Читать книгу Abschied vom falschen Leben - Werner Kindsmüller - Страница 5
ОглавлениеVorwort
Im Herbst 2021 nahm die internationale Klimadiplomatie nach den Unterbrechungen durch die globale Corona-Pandemie erneut ihre Reisetätigkeit auf. Die im Vorfeld publizierten Berichte des IPCC und anderer Experten legten offen, dass der weltweite Rückgang der Produktion und der Reisetätigkeit während der Pandemie nur unwesentlich zur Erreichung der 2015 in der französischen Hauptstadt vereinbarten Klimaziele beigetragen haben. Uns rinnt die Zeit davon, um bis Mitte des Jahrhunderts Klimaneutralität zu erreichen. Prognosen des IPCC vom Sommer 2021 rechnen mit einer Erderwärmung von 1,5 Grad bereits bis 2030. Die Wahrscheinlichkeit, das selbstgesteckte Ziel noch zu erreichen, nimmt mit jedem Jahr und mit jeder Klimakonferenz ab.
Das gleiche Bild stellt sich dar, wenn wir in die Berichte blicken, die der Artenschutzkonferenz im chinesischen Kumming im Oktober 2021 vorgelegt wurden. Keines der Ziele, die die Staatengemeinschaft vor zehn Jahren vereinbart hat, so die traurige Bilanz des Global Biodiversity Outlook (2020) wurde erreicht. Der Zustand der Natur hat sich in diesem Zeitraum dramatisch verschlechtert. Wie dramatisch die Lage ist, zeigt eine einzige Zahl: Eine Million der etwa acht Millionen Tier- und Pflanzenarten auf der Erde sind in den nächsten Jahrzehnten vom Aussterben bedroht. Viele Menschen sind sich nicht bewusst, wie sehr unser Leben vom Gedeihen einer mannigfaltigen Natur abhängig ist. Der Artenschwund gefährdet die Sicherstellung unserer Grundbedürfnisse: essen, trinken und atmen.
Dieses Buch will nicht ein weiteres Mal darstellen, wie wir unsere Lebensgrundlagen vernichten. Dazu ist genug geschrieben. Spätestens seit den enttäuschenden Ergebnissen der Artenschutzkonferenz und der UNO-Klimakonferenz in Glasgow vom November 2021 wird auch vielen Klimaaktivisten klar, dass das Problem tiefer liegt. Es wird immer deutlicher, dass das politisch-ökonomische System des Kapitalismus aus sich heraus nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, mit denen die Lebensgrundlagen der Menschheit gesichert werden können.
Ich werde mich deshalb mit den strukturellen Gründen dieses Unvermögens befassen, um deutlich zu machen, dass sich die Klimaschutzbewegung zu einer antikapitalistischen Bewegung weiterentwickeln muss, wenn sie ihre Ziele erreichen will. An den offenen Gräbern unserer Zivilisation Bäume zu pflanzen, wird das Problem der Selbstzerstörung der Erde nicht lösen. Ebenso wenig wird eine Erneuerung unserer Energieversorgung die Selbstzerstörung der Menschheit verhindern können, wenn wir nicht zugleich das Wachstumsparadigma überwinden.
Eigentlich ist es ganz einfach: Die Erde ist ein endliches System. Wir können ihr nur so viel für unser Leben entnehmen, wie sie im gleichen Zeitraum wieder herstellen kann, ohne ihre Mannigfaltigkeit zu verlieren. Man nennt das Nachhaltigkeit. Den natürlichen Grenzen steht heute ein ökonomisches System gegenüber, das nie genug haben kann, das sich nicht begrenzen kann, ohne in die Krise zu geraten. Dieser dem Kapitalismus eingeborene „Systemfehler“ ist das Kardinalproblem, das am Grunde der ökologischen Probleme sichtbar wird. Der Widerspruch zwischen den natürlichen Grenzen und der Grenzenlosigkeit des kapitalistischen Wachstumstriebs zerstört unsere Lebensgrundlagen.
Als erd- und naturgebundene Wesen waren wir unseren Wurzeln noch nie in einem solchen Ausmaß entfremdet, wie heute. Wir kultivieren und bilden die Welt nicht, wir konsumieren sie. Wir sind von einem ökonomischen System, das seinen Plunder loswerden muss, süchtig gemacht worden, so wie die Ratte im Experiment, die mit ihrer Nase einen Hebel berührt und dadurch einen Impuls auslöst, der ihr Belohnungszentrum anspricht, welches dann das Glückshormon Dopamin ausschüttet. Man nennt es Freiheit, dabei ist es aber nur eine begrenzte Freiheit, die Freiheit auf den Wühltischen der Märkte nach dem schnellen Glück zu suchen.
Glück ist das höchste Gut, nachdem alle Menschen streben. In einer Welt, in der grundsätzlich die Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse gesichert werden kann, erreichen wir unser Glück nicht durch eine Anhäufung von immer mehr materiellen Gütern und die Maximierung von hippen, kurzlebigen Vergnügungen. Glück verlangt nach sozialer Nähe, Liebe und den Erfahrungen, die wir nur höheren und sinnvollen Tätigkeiten durch die Aktivierung unserer Phantasie, der Kreativität und der Liebe verdanken. Die Standardwaren, die Märkte feilbieten, können uns nur kurzzeitigen Trost für unsere existentiellen Entbehrungen bieten, die uns täglich abverlangt werden.
Die sichtbaren Folgen des Klimawandels sind nicht isolierte Phänomene, sondern das Ergebnis von Systemdefekten, die sich nicht dadurch beheben lassen, dass das System einen neuen Farbanstrich und ein neues „Narrativ“ erhält. Wir sind Zeitzeugen des Widerspruchs zwischen den Grenzen der Erde und der Grenzenlosigkeit unseres Wirtschaftssystems.
Eine nachhaltige Zukunft, also eine gesellschaftspolitische Alternative zum Scheitern des politisch-ökonomischen Systems wäre eine Welt, in der wir so leben, dass wir der Natur nicht mehr entnehmen, als sie in der gleichen Zeit durch natürliche Prozesse regenerieren kann. Eine solche Zukunft muss global gerecht sein, das heißt, sie muss allen Menschen Zugang zu den Möglichkeiten eröffnen, damit sie ein gutes Leben im Einklang mit den planetarischen Grenzen verwirklichen können. Eine nachhaltige Zukunft muss die Mannigfaltigkeit der Welt sichern, damit eine gedeihliche Entwicklung auch für künftige Generationen möglich bleibt. Deshalb müssen wir unseren nichtmenschlichen Mitbewohnern einen Eigenwert zuerkennen. Auf der Grundlage einer solchen Idee einer nachhaltigen Zukunft wird es uns, dem erd- und naturgebundenen Wesen Mensch möglich, uns zu moralischen Wesen zu entwickeln. Als moralische Wesen zeichnen wir uns dadurch aus, dass wir durch unser Arbeiten und Leben der natürlichen und sozialen Mitwelt mehr geben, als wir von ihr nehmen. Wir machen die Welt reicher, statt ärmer. Auf diese Weise kann es zugleich gelingen, unser Leben in Einklang mit unserer eigenen Natur zu bringen.
Diese Gedanken werde ich in den folgenden Kapiteln als Kritik an der politischen Ökologie des Kapitalismus entwickeln und in eine Skizze einer möglichen nachhaltigen Freiheit einmünden lassen. Meine Anmerkungen sollen dazu beitragen, dass Menschen besser verstehen, warum wir Abschied nehmen müssen vom falschen Leben, so bequem wir durch einen paternalistischen Kapitalismus auch gebettet sind. Zugleich will ich deutlich machen, dass wir ein besseres Leben verdient haben, als uns der Kapitalismus bieten kann.
Wenn das Betriebssystem einer Lebensform defekt ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es kollabiert. Solche Erfahrungen gab es immer wieder in der Geschichte der Menschheit. Um die Folgen für unsere Freiheit zu minimieren, wäre es ein Akt der Klugheit, nicht auf den großen Kladderadatsch zu warten, der für die gesamte Menschheit nur schreckliche Folgen haben kann. Wir müssen in das Räderwerk einzugreifen, oder wie es Walter Benjamin gesehen hat: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“1