Dann hielt sie sie eine Armlänge von sich weg und musterte sie von oben bis unten. In der letzten Woche hatte Anna die ältere Frau nicht zu Gesicht bekommen, da sie die meiste Zeit entweder beim Grafen verbracht oder aber geschlafen hatte. Dorothea ihrerseits war von Silvanus bewusst von Anna ferngehalten worden. Er hatte ihr mehrere Freier zukommen lassen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen, Anna suchen und doch noch alles verderben würde.

»Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«

Anna lächelte beruhigend.

»Ja, Doro, alles ist gut. Aber was ist hier los? Warum reisen wir schon ab, es lief doch so gut die letzten Tage?«

Die Ältere verzog das Gesicht, als habe sie Zahnschmerzen: »Offenbar billigen nicht alle Bamberger unsere Anwesenheit. Es sind schlimme Gerüchte in Umlauf. Wir verschwinden, bevor die Gerüchte zur Anklage werden.«

Weitere Erklärungen waren nicht nötig. Wortlos eilten die beiden Frauen zu den anderen und packten mit an.

W

An der Seite des Hauptmanns marschierten Markus und Max nach Bamberg. Winzige, aber zahlreiche Schneeflocken fielen auf sie hinab und durchnässten bald unangenehm Markus' wollenen Mantel, ließen ihn bleischwer werden. In der Inselstadt angekommen, wurde diese zunächst einmal abgeriegelt, damit niemand mehr hinein oder hinaus konnte. Ein weiterer Trupp wurde zum Domberg geschickt. Von Waldow war gerade dabei, seine Leute einzuteilen und ihnen Anweisungen zu geben, als ein vornehm gekleideter Mann mit ergrautem Haar mit weit ausgreifenden Schritten auf den Hauptmann zu eilte, vor ihm stehen blieb und mit einem unwilligen Knurren die Arme verschränkte.

»Hauptmann, mein Name ist Graf Alexander von Cottenau. Was hat dieser Aufzug zu bedeuten?«

Von Waldow musterte den Grafen.

»Uns wurde berichtet, dass es hier zu Diebstählen und Vergewaltigungen gekommen ist. Auch sollen mehrere Kinder verschwunden sein. In Verdacht steht ein Trupp Gaukler, der sich hier aufhalten soll.«

Der Graf runzelte die Stirn.

»In der Tat hatten wir hier einige Gaukler zu Gast. Sie waren, nun, sehr unterhaltsam, vor allem die Frauen.« Alexander grinste. »Wenn Ihr versteht, was ich meine.«

»Das verstehe ich«, brummte von Waldow. »Auch, wenn ich es nicht unbedingt gutheiße. Was Ihr und die Euren mit den Huren anstellt, das geht mich nichts an, solange sich niemand beschwert. Aber Diebstahl, Vergewaltigung von Bürgerstöchtern und entführte Kinder, das geht mich etwas an.«

Der Graf nickte. Der Hauptmann brachte ernsthafte Anschuldigungen vor, die er nicht ignorieren durfte. Solche Verbrechen mussten aufgeklärt werden.

»Was soll denn gestohlen worden sein? Und welche Bürgersfrau wurde vergewaltigt?«

In dem Moment kam ein Mann zu ihnen, der ein junges Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren hinter sich herzerrte. Scheinbar hatte er nur auf seinen Auftritt gewartet! Als er vor dem Hauptmann stand, riss er sich die Mütze vom Kopf.

»Hauptmann, das ist Gundela, meine Tochter. Als sie vor zwei Tagen am Abend nicht nach Hause kam, habe ich mir Sorgen gemacht. Sie wollte die Gaukler sehen. Erst vor zwei Stunden habe ich sie gefunden. Sie sagt, ein Mann, der zu den Schaustellern gehört, habe sie mit Gewalt genommen.«

Markus betrachtete das Mädchen. Sie war schön, fand er. Langes, schwarzes Haar bis fast auf die ausladenden Hüften, ein pralles Dekolletee und Haut wie weiße Seide, so kam es ihm vor. Ein Stich ging ihm durchs Herz, weil ihm just in diesem Moment das Mädchen durch den Kopf schoss, das er auf dem Weg zum Gut bei Rothenburg kennengelernt und das ihm seinen ersten Kuss beschert hatte.

Doch die Stimme seines Hauptmanns riss ihn aus den Gedanken.

»Gundela, was ist geschehen?«

Das Mädchen scharrte mit dem linken Fuß im Schnee.

»Ich habe die Vorstellung gesehen. Dann kam einer der Artisten, zog mir ein Geldstück aus der Nase und eine Maus aus dem Ohr. Es war lustig. Als die Vorstellung vorbei war, wollte ich nach Hause, aber als ich um eine Ecke kam, wurde ich festgehalten. Dann …« Sie brach ab, rang nach Worten. »Es war schrecklich. Immer wieder ist er über mich hergefallen.«

Von Waldow nickte.

»Ich werde dafür sorgen, dass der Mann gefunden und bestraft wird.«

Markus betrachtete Gundela genauer. Etwas kam ihm seltsam vor. Und dann wusste er es. Er hatte einen ähnlichen Gesichtsausdruck bereits gesehen. Er zog seinen Hauptmann am Ärmel.

»Kann ich Euch kurz sprechen?«

Von Waldow zog sich mit Markus zurück, der leise auf ihn einredete. Immer wieder sahen sie zu dem Mädchen und ihrem Vater. Schließlich nickte der Hauptmann und sie kehrten zurück.

»Mein Bursche hier würde dir gerne noch einige Fragen stellen, wenn du erlaubtst«, sagte er sanft zu Gundela.

»Du sagst, du wurdest festgehalten?«, begann Markus.

»Ja, das sagte ich bereits«, antwortete sie schnippisch.

»Und dann ist er über dich hergefallen?«

»Mehr als einmal!«

»War es an der Stelle, an der du überfallen wurdest? Oder hat er dich weggebracht?«

»Was soll diese Fragerei?«, fauchte ihr Vater, aber von Waldow sah ihn streng an.

»Haltet Euch zurück, sonst lasse ich Euch entfernen!«

»Nun, Gundela, wo hat er es getan?«, fuhr Markus mit sanfter Stimme fort.

»Ich … ich weiß nicht …«

»Hat er dich fortgeschleppt? Dich betäubt?«

Es blitzte in den Augen des Mädchens.

»Ja, betäubt hat er mich.«

»Und, was hast du für Kleider getragen?«

Gundela zögerte einen Moment.

»Das, was ich jetzt trage.«

Markus betrachtete die Kleider. Sie sahen sehr sauber aus, fand er.

»Als er über dich hergefallen ist, hast du dich gewehrt?«

»Wie eine Katze, aber er war so viel stärker!«

Gundela begann zu weinen. Ihr Vater sah aus, als ob er jeden Moment auf Markus losgehen würde. Der nickte nur.

»Ich denke, ich weiß, was geschehen ist.« Er lächelte, reckte sich ein wenig. »Du bist freiwillig mitgegangen. Deine Kleider sind sauber und nicht zerrissen, du hast keine Verletzungen, die von einem Kampf herrühren.« Er trat nahe an Gundela heran, die zu zittern begann. »Habe ich Recht? Du hast dem Mann deine Jungfräulichkeit geschenkt und bist enttäuscht, weil er fort ist, dich sitzengelassen hat, entehrt, vielleicht schwanger. Und du hast Angst gehabt, dass dein Vater dich dafür bestraft.«

Aus dem Augenwinkel sah er, wie von Waldow seine Hand auf den Schwertgriff legte, denn Gundelas Vater stieß ein wütendes Schnauben aus.

»Dieser Bursche wagt es, meine Tochter als billige Hure hinzustellen? Ich verlange, dass er für diese Anmaßung bestraft wird! Wir sind hier die Opfer und verlangen Gerechtigkeit!«, fauchte er wutentbrannt.

Gundela, die Markus die ganze Zeit schon fassungslos angestarrt hatte, verlor nun jedoch die Fassung und schluchzte laut.

»Ja, es ist wahr. Ich habe es freiwillig getan, für die Münze, die er mir aus der Nase gezogen hat. Er sagte, er liebt mich, nimmt mich mit. Weg von diesem stinkenden Ort!«, brach es aus ihr heraus.

Von Waldow legte Markus eine Hand auf die Schulter und zog ihn zurück, brachte Abstand zwischen ihn und Gundelas Vater, bevor der sich doch noch auf den cleveren Burschen stürzen konnte.

»Es reicht.« Er sah den Ankläger an. »Da das jetzt geklärt ist, überlasse ich Euch Eure Tochter. Aber ich warne Euch: Kommt mir zu Ohren, dass Ihr sie prügelt, werde ich jeden Schlag, den ihr dem Mädchen verabreicht, doppelt an Euch zurückgeben. Und glaubt mir, ich erfahre es, wenn es so sein sollte!«

Er wandte sich ab und zog Markus mit sich.

»Woher hast du das gewusst?«

»Ich hab es nicht gewusst, aber ich habe bei einem Mädchen in Rothenburg einmal einen ähnlichen Gesichtsausdruck gesehen, als sie gelogen hat.«

»Nun denn, trotzdem, es bleiben immer noch die Diebstähle und die verschwundenen Kinder.«

Im Laufe des Tages stellte sich heraus, dass aus dem Dom mehrere goldene Becher gestohlen worden waren, auch in den Häusern rings um die Inselstadt waren Gegenstände aus Silber verschwunden.

Nach und nach gesellten sich auch mehrere Menschen zu der Gruppe der Bestohlenen, denen man die Geldkatzen entwendet hatte. Dies war vermutlich durch Beutelschneider geschehen, die sich gern im Gewimmel herumdrückten und dann, wenn das Opfer abgelenkt war, mit einem scharfen Messer die Gelbeutel ab - oder aufschnitten und mit den darin enthaltenen Münzen in der Menschenmenge untertauchten.

Auch gaben mehrere Frauen an, belästigt oder sogar missbraucht worden zu sein. Am Ende stellte sich jedoch heraus, dass die Mehrzahl durchaus freiwillig mitgemacht und eine Vergewaltigung aus Angst vor ihren Ehemännern erfunden hatten. Die Motive waren teilweise der Reiz des Verbotenen, auf der anderen Seite aber auch einfach nur das Gefühl von Rache, wenn ihre Männer sich mit den Dirnen vergnügten.

Einige wirkliche Vergewaltigungen hatten ebenfalls stattgefunden, doch war nicht zu ermitteln, ob diese durch Angehörige der Gaukler oder aber durch Stadtbewohner geschehen waren.

Zwei Kinder waren verschwunden und nicht mehr aufzufinden. Allerdings gehörten sie zu einer bettelarmen Familie, deren Vater als Gerbergeselle arbeitete und seine Brut kaum ernähren konnte, die nach dem Verschwinden der beiden Buben immer noch stolze sieben Kinder zählte. Es kam nicht selten vor, dass die Verlockungen eines Lebens als Gaukler junge Abenteurer anzog und sie freiwillig mitgingen, besonders, wenn sie zu Hause nicht das Brot über Nacht hatten.

»Ich denke, dieser Obergauner braucht frisches Blut, Nachwuchs«, brummte von Waldau. Markus nickte.

»Ja, wenn sie zu groß werden, taugen sie als Beutelschneider nicht mehr. Er braucht dazu recht kleine, flinke Kinder. Und wenn es Mädchen sind, werden sie erst Artisten, dann wohl Dirnen.«

Wieder gab es Markus einen Stich. Ob Anna wohl …?, schoss es ihm durch den Kopf, aber schnell wischte er den Gedanken beiseite. Nein, Anna doch nicht! Sie würde so etwas niemals tun, da war er sich ganz sicher.

Die Gaukler waren längst über alle Berge. Niemand wusste, in welche Gegend sie gezogen waren. Eine Verfolgung wurde als sinnlos erachtet und die ganze Angelegenheit schnell vergessen, mit Ausnahme der verschwundenen Kinder.

Gewalt des Glaubens Teil 1

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