Читать книгу Abschied vom falschen Leben - Werner Kindsmüller - Страница 7

Оглавление

Kapitel 1

Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos

In diesem Kapitel geht es mir darum, der Frage nachzugehen, wie eigentlich unser gesellschaftlicher Umgang mit den offensichtlichen Problemen ist, die mit dem Begriff der ökologischen Krise nur unzureichend bezeichnet werden. Wie verhalten wir uns als Gesellschaft und Einzelner dazu? Wie kommen wir zu Lösungsentwürfen? Worüber geht der Streit? Ich möchte zeigen, dass die Art und Weise, wie wir das Problem der ökologischen Krise beschreiben für wirkliche Lösungen unzureichend ist.

Für den Umgang mit der ökologischen Krise unserer modernen Naturbeziehungen gibt es kein Vorbild, an das wir uns halten könnten, um aus dem Schlamassel herauszukommen. Alle Routinen, die wir in der Vergangenheit im Umgang mit Krisen entwickelt haben, helfen nicht weiter, weil es diesmal um die Grundlagen unserer Wirtschafts- und Lebensweise selbst geht. Dennoch können wir ja angesichts der unübersehbaren Folgen der Klimakatastrophe, wie sie uns im Sommer 2021 noch einmal durch Dürren, Starkregenereignisse und verheerende Waldbrände vor Augen geführt worden sind, nicht untätig bleiben. Ob Politiker, Konsumenten, Verkehrsteilnehmer, Unternehmer – wir tun was, aber was ist der Plan? Wie definieren wir das Problem, das wir lösen wollen?

Klimakonzepte, Klimakonferenzen, Klimamanager, Klimaprogramme, Reduktionsziele, Klimastreik – das Thema treibt uns um, wir ahnen, dass „etwas“ geschehen muss und dennoch fühlt sich das geschäftige Treiben aller Beteiligten hilflos an. Wir agieren wie die Akteure in dem Film von Alexander Kluge (1968): umtriebige Projektemacher, auf dem Hochseil, ohne Plan, theorielos. Wir sind gefangen in einer Logik, in einem Narrativ, das keinen Sinn mehr macht.

Das Problem, das ist vorerst die noch näher zu bestimmende und zu verstehende Krise unserer gesellschaftlichen Naturbeziehungen, die zu einer existentiellen Gefährdung unserer Lebensgrundlagen auf der Erde geführt hat. Das Problem ist aber auch, dass diese Zivilisationskrise in den Routinen bearbeitet wird, die bei früheren, aber unvergleichbaren Krisen erfolgreich waren. Wir bleiben im Reparaturmodus, etwa so, als würde man die Bordwand der Titanic neu streichen, während diese Kurs auf einen Eisberg hält.

Diese Kritik gilt nicht nur den Regierungen, sondern uns allen und auch den engagierten Klimaschützern. Es gibt viele Gründe, warum Lernblockaden den Erkenntnisprozess über die Ursachen unserer Zivilisationskrise verhindern. Denkweisen, die „in normalen Zeiten“ als richtig erscheinen, können in Krisenzeiten fatale Folgen haben. Die Absicht meiner Kritik liegt darin, Erkenntnisprozesse in Gang zu setzen, damit die kleine verbleibende Chance genutzt werden kann, den Kurs der Titanic zu korrigieren.

Über die drohende Klimakatastrophe sind unzählige Bücher geschrieben worden. Studien von Klimaforschern füllen ganze Bibliotheken und Ratgeber, wie man sich nachhaltig und ökologisch verhält, liegen heute in jeder Buchhandlung aus. Zugleich kaufen die Deutschen immer leistungsstärkere Autos, verharrt der Fleischkonsum auf hohem Niveau und sehnen sich die Menschen nach nervenzehrenden Monaten der Konsumbeschränkungen und der Einschränkung ihrer Mobilität nach nichts mehr, als endlich wieder in ein Flugzeug zu steigen und in die Sonne zu fliegen. Haben sie denn die Bücher nicht gelesen, die Berichte von abschmelzenden Gletschern nicht wahrgenommen?

Ich will in diesem Kapitel ergründen, woran es liegt, dass die Nachhaltigkeitswende nicht stattfindet, die wir dringend bräuchten, um ein gutes Leben für demnächst zehn Milliarden Menschen auch für künftige Generationen zu ermöglichen. Wir werden sehen, dass es viele Gründe gibt, warum Menschen, Unternehmen und Politiker nicht tun, was nach Überzeugung der Wissenschaft notwendig wäre, um die drohende Klimakatastrophe, den Artenschwund und die Zerstörung lebenswichtiger Ökosysteme zu stoppen.

Die Erklärungen können helfen unsere Strategien und Narrative zu überprüfen, mit denen wir versuchen, den Klimawandel zu verlangsamen und Bedingungen zu schaffen, damit auf globaler Ebene demnächst zehn Milliarden Menschen ein gerechtes Leben im Einklang mit den planetarischen Grenzen führen können. Ich werde zeigen, warum eine solche Strategie weder von der Wirtschaft noch von Politik und Staat und auch nicht von den meisten Menschen gewollt wird.

I.

Warum geschieht nicht, was notwendig wäre?

Die Aktivisten der Klimabewegung und Klimaforscher sorgen sich, dass die 2015 in Paris von 197 Staaten vereinbarten Klimaziele nicht mehr erreichbar sind. Diese Sorge ist durchaus begründet, wenn man das Zwischenzeugnis betrachtet, das den Staaten im November 2020 vom UN – Umweltprogramm UNEP ausgestellt worden ist. In den Überschriften deutscher Medien spiegelt sich der Befund wider: „Mit Vollgas in die Erderwärmung“ (Deutschlandfunk), „Es reicht noch längst nicht“ (Merkur), „Nur ein Kraftakt kann Klimaziele retten!“ (ntv). Wenn der Kurs der Klimapolitik nicht grundlegend geändert wird, wird das Ziel von Paris, die Erderwärmung für das Jahr 2100 auf unter 1,5 Gard Celsius zu begrenzen, krachend verfehlt. Würden die Staaten den bisherigen Kurs fortsetzen, so der „Emission Gap Report“ der UN-Organisation, würde die Erderwärmung Ende des Jahrhunderts bei 3,2 Grad Celsius liegen. Die Folgen für Mensch und Natur wären katastrophal.

Die Situation, in der wir uns als Menschheit befinden ist paradox. Wir wissen, wie es um unsere lebenswichtigen Ökosysteme aussieht. Wir können wissen, was passiert, wenn es uns nicht gelingt, unser Wirtschaften und Leben in Einklang mit den planetarischen Grenzen zu bringen. Aber es gibt so starke Adhäsionskräfte, die verhindern, dass wir uns diesem Problem stellen.

Wir wissen auch, dass mit jedem Jahr, in dem wir zu wenig unternehmen, um die Erwärmung aufzuhalten, ein umso radikalerer Kurswechsel notwendig wird, damit die schlimmsten Prognosen noch verhindert werden können. Und dennoch halten wir zwanghaft an unserer Wirtschafts- und Lebensweise fest. Warum geschieht nicht, was notwendig wäre? Dies zu klären, war eines der Hauptmotive für dieses Buch. Ich wollte wissen, welche Hindernisse einem Kurswechsel im Wege stehen, um zumindest das eine Ziel zu erreichen, nämlich bis zur Jahrhundertwende die Erderwärmung möglichst unter 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Sind es die Politiker, denen es an Einsicht und Willen fehlt, diese Menschheitsaufgabe entschlossen anzugehen? Sind es die Interessen der mächtigen Wirtschaft, die ihre fossilen Altindustrien möglichst lange profitabel weiterführen wollen? Oder ist es der „alte Adam“, die menschliche Natur, die uns im Wege steht, um die Klimaziele zu erreichen? Jede dieser Erklärungen kann für sich keine befriedigende Antwort geben.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr 2021 und die folgende Verschärfung der Klimaziele in Deutschland sowie das Engagement des neuen amerikanischen Präsidenten Joe Biden machen Hoffnung, dass zumindest das Tempo in der internationalen Klimapolitik erhöht wird. Aber der Schein trügt: Klimaziele sind keine Klimapolitik. Wollte Deutschland bis 2045 klimaneutral werden, wären gravierende Einschnitte in das Wirtschaftsgeschehen und unsere Lebensformen notwendig. Einen Eindruck davon, welche Maßnahmen notwendig wären, um die Klimaziele von Paris in Deutschland zu erreichen, hat das Umweltbundesamt (UBA) in einer Studie im Oktober 2021 vermittelt: Abschalten aller Kohlekraftwerke bis 2030, ab 2040 darf die Industrie keine Kohle mehr verbrennen, Verbrennungsmotoren dürfen ab 2035 nicht mehr zugelassen werden, der Deutsche soll seinen jährlichen Fleischverbrauch von 60 auf 16 Kilogramm senken und in Häusern darf ab 2026 keine Gasheizungen mehr eingebaut werden.10

Diese Maßnahmen gehen weiter als das Wahlprogramm der Grünen zur Bundestagswahl 2021. Und man muss kein Prophet sein, dass die wissenschaftlichen Vorschläge des UBA nicht Eingang in Regierungshandeln finden werden. Gerne wird „die Politik“ für ihr zögerliches Vorgehen in der Klimapolitik kritisiert. Aber diese Kritik trifft das Problem nur zu einem geringen Teil. Die Gründe, warum nicht geschieht, was geschehen müsste sind vielfältiger und sie hängen mit unserer Wirtschafts- und Lebensweise zusammen.

Während der Beschäftigung mit den Themen dieses Buches hat sich mir immer wieder die Frage aufgedrängt, warum sollten Menschen in Nordeuropa ihr Leben grundlegend ändern wollen, und eine Transformation unterstützen, die zu einer nachhaltigen Welt führt, ihnen aber zugleich zumutet, dass sie auf einen Großteil ihrer Gewohnheiten und Annehmlichkeiten verzichten müssen? Warum sollten Menschen ihre Komfortzone wegen einer geringfügigen Erhöhung der Temperaturen im Sommer verlassen wollen? Erst ein tieferes Verständnis der „imperialen Lebensweise“ und ihrer ontologischen Bedeutung für den Menschen in der individualisierten Arbeits- und Konsumgesellschaft macht deutlich, dass die Veränderungen, wie sie angesichts der Überschreitung der planetarischen Grenzen notwendig sind, existentielle Fragen der Menschen in den nordatlantischen Wachstums- und Wohlstandsgesellschaften berühren.

Was passieren wird, wissen wir

Einer der Gründe, warum sich Menschen an eine Produktions- und Lebensweise klammern, die vernünftigerweise keine Zukunft hat, hängt auch damit zusammen, dass es an attraktiven Alternativen fehlt. Dystopische Zukunftsentwürfe führen nur dazu, dass man sich noch mehr in die Ecke kuschelt, statt ins Freie zu treten. Ein neues Zukunftsnarrativ ist deshalb unverzichtbar, wenn wir vermeiden wollen, dass die Transformationen der nächsten Jahrzehnte nicht „by desaster“ erfolgen.

Nach dem „Sonderbericht des IPCC über 1,5 Grad Celsius globale Erwärmung“ (2018) wird bei gleichbleibender Entwicklung der Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius bereits im Zeitraum von 2030 – 2052 erreicht.11 Die Wissenschaftler kamen zum Ergebnis, dass die globale Erwärmung aktuell um 0,2 Grad Celsius pro Dekade zunimmt. Die Folgen für die Lebensbedingungen von Menschen, Tieren und Pflanzen verschlechtern sich erheblich, wenngleich nicht im gleichen Maße, als wenn die Erderwärmung 2 Grad Celsius betragen würde. Sechs Prozent der Insekten und acht Prozent der Pflanzen, so die Annahmen, werden die Hälfte ihres Lebensraums verlieren, Vier Prozent der Landfläche wird nicht mehr in der bisherigen Weise genutzt werden können, im Sommer wird die Arktis eisfrei.12 Weitere 70-90 Prozent der Korallenriffe werden absterben, im südlichen Afrika, in Teilen Südost-Asiens und in Mittel- und Südamerika werden die Ernteerträge von Reis, Weizen, Mais und anderem Getreide sinken, in manchen Gebieten werden geringere Niederschläge die Wasserversorgung gefährden, anderswo ist vermehrt mit Überschwemmungen zu rechnen, Extremwetter nehmen generell zu, der Wasserspiegel an den Küsten wird steigen, die Zahl der Hitzetoten im Sommer wird auch in Europa zunehmen.

Die vom Klimawandel am meisten betroffenen Staaten sind auch jene, die ökonomisch und politisch am fragilsten sind. Bereits heute gibt es Kriege um knapper werdendes Wasser und Weidegründe (Welzer, Harald, 2008). Der Wasserspiegel des Tschadsee ist seit den 1960er Jahren dramatisch gesunken, so dass die Wasserversorgung der ursprünglich vier Anrainerstaaten ein Grund für permanente Konflikte ist. Bereits 2015 hat ein Bericht der Weltbank prognostiziert, dass der Klimawandel in den nächsten 15 Jahren zusätzlich 100 Millionen Menschen in Armut bringen wird (Welzer, Harald, 2008).

Die aus heutiger Sicht wahrscheinliche Überschreitung des 1,5 Grad-Ziels steht nur für eine der Grenzen, die zu unabsehbaren ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen für das Leben der Menschen führen kann. Weitere planetarische Grenzen sind bereits oder drohen demnächst überschritten zu werden. Noch kritischer als die Erderwärmung ist der rasante Verlust der Artenvielfalt und das Schwinden des Genpotenzials der Welt. Die Versauerung der Meere und der Rückgang der Süßwasserreservoirs sind ein weiteres Indiz für die Überbeanspruchung der natürlichen Vorräte. Die Belastung der Meere mit Mikroplastik und deren Aufnahme in die Nahrungskette, die gesundheitsschädlichen Folgen der industriellen Landwirtschaft, der rapide Verlust an tropischer Vegetation durch das ökonomisch motivierte Abholzen des Regenwaldes und der Schwund von wirtschaftlich nicht genutzten Landflächen, sind weitere gravierende Stichworte, mit denen sich der prekäre Zustand unseres Ökosystems beschreiben lässt.

Eine politische Strategie der Nachhaltigkeit darf also nicht nur die Erderwärmung im Blick haben, sondern ebenso die anderen Ökosysteme, deren Stabilität durch unsere Produktions- und Lebensweise gefährdet sind. Das 2009 unter Leitung von Johan Rockström entwickelte Konzept der neun für das Leben elementaren planetarischen Grenzen bildet die Grundlage für eine Zustandsbewertung der Ökosysteme und der Ökosystemdienstleistungen unserer Erde (Rockström, Johann et al, 2009).

Mit dem erweiterten Blick auf die wesentlichen Ökosysteme wird es besser möglich, die Risiken für die Stabilitäten und Instabilitäten der Lebensbedingungen zu erkennen, die durch die komplexen Wechselwirkungen zwischen den Umweltsystemen ausgelöst werden. So führt der Rückgang der Biodiversität, z.B. durch die Rodung des Regenwaldes dazu, dass die Kapazität der CO2-Senken reduziert wird. Der Anstieg des Meeresspiegels wiederum beschleunigt das Abschmelzen der Polkappen, wodurch wiederum die Absorptionsfähigkeit der Sonnenenergie geschwächt wird. Insektensterben beeinträchtigt die Bestäubung von Pflanzen und wirkt sich auf die Lebensmittelversorgung aus. Diese vielfältigen, und nur bedingt vorhersagbaren Wechselwirkungen machen deutlich, dass nur ein systemischer Ansatz im Kampf gegen die ökologische Krise Erfolg verspricht. Eine Konzentration allein auf die Schadstoffemissionen reicht nicht.

In immer mehr Bereichen werden die Schwellenwerte, die den Übergang zu einem kritischen Zustand der Ökosysteme markieren überschritten. Die einzelnen Systeme befinden sich aber in komplexen Wechselwirkungen. Temperaturerhöhungen, die Niederschlagstätigkeit, die Fruchtbarkeit des Bodens und die Veränderung der maritimen Lebensräume stehen in Abhängigkeiten, die wir nicht steuern können. Die Natur organisiert sich selbst.

„Wir bekommen das schon in Griff,“ sagen die Technokraten, für die auf dieser Erde kein Problem zu geben scheint, für das man im Baukasten der Technik nicht eine Lösung basteln könnte. In ihrem Denken ist die Natur, Materie, deren Gesetze man erkennen kann und die man so gestalten kann, dass sie unseren Plänen folgt. Mit diesem modernen Aberglauben schützen wir uns davor, eine der entscheidenden Annahmen der Moderne in Frage stellen zu müssen, die Annahme, dass wir die Natur beherrschen können.13 Wir behandeln die Natur als Umwelt, etwa so, wie ein Haus, das im Laufe der Zeit Reparaturen benötigt oder ein Fahrzeug, das man in die Werkstatt gibt. Das Bewusstsein, dass wir Teil der Natur sind und dass die Naturprozesse viel komplexer sind, als die technischen Prozesse eines Autos oder einer anderen Maschine, ist uns verloren gegangen. Ob wir die Natur, die Umwelt, die Erde als außermenschliche Natur ansehen oder ob wir vom „Insein“ (Gernot Böhme) ausgehen und unsere Praxis der ökonomischen und symbolischen Reproduktion als Stoffwechsel in der Natur begreifen, hat Auswirkungen auf das Problemverständnis und die notwendigen Lösungsansätze.

Um zu verstehen, wie unsere spezifische Reproduktion in unserer heutigen kapitalistischen Weltgesellschaft mit unserem Bewusstsein von der Natur zusammenhängt, werde ich die Genese der modernen Naturverhältnisse rekonstruieren. Damit verfolge ich ein doppeltes Ziel: Zum einen eröffnet der Blick auf die Entstehungsgeschichte der Moderne, in deren Endphase wir leben den Zugang zu den wesentlichen Elementen, aus denen unser Naturbezug entstanden ist. Zum andern zeigt die Geschichte, bei allen Unterschieden im Konkreten, die Rolle von klimatischen Veränderungen für gesellschaftspolitische Krisen und Umbrüche.

Ordnet man die heutige Entwicklung historisch ein, so fallen die Parallelen zum Niedergang früherer Kulturen auf: Die Bewohner der Osterinseln haben auch noch den letzten Baum gefällt und daraus eine Statue für ihre Götter geschnitzt. Die Wikinger auf Grönland haben ihre Kühe auf die Weide getragen, als diese nichts mehr zu fressen hatten, statt sich dem Fischfang zuzuwenden. In beiden Fällen haben die Menschen nicht verstanden, dass eine Lebenskultur, die ihnen einst Wohlstand gebracht hat, nunmehr zur Ursache für ihren Niedergang geworden war. Die Bewohner der Osterinseln und die Wikinger erwiesen sich als lernunfähig, weil sie nicht in der Lage waren, sich zu ihren eigenen Lebensgrundlagen reflexiv zu verhalten (Diamond, Jared, 2006).

Der lineare Fortschrittsgedanke der Moderne hat uns vergessen lassen, dass die Natur ihre eigene Geschichte geschrieben hat. Die Erdgeschichte, von der wir uns heute emanzipiert glauben, bestimmt die klimatologischen Bedingungen, unter denen Menschen Kultur hervorbringen können. Die Entstehung von Hochkulturen war nur möglich, weil seit Beginn des Holozäns stabile klimatische Verhältnisse herrschten. Die Geschichte der vergangenen 11.000 Jahre belegt auch, dass Klimaveränderungen stets wesentlichen Anteil am Sturz von Großreichen hatten. Die Moderne selbst verdankt ihr Entstehen zu einem großen Teil den verheerenden Folgen der Kleinen Eiszeit im Norden Europas im 16. und 17. Jahrhundert (Blom, Philipp, 2017), (Behringer, Wolfgang, 2011).

Auch heute steht die Stabilität der ökonomischen, kulturellen und politischen Systeme auf dem Spiel. Die zerstörerischen Potentiale, die der Klimawandel und die Überschreitung der Grenzen der Ökosysteme freisetzen werden, werden unweigerlich unsere heutigen sozialen Systeme grundlegend verändern. Je mehr Kraft und Mittel wir aber darauf verwenden, das Bestehende zu erhalten, umso höher wird der Schaden sein, der entstehen wird, wenn am Modernisierungsparadigma festhalten. Wir verwenden unsere Energie darauf, an einem Wirtschafts- und Lebensmodell festzuhalten, das in der Vergangenheit für viele Menschen Wohlstand gebracht hat und erkennen nicht, dass dieses Modell an seine Grenzen gestoßen ist, diese sogar bereits in einigen Fällen deutlich überschritten hat und nicht zukunftsfähig ist. Wir bauen weiterhin Kohlekraftwerke (auch in Deutschland ging 2020 ein neues Werk ans Netz), wir steigern die Zahl hochmotoriger Automobile, obwohl wir wissen, dass wir bis 2050 eine Lebensform erreicht haben müssen, die ohne Ausstoß von CO2 auskommt.

Das eigentliche Problem von Gesellschaften, deren Lebensgrundlagen gefährdet sind, fängt damit an, wie sie ihr Problem beschreiben. Ich verdeutlichen, dass die Diskussion über die Krise unserer Lebensgrundlagen von einer, in mehrfacher Hinsicht ungenügenden Problembeschreibung ausgeht. Aus einer historischen Perspektive lässt sich vermuten, dass Gesellschaften ihre Probleme immer so beschreiben, dass sie sie mit dem Instrumentarium, über das sie verfügen glauben lösen zu können. Die Vorstellung, dass Probleme das Lösungsrepertoire einer Gesellschaftsformation überfordern könnten, scheint das kollektive Reflexionsvermögen von Gesellschaften zu übersteigen. Um mich einer aus meiner Sicht angemessenen Problemdefinition anzunähern, werde ich darlegen, was an der aktuellen Problembeschreibung mit Bezug auf die ökologischen Krisen unzureichend ist.

II.

Warum Klimaschutz nicht ausreicht?

Probleme sind durch ihre Unbestimmtheit geprägt. Sie verlangen nach einer Lösung. „Ein Problem tritt dort auf, wo bestimmte Handlungsabläufe ins Stocken geraten, Interpretationen fehlgehen, uns das, was wir tun und wollen, nicht mehr gelingt oder das, was wir geglaubt haben zu verstehen, unverständlich und inkonsistent wird“ (Jaeggi, Rahel, 2014, S. 201).

Die Moderne lässt sich mit Oliver Marchart als ein Dispositiv beschreiben, mit dem die „Zonen der Ungewissheit“ enorm ausgedehnt worden sind. Insofern bezeichnet Marchart die Moderne als „Ungewissheitsgewissheit“ und als „strukturell krisenhaft“ (Marchart, Oliver, 2013, S. 28,31). Insofern gehören Probleme und die Notwendigkeit, neue Lösungen zu finden und dadurch Veränderungen ins Werk zu setzen, zum Grundprinzip des modernen Fortschritts.

Die ökologische Krise stellt unzweifelhaft ein solches Problem dar. Wir stoßen heute zu viel klimaschädliche Emissionen aus, als mit Blick auf das Klima gut ist. Wir verbrauchen zu viel Fläche, wir leiten zu viel verunreinigtes Wasser in unsere Flüsse und Seen ein, wir plündern die Regenwälder, etc. Die dadurch auftretenden Probleme lassen sich nicht im Rahmen der kontingenten Fortschrittserfahrungen verorten, mit denen die Freiheitsspielräume der Menschen im Selbstverständnis permanent erweitert werden sollten. So konnte jede Veränderung gewohnter Bedingungen in der Vergangenheit mit einer Erweiterung der Segnungen des humanen Fortschritts legitimiert werden. Veränderungen waren mit positiven Verheißungen verbunden, es sollte alles nur besser werden.

Dieses Versprechen wird bei den notwendigen Eingriffen aufgrund des Klimawandels und anderer Schäden an den Ökosystemen unhaltbar. Zwar wird auch hier argumentiert, dass durch die ökologische Modernisierung Wohlstandsgewinne eingefahren werden können und neue Wachstumsimpulse entstehen, die Arbeitsplätze sichern und neue schaffen sollen. Aber überzeugend wirkt das alte Fortschrittsnarrativ immer weniger. Es lässt sich kaum mehr verbergen, dass mit den Maßnahmen des Klimaschutzes die Folgen unseres Fortschrittsmodells beseitigt werden müssen und dass diese mit Wohlstandseinbußen einher gehen werden. Systemische Lernblockaden verhindern aber, den anthropogenen Klimawandel zum Anlass für mehr zu nehmen als nur zu einer „reflexiven Modernisierung“ (Ulrich Beck).

Was ist eigentlich das Problem?

Blickt man auf die jüngere Diskursgeschichte zur ökologischen Krise, so kann man sie mit Timmo Krüger als eine Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über das Problemgebiet lesen (Krüger, Timmo, 2013). „Probleme sind interpretationsabhängig,“ stellt Rahel Jaeggi fest. „Probleme müssen zu Problemen immer erst gemacht werden. Sie müssen als Probleme aufgefasst und interpretiert werden, und die Art der Interpretation prägt die Möglichkeiten der Lösung“ (Jaeggi, Rahel, 2014, S. 208, 209).

Grundsätzlich stellt sich bei gesellschaftspolitischen Problemen stets die Frage, wie im Rahmen des politischen Diskurses die Grenzen gezogen werden zwischen dem, was als Problem anerkannt und was aus der Problemsicht ausgeschlossen wird. Dabei besteht das Interesse der hegemonialen Kräfte darin, aus dem Problem keinen antagonistischen Konflikt erwachsen zu lassen. Deshalb versuchen sie, das Problem so einzugrenzen, dass es innerhalb der bestehenden Strukturen und weitgehend mit den Mitteln, die innerhalb dieser Strukturen entwickelt werden können, lösbar ist. Dieser Ansatz einer inkrementellen Lösung, im Unterschied zur Transformation ist kennzeichnend für den Umgang mit der aktuellen Krise der modernen Naturbeziehungen.

Die weit verbreitete und offizielle Sichtweise des Problems lautet wie folgt: Die Erderwärmung und die dadurch ausgelösten dynamischen Veränderungen der klimatischen Prozesse drohen die Lebensbedingungen der Menschen in Teilen der Erde dauerhaft zu verschlechtern, wenn wir nichts unternehmen. Die Ursache für die Entwicklung wird in der Emission von Kohlendioxyd seit Beginn der Industrialisierung gesehen. Die Verbrennung von fossilen Energieträgern, aber auch Emissionen aus anderen Quellen (Methan) werden schon bald die Aufnahmefähigkeit der Senken, insbesondere der Atmosphäre und der Wälder überschreiten. Die politische Folgerung daraus lautet: Die Welt muss die Nettoemissionen bis 2050 auf Null bringen, damit der Anstieg der Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem Zeitpunkt vor Beginn der Industrialisierung begrenzt werden kann.

Mit der Problembeschreibung für den Klimawandel wird bereits eine Erklärung der Ursachen mitgeliefert: Wir setzen zu viel CO2 frei. Folglich, so die Lösung, müssen wir diese Praxis beenden, Kohlekraftwerke abschalten, Ölheizungen aus den Wohnungen verbannen, fossile Automobile ersetzen, die Wohnungen energetisch sanieren und – ja vielleicht auch noch weniger Plastik und klimaschädliche Lebensmittel verbrauchen. So in etwa sehen die Lösungen aus, die im öffentlichen und politischen Raum erörtert werden. Über die Lösungen besteht weitgehend politischer und gesellschaftlicher Konsens. So bleibt nur noch streitig, wie schnell die Maßnahmen umgesetzt werden und wann wir „klimaneutral“ sind. Timmo Krüger spricht davon, dass der Diskurs auf die „nichtintendierten Nebenfolgen“ der Strategie der modernen Naturbeherrschung und deren Bearbeitung reduziert wird (Krüger, Timmo, 2013). Diese Nebenfolgen sollen berechenbar gemacht werden. Das Ziel der Naturbeherrschung wird nicht in Frage gestellt, sondern diese soll rationaler organisiert werden, um die Nebenfolgen zu mindern. Klimaschutz, Energiewende und Ressourceneffizienz werden als Managementprobleme formuliert und damit soll die Gefahr eines antagonistischen Konflikts über unser Wirtschaftssystem vermieden werden.

Für die Lösung des grundlegenden Problems ist damit nicht viel gewonnen. Anstelle einer grundsätzlichen Transformation wird die Aufgabe nämlich weitgehend auf den Umbau des Energiesystems und die Entwicklung neuer Antriebsformen für Autos eingeschränkt. Ist man sich parteiübergreifend erst einmal darin einig, dann verlagert sich der Streit in der Klimapolitik auf Ausstiegstermine aus der Kohleförderung (2030 oder 2038), die Höhe der CO2-Bepreisung oder das Tempo des Ausbaus von Ladesäulen für Elektroautos. Damit sind jedoch nur die technischen und politischen Aufgaben beschrieben: Technisch ist der Umstieg auf ein regeneratives Energiesystem ein grundsätzlich lösbares Problem. Die fundamentalen Fragen der Naturbeherrschung und – vernutzung durch unsere Wirtschafts- und Lebensformen bleiben aber ausgeklammert.

Viel grundsätzlicher ist der zweite Einwand: Durch die spezifische Problemsicht wird das Spektrum der möglichen Lösungen begrenzt. Die Problemdefinition bestimmt das Feld der möglichen Optionen, die miteinander konkurrieren. Möglichkeiten, die sich außerhalb des Spielfelds befinden, werden erst gar nicht diskursfähig; ihre möglichen Lösungen bleiben unerörtert. Insofern ist die Definition eines Problems so wichtig. Nur so besteht eine Chance, eine bestimmte Alternative überhaupt ins Spiel zu bringen. Mit anderen Worten: Wenn es nicht gelingt, den Fokus so auf das Problem zu richten, dass auch die Tiefenstrukturen und die Kontexte sichtbar werden, wird ein grundsätzlicher Streit um die richtige Lösung überhaupt nicht möglich.

Die Deutungs- und Handlungsmuster, die sich im Diskurs über den Klimawandel durchgesetzt haben, haben zu einer Entthematisierung des Prinzips der absoluten Naturbeherrschung geführt. Auf diese Weise ist es gelungen einen möglichen antagonistischen Konflikt zu entschärfen. Bei der „Problemlösung“ geht es machtpolitisch darum, Unstimmigkeiten zu beheben und Stimmigkeit wieder herzustellen. Es werden neue „Gewissheitsformeln“ entwickelt (Marchart, Oliver, 2013, S. 29), die das zwischenzeitlich gestörte Einvernehmen zwischen den Menschen und dem System wieder herstellen. Dabei wird von der Hintergrundannahme ausgegangen, dass der Rahmen, in dem diese Probleme entstanden sind, für das Problem selbst irrelevant ist. Eine Lösung des Problems, so die unreflektiert bleibende Annahme, ist innerhalb des gegebenen ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmens möglich.

Mittlerweile gibt es keinen Streit mehr darüber, ob wir Umwelt- und Klimaschutz brauchen. Damit hat sich aber das Diskursfeld und auch die Rolle der einzelnen Akteure verschoben. Wenn Umweltaktivisten nicht mehr überzeugen müssen, dass Klimaschutz notwendig ist, wendet sich der Diskurs der Frage zu, wie dieser erfolgen soll. In dieser Debatte gibt es eine Vielzahl von Akteuren, die klären müssen, worüber sie eigentlich streitig sind. Haben sich die Akteure erst einmal darauf verständigt, dass das Thema Klimaschutz doch bitte ohne Ideologie diskutiert werden soll, folgt als nächstes die Aufforderung, nur solche Vorschläge zu präsentieren, die seriös, realistisch und bezahlbar sind.

Ist der Diskussionsrahmen erst einmal so gesetzt, setzen sich Konzepte durch, deren Ziel es vor allem ist, dass alles so bleibt, wie wir es gewohnt sind, nur etwas anders. Was macht es für unseren Alltag schon für einen Unterschied, ob wir künftig mit Autos fahren, die mit Strom betrieben werden oder mit Diesel? Und der Strom kommt ohnehin aus der Steckdose, egal ob er von einem Windpark an der Nordsee oder von einem Braunkohlekraftwerk im Rheinland erzeugt worden ist. Die Plastiktüte beim Discounter können wir verschmerzen und als ordentliche Menschen trennen wir ohnehin unseren Müll.

Das „Problem Klimawandel“ wird auf eine Weise kleingearbeitet, so dass die Veränderungen im Rahmen unseres ökonomischen und gesellschaftlichen Systems und unserer Lebensformen bewältigt und akzeptiert werden können. Großzügige Übergangsfristen und staatliche Unterstützung für die Verlierer des Umbaus unseres Energiesystems sollen den Wandel für alle erträglich machen.

Damit folgt der hegemoniale Diskurs über den Umgang mit der ökologischen Krise dem Muster der Bearbeitung der sozialen Frage. Die „soziale Frage“ der Ausbeutung von Arbeitskraft wurde im 19. und 20. Jahrhundert zu einer Aufgabe für den Arbeitsschutz, den Sozialstaat und technologischen Fortschritt umgeformt. Die Arbeiter wurden mit dem Kapitalismus mit der Verheißung versöhnt, der technologische Fortschritt und Wachstum würden die Arbeit leichter machen und „Wohlstand für Alle“ ermöglichen. Die Legitimationsfigur des sozialen Fortschritts wird heute ersetzt durch den ökologischen Fortschritt. Die Erzählstruktur ist die gleiche. Was können wir bereits aus dieser Darstellung hinsichtlich des Umgangs mit dem „Problem“ erkennen?

Erstens: Das Problem der ökologischen Krise der modernen Naturbeziehungen wird als Umweltproblem isoliert und von den gesellschaftlichen Strukturen und den Machtfragen getrennt, so dass diese unthematisiert bleiben.

Zweitens: Die umfassende Krise unserer Naturbeziehungen wird auf den Klimawandel eingeengt.

Drittens: Dieser wird auf Symptome reduziert, von denen man annimmt, sie technologisch innerhalb der bestehenden Strukturen und Interessen bearbeiten zu können. Den Schwerpunkt bildet dabei die Transformation des Energiesystems. Dies hat den Vorteil, dass die Lebensformen der Menschen kaum tangiert werden.

Viertens: Problemlöser sind Technik und Wirtschaft, Ingenieure und Unternehmer.

Fünftens: Die politische Auseinandersetzung wird eingegrenzt auf das Tempo der Modernisierung des Energiesystems und die Frage, wie die Verlierer entschädigt werden sollen.

Sechstens: Gegenüber den Gründen, warum es überhaupt zu einer Entwicklung gekommen ist, die nun durch den Umbau des Energiesystems und anderer Maßnahmen „bearbeitet“ werden muss, verhält sich das politisch-ökonomische System opak.

In der aktuellen politischen Diskussion zu den ökologischen Problemen findet auf diese Weise eine problematische Verkürzung der Ursachen für die Gefährdung der menschlichen Lebensgrundlagen statt. Neben dem Ziel der Begrenzung der Erderwärmung gemäß den Vereinbarungen von Paris (2015) spielen andere Gefährdungen der Lebensgrundlagen (Artenschutz, Meeresverseuchung, die Übernutzung des Bodens, etc.) politisch nur eine untergeordnete Rolle, obwohl sie für das Leben auf der Erde und das Erdsystem ebenso wichtig sind.

Die Verkürzung der Debatte auf die Klimaerwärmung führt auch dazu, dass sich die politischen Maßnahmen auf die CO2- Reduzierung konzentrieren. Für das Artensterben, das seinerseits zu gravierenden ökologischen und ökonomischen Schäden führz, ist der Klimawandel aber nur einer von mehreren Ursachen. Viel folgenreicher ist die Zerstörung von Lebensräumen durch Abholzung der Wälder, der steigende Flächenverbrauch durch die Agrarindustrie und die Versiegelung der Landschaft sowie die Übernutzung der Meere und der Wälder. Auch die zunehmende Umweltverschmutzung, z.B. der Meere durch Plastikmüll, führt zum Aussterben von Arten. Damit wird sichtbar, dass ein Umbau unseres Energiesystems zur Reduzierung der Schadstofflasten zu kurz greift. Die gesamte Wirtschafts- und Lebensweise muss grundlegend verändert werden, wenn dem dramatischen Artensterben Einhalt geboten werden soll.

Mehrheitsfähig scheint eine Politik zu sein, die die Zumutungen für die Wirtschaft und die Konsumenten möglichst geringhält, vor allem aber unsere moderne Produktions- und Lebensweise unangetastet lässt und vielleicht sogar dem siechen Kapitalismus einen neuen Wachstumsimpuls schenkt. Dem entsprechend konzentrieren sich die Vorhaben auf dem Gebiet des Klimaschutzes auf den Wandel des Energiesystems.14 Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass sich der Klimawandel mit den Mitteln des modernen Kapitalismus lösen lässt: Technischer Fortschritt, Wachstum und marktwirtschaftliche Mitteln.

Die Strategie der Energiesubstitution kann möglicherweise zur Erreichung der CO2-Ziele Deutschlands im international vereinbarten Umfang führen, wenn der Umstieg auf regenerative Energie ambitionierter umgesetzt wird, als bisher beschlossen. Global wird auch das nicht reichen, da die Strategie der Externalisierung ökologischer Lasten bisher nicht beendet wird. Bereits seit Jahren lagern europäische Unternehmen Teile ihrer „dreckigen“ Produktion in andere Teile der Welt aus, um ihre Klimabilanz zu reinigen. Auch die globalen Lieferketten, die einen hohen Logistikaufwand verursachen, verbrauchen Energie, für die kein adäquater regenerativer Ersatz zur Verfügung steht. Viele setzen auf die Wunderwaffe „Wasserstoff“, der sowohl den künftigen Energiebedarf der Industrie wie auch des Luftverkehrs und der Automobile decken soll. Der gigantische Landbedarf für die Erzeugung von regenerativer Energie für die Elektrolyse, die schlechte Energiebilanz bei der Herstellung und offene Transportfragen werden meistens unterschlagen. Die aktuelle Debatte über die „Lösung“ der Klimafragen weist also eine Reihe blinder Flecken auf.

Für die Lösung anderer ökologischer Krisen (Zerstörung der Biodiversität, der Meeresfauna, der Böden, etc.), die durch die Art unserer Ernährung und der industriellen Produktion von Lebensmitteln bedingt sind, fallen die politischen Konzepte eher spärlich aus. Die industrielle Produktion von fleischbasierten Lebensmitteln wird weiterhin – bisher ungebremst – zur Vernichtung von Regenwäldern, den Rückgang der Artenvielfalt und zu Monokulturen führen, Entwicklungen, die ihrerseits erheblichen Einfluss auf das Klima haben.

Das oberste Ziel der Umweltpolitik scheint darin zu bestehen, den Lebensstil der heutigen Generation im nördlichen Teil der Erde weitgehend ungeschmälert zu sichern und durch ergänzende Maßnahmen der Klimaanpassung das Leben in den nächsten Jahrzehnten einigermaßen erträglich zu gestalten. Für den Rest der Welt, der heute bereits stärker unter den Klimaveränderungen und der Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen leidet als wir, gilt dieser Trost nicht. Er gilt auch nicht für künftige Generationen in unseren Breiten oder für junge Menschen, die den Großteil ihres Lebens noch vor sich haben.

Wenn wir die Mehrfachkrise unseres Ökosystems grundlegend lösen wollen, müssen wir als erstes den Blick über die Frage der Erderwärmung und die Erreichung des 1,5 Grad-Ziels hinaus auf den Zustand aller für unser Leben wichtiger planetarischer Grenzen erweitern. Eine Politik, die nicht das Ganze in den Blick nimmt, wird die ökologische Krise, die als Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse der Moderne begriffen werden muss, nicht lösen können.

Eine weitere Reduktion des Problems, die in Kreisen der Klimaschützer weit verbreitet ist, ist die Beschränkung unserer Sorge auf das System der Erde, wie es zum Beispiel Bruno Latour macht (Latour, Bruno, 2017); (Latour, Bruno, 2018). Die Natur wird bei ihm auf die Erde reduziert. Die Erde ist aber eingebunden in eine „sich selbst regulierende Ganzheit, deren Soll gerade darin besteht, den schmalen Spielraum im Spektrum der vielen Zustandsparameter (Durchschnittstemperatur, Zusammensetzung der Atmosphäre etc.) offenzuhalten, der auf der Erde – und das heißt hier: von der Tiefe des Meeres bis zu den niederen Schichten der Atmosphäre – Leben ermöglicht“ (Böhme, Gernot, 2019, S. 18).

Aus der Diskussion über den Umgang mit dem „Klimaproblem“, möchte ich festhalten, dass bereits die Identifikation des Problems darauf ausgerichtet ist, das „Problem“ möglichst eng zu definieren, um dessen Lösung innerhalb des geltenden ökonomisch-technischen, kulturellen und politischen Rahmen zu verorten. Diese hegemoniale Form der Problembeschreibung und „Problemlösung“ entspricht der Logik von Systemen, die ihre Fähigkeit der Selbstreflexion verloren haben und denen es primär um die Erhaltung von Macht geht. Wenn sich das „Problem“ schon nicht lösen lässt, so können die neuen „Gewissheitsformeln“ zumindest das Einvernehmen der Menschen mit dem gesellschaftlichen System aufrechterhalten. Denn darum geht es den Verteidigern der herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse mindestens genau so sehr, wie um den Erhalt der ökonomischen Grundlagen für die Fortsetzung ihres Wirtschaftsmodells. Die Herrschenden wissen sehr genau, dass nichts gefährlicher für ihre Macht ist, als wenn die Zeichen der Sicherheit verschwinden und an ihre Stelle keine neuen Gewissheiten treten. Da wir in einer Zeit der Verdichtung von Unsicherheitserfahrungen leben, ist alles möglich.15

Gut begründete Ansätze, das bestehende System zu transformieren, weil seine Mechanismen die Ursache für die Probleme darstellen, nehmen im öffentlichen Diskurs, selbst innerhalb der Klimaschutzbewegung leider nur eine marginale Position ein, die darüber hinaus ohnehin kein Gehör findet. Dieser Tatbestand ist der Schwäche der kritischen Gesellschaftsanalyse geschuldet. Systemkritisches Denken und systemtranszendierende Ansätze fehlen oder finden keine Resonanz. Dieser Mangel erweist sich angesichts der Systemkrise als ein lebensbedrohliches Manko.

III.

„Wir haben gerade andere Sorgen“

Das Eurobarometer der Europäischen Kommission befragt regelmäßig die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsstaaten zu den wichtigsten politischen Fragen. Beim Thema Klimaschutz geben in der Regel ca. 90 Prozent an, dass es sich dabei um ein wichtiges oder sogar sehr wichtiges Thema handelt. Auf die Frage, nach den wirksamsten Maßnahmen zur Bekämpfung von Umweltproblemen wurden im März 2020 am häufigsten die folgenden Lösungen genannt: „Änderung unserer Verbrauchsgewohnheiten“ (33%) und „Änderung der Art und Weise, wie wir produzieren und Handel treiben“ (31%). Vier von fünf Antwortenden (80%) sind der Auffassung, dass die Großunternehmen und die Industrie nicht genug für den Umweltschutz tun, und rund zwei Drittel (67%) vertreten die Meinung, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr tun könnten.16 Die Diskrepanz zwischen der allgemeinen Bedeutung, die Menschen dem Klimaschutz beimessen und der Bereitschaft, grundlegende Änderungen zu befürworten, ist genauso interessant, wie die Bewertung des Verhaltens der Industrie. Warum ist das so?

Der Alltag der meisten Menschen besteht darin, Anforderungen zu erfüllen: Den Kindern das Frühstück machen, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, von Unterwegs noch schnell einen Friseurtermin vereinbaren, nach der Arbeit den Einkauf erledigen, sich um die kranke Mutter kümmern, den Sohn vom Fußballtraining abholen, rechtzeitig das Essen auf den Tisch bringen, den Urlaub buchen. Die tägliche To-do-Liste der Menschen ist im Laufe der Zeit immer länger geworden, der Alltag und der Beruf stressen. Sie rauben uns die Zeit und die Energie – und wenn noch etwas davon da ist, dann wollen wir ein bisschen Spaß haben. Wer will uns das verdenken.17

Das ändert sich auch nicht, wenn in Moskau das Ende der Sowjetunion ausgerufen wird, in USA eine Bank Pleite macht oder am Nordpol ein Eisberg schmilzt. Das Leben geht weiter, unsere Wahrnehmung wird nur kurzfristig von den Ereignissen in Anspruch genommen, die im Jahresrückblick als historisch eingestuft werden. Für unseren Alltag haben sie wenig Bedeutung. Da ist der Ärger mit den schlechten Zensuren des Sohnes wichtiger und die Freude auf das Wochenende größer als die Ereignisse in fernen Ländern.

Auch die Medien funktionieren nach dem Schema „aktuell vs. veraltet“, „kurzfristig vs. langfristig“ und „sichtbar vs. unsichtbar“ (Leggewie, Claus; Welzer, Harald, 2011, S. 140). Erst wenn Ereignisse für unseren Alltag relevant werden, d.h. aktuell und sichtbar unsere Lebensroutinen irritieren, müssen wir uns mit ihnen im Modus der Problembewältigung beschäftigen.. Warum sollte ich mich also vorher damit befassen, wo ich doch mit anderen drängenden Problemen ohnehin genug am Hals habe? Die Klimaentwicklungen haben die fatale Eigenschaft, dass wir es heute mit den Folgen von Entscheidungen zu tun haben, die vor fünfzig Jahren getroffen worden sind. Und was die Zukunft betrifft, so führen heutige Verhaltensänderungen und systemische Transformationen nur dazu, dass unser heutiges Komfortniveau beeinträchtigt wird. Ob wir aber jemals noch zu Lebzeiten eine Änderung des Klimas erleben werden, ist doch mehr als unwahrscheinlich. Moralisch mag man solche Überlegungen kritisieren, aber sie folgen dem utilitaristischen Kalkül, das dem Menschen rät, seinen Nutzen zu maximieren.

Aus diesem Kalkül folgt für viele Menschen, dass die Klimaentwicklung für sie keine sinnvolle Handlungsrelevanz besitzt. Ihr Handeln findet in der Gegenwart statt. Was in Zukunft ist, weiß doch niemand. „In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart“ (Leggewie, Claus; Welzer, Harald, 2011, S. 95).

Zeiterfahrung spielt auch eine Rolle, so Claus Leggewie und Harald Welzer, ob wir ein Phänomen unserer Wahrnehmung überhaupt als problematisch bewerten. Wer noch nie Winter mit einer geschlossenen Schneedecke erlebt hat, wird schneelose Winter in unseren Gegenden nicht als Problem ansehen. Diese „shifting baselines“ führen dazu, dass eine Veränderung nicht mehr als Verlust wahrgenommen wird und dass wir uns daran gewöhnen, dass die Winter eben milder sind und Schneefall zur Besonderheit geworden ist, dessen Bilder wir dann auf Facebook posten.

Shifting Baselines“ folgen einer Zeitstruktur, die den Veränderungen des Klimas nicht unähnlich ist. So erklärt sich, dass Entwicklungen, die wir beim Blick auf die nähere und fernere Zukunft heranzoomen, in der Lebenserfahrung der Menschen selbst nicht als dramatisch wahrgenommen werden. „Shifting Baselines“ folgen dem bekannten Experiment mit dem Frosch: Victor Hutchinson von der amerikanischen University of Oklahoma hat Frösche in einen Topf mit Wasser gesetzt, dessen Temperatur pro Minute um ein Grad erhöht wurde. Einige Zeit sind die Reaktionen des Frosches unspektakulär. Nach einer gewissen Dauer zeigt das Tier dann Zeichen von Hitzestress, und es kommt zu muskulären Spasmen. Diesen Punkt, der schon bei einer Temperatur von unter 40 Grad erreicht werden kann, nennt man auch das "kritische thermale Maximum" – wird das Wasser noch wärmer, dann kommt es zur Hitzestarre.

Klimakatastrophen, Finanzkrisen, Epidemien, etc. sind zu groß für unsere Vorstellungswelt. Was soll eine „Metakrise“ unserer Zivilisation sein? Solche Bezeichnungen überschreitet das Abstraktionsvermögen der meisten Menschen. Erst wenn eine Epidemie dazu führt, dass ein Familienangehöriger mit dem Corona-Virus infiziert worden ist, treffen sich die abstrakte Welt der Großkrisen und der konkrete Lebensraum des Einzelnen. Solange der Strom noch aus der Steckdose kommt und an der Zapfstelle das Benzin verfügbar ist, bleibt auch die ökologische Krise für viele Menschen eine Erzählung aus einer fernen Welt. Erst wenn die Regenmassen das eigene Haus wegspülen, wird Klimawandel konkret.

Natürlich gelten diese Bemerkungen nicht für alle Menschen. Wir sind durchaus in der Lage, mit Hilfe unseres Verstandes abstrakte Risiken zu erkennen. Wir können unser Leben auch auf selbstgesetzte Ziele hin verändern. Allerdings verlangt dies ein bestimmtes Maß an Selbstreflexion. Solange Menschen ihre Kraft hauptsächlich zur Erhaltung ihrer materiellen Bedingungen und ihres sozialen Status verwenden müssen, wird ihnen die Erderwärmung um 3 Grad im Jahre 2100 ziemlich gleichgültig sein.

Auch unser Zukunftsbewusstsein ist gering ausgeprägt. Insbesondere fehlt es uns an der Kraft, uns komplexe Zukünfte vorzustellen. Wir können uns zwar ein Bild davon machen, wie aus einem Plan ein Haus wird, wie der Garten, den wir anlegen einst blühen wird – aber wir können uns kein Bild machen, wie eine nachhaltige Welt aussehen wird.

Den meisten Menschen gelingt es auch nicht, Ereignisse, die später von Historikern und Politikern als historisch eingeordnet werden, vorherzusehen, auch wenn sie sich im Nachhinein angedeutet haben. Das ist nachweislich bereits so bei der Französischen Revolution gewesen. Noch am Vorabend konnte sich kaum jemand vorstellen, dass am nächsten Tag alles anders sein würde, wie Dokumente von Zeitgenossen belegen (Pernoud, George; Flaissier, Sabine (Hg.), 1983). Auch nur wenige Experten haben den Fall der Mauer, den Zusammenbruch der Sowjetunion oder des Weltfinanzsystems 2007 vorhergesagt

Wir sind mit „Apokalypseblindheit“ geschlagen, schreiben Claus Leggewie und Harald Welzer in ihrem Buch „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“ (Leggewie, Claus; Welzer, Harald, 2011). Wir glauben nicht was wir wissen. Wir schützen uns vor unseren Erkenntnissen. Und wenn wir es glauben, dann weigern wir uns, den Bezug zu unserem Leben herzustellen. Auch das ist eine verständliche Reaktion des Menschen. So wissen wir aus Statistiken, dass alle 70 Sekunden ein Mensch in Deutschland verunglückt. Aber ich doch nicht! Diese Dissonanz gehört zu unseren menschlichen Dispositionen, die wir brauchen, um nicht verrückt zu werden.

Auch wenn Klimathemen seit vielen Jahren in den Medien häufig präsent sind, so streifen Informationen über die Entwicklung des Klimas unseren Wahrnehmungshorizont in der Regel dennoch nur kurz. Unsere Aufmerksamkeit wird durch die alltäglichen Sorgen und Aufgaben bereits stark genug in Anspruch genommen. Die Dominanz des Alltages ist auch der Grund dafür, warum es uns so schwerfällt, unser Einkaufs- und Mobilitätsverhalten zu ändern. Klar weiß ich, dass es besser wäre, mit der Bahn zur Arbeit zu fahren als mit dem eigenen Auto. Aber ich habe genug Gründe es dennoch zu tun: Manchmal wird es morgens knapp, auf dem Rückweg kann ich gleich noch den Wochenendeinkauf machen, in der Bahn ist manchmal so schlechte Luft, es ist Regen angesagt, etc. Oder beim Einkaufen: Ich habe gar nicht die Zeit, mir das Kleingedruckte auf der Packung anzusehen und ob das wirklich Bio ist, weiß man auch nicht, also bleibe ich bei den gewohnten Waren. Unsere hektische Lebensweise auf der Überholspur ist ein wichtiger Grund, warum wir dann das tun, was uns am einfachsten, schnellsten und unkompliziertesten erscheint. Das ist aber gerade das, was das klimaschädliche Konsum- und Lebensmodell der Warengesellschaft, der Automobilität und der industriellen Ernährung vorgibt. Als Gejagte einer Beschleunigungsgesellschaft fehlt es uns an Zeit und Kraft, diese zur Gewohnheit gewordene Konditionierung zu durchbrechen. Wir haben gar nicht die Zeit, als Konsumenten souverän zu sein! Deshalb müssen politische Rahmensetzungen, z.B. für bessere Lebensmittel, Tierhaltung oder attraktive Alternativen zum Auto uns davon entlasten, permanent darauf zu achten, ja die nachhaltige Kaufentscheidung zu treffen.

Ein anderes Hindernis hat mit unserer Wahrnehmungsweise zu tun. Einen Großteil der Informationen, die uns zufliegen, lassen wir überhaupt nicht in unser aktives Bewusstsein, wir filtern die Eindrücke, die wir hören und sehen. Was wir für uns nicht relevant halten, wird nicht eingelassen. Was uns zwar wichtig erscheint, was wir aber unter „nicht zuständig“ einordnen, hakt unser Bewusstsein ab. Kaum mehr jemand bestreitet, dass die Entwicklung des Klimas ein Problem ist und dass der Rückgang der Artenvielfalt z.B. für die Landwirtschaft besorgniserregend ist. Aber was kann ich denn schon tun? Da müssten doch endlich die Politiker handeln und Glyphosat verbieten!18

Auf diese Weise erfolgt eine „Dissonanzreduktion“ zwischen meiner Einstellung und meinem Handeln. Es ist schwieriger mit dem schlechten Gefühl zu leben, dass ich etwas falsch mache, obwohl ich es eigentlich besser weiß. Ich brauche also Gründe, warum mein Verhalten dennoch vertretbar ist. So können Menschen, die ihre Stimme den Grünen geben, mit dem SUV zum Biomarkt fahren und zum Shopping nach Paris fliegen, mit Sicherheit Gründe anführen, warum dieses Verhalten für sie „stimmig“ ist. Um „Dissonanzreduktion“ geht es auch, wenn wir Probleme verkleinern, bezweifeln, was Wissenschaftler behaupten oder aber, wenn wir ein Problem für uns selbst als nicht existent oder nicht handlungsrelevant zurückweisen.

Haben wir uns eine Meinung gebildet, so neigen wir dazu, neue Informationen auf der Grundlage unseres Interpretationsrahmens zu bewerten und einzuordnen. Wenn wir z.B. davon überzeugt sind, dass die Automobilindustrie für Deutschland wichtig ist, dann fangen wir nicht an zu überlegen, wie wir unsere automobile Gesellschaft überwinden könnten. Von daher ist es so schwierig, Denkmuster und Einstellungen grundsätzlich zu ändern, wenn wir neue Informationen über einen Sachverhalt erhalten.

Das womöglich größte Hindernis, das uns davon abhält, eine Lebensform aufzugeben, die sich durch eine Maximierung der Optionen auszeichnet, hat mit unserem Freiheitsverständnis zu tun. Freiheit heißt für die meisten Menschen „Wahlfreiheit“, ohne Einschränkungen durch andere („negative Freiheit“) tun und lassen zu können, was ICH will. Eine nachhaltige Zukunft wird mit dieser Einstellung nicht zu erreichen sein.

Die verhaltenspsychologische Seite scheint mir in der bisherigen Debatte über die Notwendigkeit einer geänderten Lebens- und Wirtschaftsweise, um die ökologische Katastrophe abzuwenden zu kurz zu kommen. Wir müssen nach Gründen suchen, die Menschen veranlassen könnten, ihr Verhalten zu ändern. Zugleich müssen wir aber auch fragen, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen notwendig sind, damit eine ökologische Transformation der Lebens- und Wirtschaftsweise gelingen kann und Menschen sie gerne mitmachen, weil sie die Änderungen als Gewinn ansehen.

IV.

Droht die Apokalypse? – Oder wo bleibt das Positive?

Ich will nunmehr die mentale Ausgangsposition ansprechen, vor der diejenigen stehen, die sich ernste Sorgen um die Entwicklung unseres Planeten machen. Mit welcher Einstellung wir den Bedrohungen, die wir erwarten gegenübertreten, wird den weiteren Kurs der Klimabewegung prägen. Reden wir uns in eine apokalyptische Endzeitstimmung hinein oder finden wir einen positiven Ansatzpunkt, der Menschen motiviert, die Gesellschaft und ihr Leben entscheidend zu ändern?

Irgendwann werden die berühmten Kipp-Punkte überschritten sein und es wird eine Dynamik eintreten, die nicht kalkulierbar ist. Ereignisse wie im Sommer 2021 – Überschwemmungen, Feuersbrünste, Dürren und Ernteeinbußen – wird es in den nächsten Jahren immer häufiger geben. Die Bilder, die wir davon sehen, werden uns zum einen unsere Hilflosigkeit vor Augen führen und zugleich – jedenfalls kurzfristig – eine Diskussion über ein höheres Tempo des Klimaschutzes auslösen.

Die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn hat davon gesprochen, dass wir im Anthropozän ein anderes Katastrophendenken ausbilden müssen als in früheren Gesellschaften. Wir kennen die Szenarien, die wahrscheinlich eintreten werden, aber dennoch können wir uns im Rahmen unserer individuellen Handlungskompetenzen darauf nur schwer vorbereiten. Vor allem erscheinen sie uns nicht als so glaubwürdig, dass sie neben unserem Wissen tieferliegende Handlungsmotivationen ansprechen. Sie gelten bei vielen Menschen als Prophezeiungen. Man sollte sie glauben, aber löst Glauben ein Handeln aus?

Was sich in der Kakophonie der – zwar bekannten, aber nicht als ‚real‘ angenommenen – Desasterszenarien am Ende durchsetzt, ist exakt das Prinzip des ‚weiter so‘, ein Versuch, die Gegenwart endlos in die Zukunft hinein zu verlängern“ (Horn, Eva, 2020, S. 143). Die Imaginationskraft zu entwickeln, um solche Szenarien nicht nur zu „denken“, sondern sie auch in Handlungskraft und konkrete Veränderung auf der persönlichen und gesellschaftlichen Ebene umzusetzen, wird uns aber angesichts der ökologischen Krise abverlangt. Aber sind Katastrophenszenarien die richtige Strategie, um die Menschen zum Handeln zu motivieren? Aber was motiviert uns unser eigenes Verhalten zu ändern und politisch zu handeln?

Die Einwände, die in der Diskussion über Umwelt- und Klimaschutz immer wieder vorgebracht werden, sind bekannt: Was kann ich schon tun? Was ist überhaupt richtig? Ist es nicht schon zu spät? Wie können wir– einzeln und als Gesellschaft – angesichts einer „komplexen Katastrophe ohne Ereignis“ (Eva Horn) angemessen handeln? Müssen wir lernen, bei allem was wir tun vom „worst case“ auszugehen, wie Francois Ewald vorgeschlagen hat (Ewald, Francois, 1993). Oder müssen unsere Gesellschaften eine „Heuristik der Furcht“ (Hans Jonas) hervorbringen oder die Haltung eines „aufgeklärten Katastrophismus“ erlernen (Jean-Pierre Dupuy)? Und was wäre das?

Der Bestsellerautor David Wallace-Wells hat in seinem Buch mit dem Titel „Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erderwärmung“ auf der Grundlage der Klimamodelle das folgende apokalyptische Zukunftsszenario beschrieben: „Bei zwei Grad begännen die Eisschilde zu verschwinden, 400 Millionen Menschen würden an Wassermangel leiden, die Großstädte rund um den Äquator würden unbewohnbar und selbst in den nördlichen Breitengraden würden Hitzewellen jeden Sommer Tausende Menschen das Leben kosten. Es gäbe 32-mal so viele extreme Hitzeperioden in Indien wie heute, von denen jede einzelne fünfmal so lange andauern würde und die insgesamt 93-mal so viele Menschen beträfen. Das ist das Best-Case-Szenario. Bei drei Grad würde Südeuropa dauerhaft verdorren, während die durchschnittliche Trockenheit in Mittelamerika 19 Monate und in der Karibik 21 Monate länger andauern würde. In Nordafrika wären es 60 Monate mehr – fünf Jahre. Im Mittelmeerraum würde doppelt so viel Fläche Waldbränden zum Opfer fallen, in den USA sechsmal so viel oder noch mehr. Bei einer Erwärmung um vier Grad…“ (Wallace-Wells, David, 2019, S. 23)– Ich breche seine apokalyptische Schilderung unserer dystopischen Zukunft an dieser Stelle ab. David Wallace-Wells ist Kolumnist beim New York Magazine, seine Beiträge und das Buch, aus dem dieses Zitat stammt, haben Millionen Leser gefunden. Die von ihm plastisch geschilderten Konsequenzen der Erderwärmung sind wissenschaftlichen Studien entnommen und im Anhang nachgewiesen. Er berichtet nach all dem, was wir heute wissen von einer wahrscheinlichen Zukunft.

Nehmen wir an, alles was Wallace-Wells beschreibt, würde tatsächlich eintreten, wenn die Klimaziele, die die Staaten 2015 in Paris vereinbart haben, nicht erreicht würden. Nehmen wir weiterhin an, dass sich die Zukunft des Jahres 2100 tatsächlich so exakt vorhersagen ließe, was würde das für jeden Einzelnen von uns heute bedeuten? Was kann ich als Einzelner tun, damit dieses Szenario nicht Wirklichkeit wird? Kann ich überhaupt etwas tun?

Nach mehr als hundertfünfzig weiteren Seiten räumt David Wallace-Wells ein, dass „das Ausmaß der Bedrohung durch den Klimawandel … so gewaltig (ist), dass wir reflexartig den Blick davon abwenden, wie beim Blick in die Sonne“. Und er fügt hinzu: „Die Dimension des Problems, sein allumfassendes Wesen, der vermeintliche Mangel an existierenden Alternativen und die Verlockungen der kurzzeitigen Vorteile – das sind die Bausteine der seit Jahrzehnten unterschwellig geführten Argumentation“ (Wallace-Wells, David, 2019, S. 187).

David Wallace-Wells hat damit das Dilemma beschrieben, in dem die Klimabewegung steckt: Die dystopischen Bilder der Zukunft der Erde sind so übermächtig, dass sie uns paralysieren. Sie führen in eine Falle, weil man gegenüber der Apokalypse als Einzelner machtlos ist. Angesichts der titanischen Leistung, der es bedürfte, um diese Menschheitskatastrophe abzuwenden, bräuchte es Helden, Titanen, Götter. Dem Einzelnen als kleinem Menschenwurm bleibt nur, entweder das Problem zu leugnen, es zu verdrängen, zynisch und mit einem Glas des besten Rotweins die Menschheitsdämmerung zu erwarten – oder aber auf eine imaginäre Rettung zu hoffen.

Ein zweiter Grund, warum dieses apokalyptische Klimanarrativ problematisch ist, hat damit zu tun, dass der Einzelne zu einem Handeln aufgefordert ist, dessen Effekte auf das Klima keine spürbare Auswirkung haben wird. Sie sind so verschwindend gering, wie der Versuch mit einem Löffel das Wasser aus einem sinkenden Ozeandampfer zu schöpfen.

Aber, so der Einwurf der Klimabewegung, was wäre, wenn viele Menschen ihr Verhalten ändern, ihren Konsum einschränken und so leben würden, dass sie nur noch acht Tonnen Ressourcen im Jahr, statt heute vierzehn Tonnen benötigen? Jeder könnte seinen Fleischkonsum von heute 60 kg pro Jahr in Deutschland auf den Sonntagsbraten reduzieren. Wenn es tatsächlich gelänge, die Dekarbonisierung der Welt bis zum Jahr 2050 – oder sogar früher – zu erreichen, würde die Erderwärmung bis zur Jahrhundertwende gegenüber dem Beginn der Industrialisierung gleichwohl von heute + 1,2 Grad Celsius auf dann etwa 1,5 bis 1,8 Grad ansteigen. Das wäre deutlich weniger, als die 3-4 Grad, die erwartet werden, wenn der Klimaschutz weiterhin nur halbherzig betrieben wird. Das wäre ein Erfolg!

Warum aber sollten die Bewohner der nördlichen Hemisphäre, als Bürger eines Landes mit funktionierenden Institutionen, als Gutverdiener, die sich stolz „Reiseweltmeister“ nennen und ihren Wohlstand genießen wollen, ihr Leben ändern? Können apokalyptische Bilder die Menschen zu einer Verhaltensveränderung bringen?

Ich bezweifle, dass dystopische Zukunftsentwürfe die notwendige motivationale Kraft hervorbringen können, um die Transformation in Gang zu setzen. Katastrophen sind nicht bewusstseinsbildend. Zu befürchten ist, vielmehr, dass sie lähmend wirken und das Gefühl der Melancholie und des Weltverlusts angesichts des Klimawandels verstärken werden.19 Das Ergebnis wäre dann, mit Walter Benjamin eine Art von „erstarrter Unruhe“, die uns permanent mit dem schauderhaft-wohligen Gefühl des Verfalls versorgt (Benjamin, Walter, 1991, S. 668).

Wo sind aber die positiven Affekte, die die Kraft zur Veränderung hervorbringen könnten? Woran könnten wir anschließen, um eine Imagination von Zukunft zu entwickeln? Es gibt in der jüngeren Geschichte kulturelle Muster, die uns anregen könnten, darüber nachzudenken, wie wir eine starke Imagination für eine nachhaltige Zukunft, im Einklang mit den planetarischen Grenzen entwickeln können. Ich will nur zwei starke Motivlagen erwähnen, die in der Vergangenheit in der Lage gewesen sind, die Kluft zwischen Gegenwart und Zukunft zu überbrücken und individuelle und kollektive Handlungsfolgen ausgelöst haben. Das eine ist die Geschichte des „American Dream“, die lange Zeit als Narrativ Kraft und Willen bei Menschen mobilisieren konnte. Ein weiteres Beispiel ist der Mechanismus des Sparens: Ich verzichte heute auf die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, um mir später besondere Bedürfnisse oder Wünsche erfüllen zu können.

Auch Religionen sind Systeme, die eine Imagination einer positiven Zukunft mit persönlicher Handlungsrelevanz verbinden. Ihre Macht verdanken Religionen dem Umstand, dass sie nicht profan sind, und dennoch Anschluss an das Profane, die Regelungen des Alltags ermöglichen. Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade sagt: „eine Realität, die nicht von unserer Welt ist, manifestiert sich in Gegenständen, die integrierende Bestandteile unserer ‚natürlichen‘, ‚profanen‘ Welt sind“ (Eliade, Mircea, 1998, S. 14 f.).20

Vor allem aber ist es das Konzept der Nachhaltigkeit selbst, welches eine positive Zukunftsorientierung enthält. Nicht die Angst vor dem Klimawandel sollte im Vordergrund stehen, sondern die Chancen, die eine nachhaltige Zukunft für jeden von uns bietet: Ein neues Verhältnis zur Natur zu entwickeln, die sozialen Ungerechtigkeiten zu überwinden, die die Welt heute prägen, die Selbstverwirklichung jenseits der Konsumdiktatur zu suchen oder die zwischenmenschlichen Beziehungen auf eine solidarische Grundlage zu stellen.

Transformationen können nur gelingen, wenn sich kollektive Imaginationen mit individuellen Bedürfnissen verbinden, aus denen Menschen sowohl individuelle wie auch gesellschaftliche Handlungsfolgen ableiten können. Im Zusammenhang mit einer gelingenden Nachhaltigkeitsstrategie wären starke Motive bei den Menschen zu identifizieren, Motive, die auf starke Bedürfnisse zurückgehen. Eine kollektive Erzählung, die diese Motive aufnimmt und sie, ähnlich dem „American Dream“ imaginiert, muss Handlungsrelevanz für den Alltag besitzen. Seine Lebensformen zu ändern oder entschieden für politische Änderungen einzutreten, muss etwas mit der eigenen Person machen. Es muss mit einer gelingenden Lebensform integrierbar sein, die sinnstiftendes Alltagshandeln mit einem normativen Wertesystem verbindet. Selbstbezug und Weltbezug müssen kohärent werden.

Solche Narrative, mit denen eine „affektive Mobilisierung“ (Koschorke, Albrecht, 2020, S. 35) gelingen kann, müssen wir entwickeln, um den steinigen Weg der Transformation zu schaffen. Wenn wir keine positiven Vorstellungen über die Zukunft entwickeln können, die zugleich für unseren Alltag Relevanz erlangen, dann haben wir die Zukunft bereits verloren. Wenn die Zukunft nur noch als Halde der vergangenen Fehlleistungen in unserem Bewusstsein wirkt, werden wir keine Kraft für die Transformation finden können. Wir müssen den Blick auf die Zukunft wieder erweitern und nicht nur auf sterbende Robben und vergiftete Insekten verengen.

Es hat auch bereits bevor die ökologische Bedrohung in unser öffentliches Bewusstsein gedrungen ist, gute Gründe gegeben, um das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu kritisieren. Diese Gründe sind durch den Klimawandel und die Bedrohung der Ökosysteme nicht falsch geworden, sie sind nur etwas in den Hintergrund getreten. Soziale Ungerechtigkeit, Unfreiheit, mangelhafte Mitgestaltungsmöglichkeiten, vorenthaltene Anerkennung und Entfremdung sind Symptome, die durch den Klimawandel für die betroffenen Menschen nicht weniger bedeutsam geworden sind. Zusammen aber unterstreichen sie die Notwendigkeit einer nachhaltigen Transformation, sie können aber auch jene affektiven Energien freilegen, die notwendig sind, um für ein besseres Leben für alle zu kämpfen.

Albrecht Koschorke weist darauf hin, dass Narrative der Nachhaltigkeit gegenüber apokalyptischen Szenarien den Nachteil haben, dass sie ohne Reflexion nicht auskommen. Um die positiven Energien zu mobilisieren, müssen wir auf der Grundlage einer Kritik der Gesellschaft den „Möglichkeitssinn“ ansprechen, wir müssen daran erinnern, dass die Geschichte kontingent und nicht schicksalshaft vorbestimmt ist. Darin besteht das Wesen der menschlichen Möglichkeit zur Freiheit.

Notwendig ist also, eine mächtige Vorstellung von unserer kollektiven Zukunft zu entwickeln, die zugleich für unser tägliches Leben relevant wird. Dafür müssen wir unser Denken von alten Bildern des Fortschritts, des Wachstums und auch des Geredes von der Alternativlosigkeit reinigen. Wenn es nicht zu technologisch klingen würde, müsste man ein neues „Apollo-Projekt“ definieren, wie einst John F. Kennedy. Heute ließe sich dieses Projekt als „Mission Sustainability“ bezeichnen. Die Aufgabe: Wie können wir unser Leben und unsere Gesellschaft so ändern, dass alle Menschen ein gutes Leben im Einklang mit den planetarischen Grenzen führen können?

Es wird nicht ausreichen in Akademien und auf Foren darüber zu diskutieren und anschließend Sammelbände zu publizieren. Der Nachhaltigkeitsvirus muss mindestens so ansteckend werden wie Corona, aber in einem positiven Sinne. Praktische Beispiele gelingender Transformation, die einen Vorgriff auf die Vorstellung einer künftigen Weltgesellschaft des guten Lebens bieten, sind ergänzend notwendig, um immer wieder die motivationale Energie für ein besseres Leben zu erneuern. Harald Welzer nennt es eine „Heterotopie“, ein „Mosaik gelingender Verbesserungen der Welt“ (Welzer, Harald, 2019, S. 345).

Beides, motivierende Narrative, die menschliche Handlungsenergien freisetzen, sowie die Schaffung von Gegenprojekten, Widerlager zum Produktivismus unserer Gesellschaft und Freiräume, in denen sich eine nachhaltige Zukunft bilden kann. müssen den Weg in eine künftige, humane Welt vorbereiten. Die Antwort auf die ökologische Zivilisationskrise liegt in der Suche nach einer besseren Zukunft, einer Zukunft, die die Fehler der Vergangenheit überwindet, einer Zukunft, in der wir gerne leben wollen, weil sie besser sein kann als unsere hektische, egoistische und zugleich selbstzerstörerische Gegenwart. An diese Aufgabe müssen wir uns machen, wenn wir verhindern wollen, dass auf die Haltung des „weiter so“ eine regressive Anpassung an die Katastrophe folgt.

V.

Die sieben Wenden, die nicht stattfinden

Uwe Schneidewind hat in seinem Buch zur Großen Transformation sieben „Wenden“ skizziert, die notwendig wären, um zu einer nachhaltigen Entwicklung zu gelangen. Dieser in Anlehnung an den Klassiker von Karl Polanyi (1944) als „Große Transformation“ bezeichnete Umbau unserer Wirtschafts- und Lebensweise vereint die folgenden sieben „Wenden“: Die Wohlstands- und Konsumwende, die Energiewende, die Ressourcenwende, die Mobilitätswende, die Ernährungswende, die Urbane Wende und die Industrielle Wende. Sie sind miteinander verbunden. Ihre Realisierung soll den Weg in eine nachhaltige Zukunft eröffnen. Schneidewind sieht in ihnen die Elemente für „grundlegende kulturelle, institutionelle, ökonomische, technologische und ökologische Systemtransformationen“, die zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise führen sollen (Schneidewind, Uwe, 2018, S. 169).

Aus den sieben Wenden leiten sich eine Vielzahl von praktischen Maßnahmen ab, mit denen die einzelnen Wenden umgesetzt werden könnten. Tatsächlich gibt es bereits heute genügend Lösungsansätze, um die Menschheit anders zu ernähren als durch die Agrarindustrie mit ihren Schäden für Tier und Natur; es gibt Alternativen zur automobilen Gesellschaft und zur ressourcenvergeudenden Produktion. Warum aber nehmen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Aufgabe der Großen Transformation nicht an?

Die Aufgabe Klimapolitik ist bei Politik und Wirtschaft angekommen …

Zuerst die gute Nachricht: War die Krise der Ökosysteme in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts noch ein zivilgesellschaftliches Anliegen, das von einigen wenigen Ökoaktivisten und von außen an das politische System herangetragen worden ist, so ist die Umwelt- und Klimapolitik mittlerweile vom Rand ins Zentrum der Politik gerückt. Seit der Jahrhundertwende wird die ökologische Krise, allen voran die Erderwärmung in (fast) allen Staaten als politisches Problem und als eine „Menschheitsaufgabe“ durchaus ernst genommen. Es fehlt keineswegs an der Einsicht, dass globale und nationale Maßnahmen notwendig sind, um die Schadstoffemissionen zu mindern. Klimaschutzkonzepte wurden auf den verschiedenen politischen Ebenen erarbeitet, Programme fördern die Einsparung von Energie und Materialien, auf europäischer Ebene wurden Schadstoffgrenzen festgelegt und die Umstellung von fossilen Antriebstechnologien auf Elektromobilität wird durch milliardenschwere Kaufanreize gefördert. Die entsprechende Ladeinfrastruktur wird errichtet. Mit Hilfe einer „Wasserstoffstrategie“ soll der beschleunigte Abschied von Öl, Kohle und Gas gelingen.21

Auch die Vertreter der Kapitalseite nehmen die ökologische Bedrohung ernst. Als wollte man Fridays for Future im apokalyptischen Ton noch übertreffen, warnt der Bericht des Weltwirtschaftsforums die Teilnehmer des Treffens im winterlichen Davos im Februar 2019: „Von allen Risiken“ heißt es in diesem Report, „ist es bei der Umwelt am offensichtlichsten, dass die Welt in eine Katastrophe schlafwandelt“. (Zit. nach Frankfurter Allg. Zeitung v. 17. Jan. 2019). „Schlafwandelt“ – Der Begriff dürfte mit Bedacht dem vielgerühmten Buch des Historikers Christopher Clarke entlehnt sein, der damit die Haltung der politischen und wirtschaftlichen Eliten bezeichnet hat, deren Völker in den Ersten Weltkrieg geschlittert sind.

Es gibt heute kaum ein größeres Unternehmen, das sich nicht rühmt, einen Nachhaltigkeitsbeauftragten zu haben. Allein schon aus Kostengründen wird auf eine Steigerung der Rohstoffeffizienz gedrungen. Neue Produkte und Verfahren sollen den Weg in eine nachhaltige Zukunft ebnen und manche Unternehmen haben erkannt, dass man mit Bio-Lifestyle-Produkten auch viel Geld machen kann.

Unternehmen, die sich dem Thema Nachhaltigkeit verweigern, müssen mittlerweile bei der Finanzierung mit Risikoaufschlägen rechnen, weil Banken und Ratingagenturen erwarten, dass die Risikostrategie von Unternehmen auch die ökologischen Risiken bewertet und Strategien entwickeln, um diese zu mindern. Auf den Finanzmärkten hat sich ein wachsendes Segment etabliert, das ökologische Geldanlagen verspricht und den Markt für Rendite und gutem Gewissen verbindet.

Also, alles auf einem guten Weg? Blickt man jedoch die Zwischenberichte über die Erfüllung der Klimaziele an, dann fällt die Bilanz eindeutig aus: Das Tempo ist zu langsam, Zwischenziele zur Klimaneutralität 2050 werden verfehlt. Wie ein Bericht des UN-Umweltprogramms vom November 2020 zeigt, ist die Weltgemeinschaft weit davon entfernt, die 2015 in Paris vereinbarten Ziele zu erreichen. Statt einer Erderwärmung unter 1,5 Grad Celsius erwarten die Gutachter einen Temperaturanstieg von mehr als drei Grad. Bereits jetzt liegt die Erwärmung um 1,2 Grad über der vorindustriellen Zeit.

… aber die Wenden finden nicht statt

Klimaschützer kritisieren die Regierungen dafür, dass sie nicht schneller und konsequenter z.B. Dieselautos und Braunkohlekraftwerke aus dem Verkehr ziehen, den Ausbau der Ladeinfrastruktur vorantreiben oder den Umstieg vom Auto auf das Fahrrad fördern. Die so gescholtenen Politiker entgegnen, dass es gelte, den Übergang ins post-fossile Zeitalter ohne regionale „Strukturbrüche“, sozial verträglichund vor allem ohne massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen und Wohlstand zu erreichen. Es müsse gelingen Ökologie und Ökonomie zu versöhnen, statt sie gegeneinander auszuspielen.

In diesen Erwiderungen wird bereits sichtbar, dass es offensichtlich beim Klimaschutz und der Umweltpolitik um mehr als nur um technologische Transformationen unseres Energie- und Industriesystems gehen müsste. Es kommen konfligierende sozialpolitische und gesellschaftliche Ziele ins Spiel. Und eine ökologische Politik, die das Ziel verfolgt, die Grenzen der Reproduktion der Natur zu wahren, wirft essentielle Fragen auf, die unser kulturelles Selbstverständnis betreffen. Diese Fragen allerdings werden bis heute im politischen Raum nicht thematisiert.

Trotz der Erkenntnisse der Umwelt- und Klimaforscher und trotz der Leitlinien der Nachhaltigkeitspolitik auf nationaler und internationaler Ebene, folgt die tatsächliche Klima- und Umweltpolitik einer Strategie, die der Komplexität und Grundsätzlichkeit der ökologischen Krise nicht annähernd gerecht wird. Sie folgt vielmehr dem Lampedusa-Prinzip „Es muss sich alles ändern, damit alles so bleibt wie es ist“. Was so bleiben soll, wie es ist, das sind vor allem die Wachstumsorientierung der Wirtschaft und die Konsumorientierung der Bevölkerung. Sie sind die heiligen Kühe des demokratischen Kapitalismus. Weil sie nicht angetastet werden, findet die notwendige Große Transformation nicht statt. Die klimapolitischen Akteure in Politik und Wirtschaft bleiben der Logik des demokratisch-kapitalistischen Wachstums- und Konsummodells treu. Das Diktum des damaligen amerikanischen Präsidenten George Bush Senior vor dem Erdgipfel in Rio 1992 „The American way of life ist not negotiable“ gilt auch hierzulande.

Anstatt die Große Transformation und die dafür notwendigen Schritte in Richtung einer grundlegenden Energiewende, einer Ressourcenwende, einer Mobilitätswende, einer Ernährungswende, einer Konsumwende, einer urbanen Wende und einer industriellen Wende beherzt in Angriff zu nehmen, setzt die Klimapolitik auf technologische Innovation, Unternehmerinitiative und Wachstum. Dies führt in der Praxis zu einer Reihe von widersprüchlichen Entwicklungen und Inkonsequenzen.

Statt einer umfassenden Energiewende, die auch Wärme und Wasser einbezieht, beschränkt sich die regierungsamtliche „Energiewende“ in Deutschland auf eine Stromwende, also den Ersatz fossiler Quellen für die Stromerzeugung durch Sonne und Wind. Ohne die vorhandenen Möglichkeiten der Energieeffizienz, der Energiesuffizienz und der Sektor-Kopplung auszuschöpfen wird das Ziel, den Primärenergiebedarf bis 2050 zu halbieren, verfehlt werden. Würde man dieses Ziel ernst nehmen, so müssten den Unternehmen, den Immobilienbesitzern und den Verbrauchern strengere Reduzierungsziele zugemutet werden.22 Da dies vermieden werden soll, wird man dieses Vorhaben nicht erreichen, zumal für Elektromobilität, zur Umsetzung der Wasserstoffstrategie und für die Digitalisierung in Zukunft noch wesentlich mehr Energie benötigt wird. Nur eine radikale Reduktion des Güterwachstums, bei gleichzeitiger Erhöhung der Energie- und Ressourceneffizienz kann zur Senkung des Primärenergieeinsatzes führen.

Die Mobilitätswende beschränkt sich im Wesentlichen auf die Förderung der Elektromobilität, gleichzeitig steigt die Zahl der zugelassenen, hochmotorigen SUV in Deutschland, die für die Automobilkonzerne besonders lukrativ, für die Umwelt und die Städte aber belastend sind. Immer noch werden Autobahnen ausgebaut und Flughäfen erweitert. Erst einige wenige Städte versuchen den Autoverkehr zu reduzieren und integrierte Mobilitätskonzepte umzusetzen, die den Anteil von Fahrrädern und ÖPNV am Verkehr zulasten des Autos steigern sollen.

Die Ernährungswende findet vorerst nicht statt. Die Agrarförderung der Europäischen Union und eine verfehlte Chemiepolitik stärken weiterhin vor allem die Agrarindustrie, die das größte Hemmnis für Veränderungen darstellt. Die Anreize für eine naturnahe Produktion unserer Lebensmittel sind zu gering, die Preise für industriell hergestellte Nahrungsmittel decken die Kosten nicht, die ihre Herstellung verursacht. Die verfehlte Ernährungskultur ist nicht nur für etwa 30 % des Ressourcenverbrauchs der Konsumenten in Europa verantwortlich, sondern verursacht auch erhebliche Gesundheitskosten. Der mit 60 kg pro Jahr und Kopf konstant hohe Fleischkonsum stellt aufgrund des Flächen- und Wasserbedarf das größte Einzelproblem dar.

Eine Wohlstands- und Konsumwende, die diesen Namen verdient, findet nicht statt. Die persönlichen Präferenzen gelten als nicht verhandelbarer Ausdruck der individuellen Freiheit. Selbst harmlose Vorschläge, wie die Einführung eines „Veggie-days“ gelten als Bevormundung und werden von den Wählern bestraft. Deshalb wird alles, was nach einer Beschränkung der Konsumentenfreiheit klingt, politisch tabuisiert. Der Staat habe sich nicht einzumischen, was der Einzelne gerne isst, wie er reist und wie er sein Geld ausgibt. Damit klammert die Umweltpolitik einen Bereich, der ganz wesentlich zur Schädigung der Ökosysteme beiträgt, aus. Um die Menschen von ihren klimaschädlichen Gewohnheiten abzubringen, setzt die Umwelt- und Klimapolitik auf finanzielle Anreize und die Einsicht der Menschen. Dies führt dazu, dass z.B. die Ernährungswende oder die Mobilitätswende nicht oder jedenfalls nicht mit der notwendigen Geschwindigkeit stattfinden.

Warum Staat und Politik die Konsumentenfreiheit fast uneingeschränkt respektieren, werde ich im dritten Kapitel diskutieren. Die Gesellschaften des demokratischen Kapitalismus, die durch die „imperiale Lebensweise“ sozial und politisch integriert werden, blockieren die „Große Transformation“, weil alle „Wenden“, die konsumnah sind, die Grundlagen des gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses angreifen. Insofern konzentrieren sich die Regierungen auf solche Wenden, die die Bürgerinnen und Bürger kaum spüren. Ob grüner oder grauer Strom aus der Steckdose kommt, ist den meisten Menschen egal, solange die Strompreise nicht zu stark steigen.

Modernisierung statt Transformation

Der Begriff der Transformation, oder gar der „Großen Transformation“, der in den Sozialwissenschaften im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Krisen verwendet wird, ist dem klassischen Werk von Karl Polanyi entlehnt. Darin hat Polanyi den historischen Prozess beschrieben, mit dem zur Zeit der Frühindustrialisierung die englische Gesellschaft transformiert worden ist. Auf der einen Seite wurden die „fiktiven Waren“ Arbeit, Boden und Geld kommodifiziert, auf der anderen Seite entstand als soziales Ergebnis der „Entbettung“ des Marktes aus seiner gesellschaftlichen Einbettung eine gesellschaftliche Gegenbewegung (Polanyi, Karl, 1995). Auf diese historische Analogie nehmen Sozialwissenschaftler Bezug, um zum einen aufzuzeigen, wie unter den heutigen Bedingungen kapitalistische Landnahme erfolgt und zugleich auszuloten, welche Potentiale im Sinne einer Veränderung der systemischen Logik des Kapitalismus angesprochen werden können.23

Der Transformationsansatz, der bei Polanyi analytische Bedeutung hat, wird bei Uwe Schneidewind und vielen anderen mit dem Ziel verwendet, eine aktive Transformation für eine nachhaltige Zukunft zu organisieren. Insofern wird der Begriff als Gegenkonzept zum Modernisierungsansatz entwickelt. Im Unterschied zum Verständnis von Transformation, das auf grundlegende Änderungen der Ziele, der Handlungslogiken und der institutionellen Grundlagen von politisch-ökonomischen Systemen zielt, geht es beim Modernisierungsparadigma um einen Prozess der Veränderung und Anpassung innerhalb einer bestimmten, in diesem Fall kapitalistischen, Funktionslogik.

Versucht man die aktuelle Umwelt- und Klimapolitik in Deutschland einzuordnen, so wird man nicht fehlgehen, wenn man sie als Modernisierungsstrategie diagnostiziert. Es überrascht nicht, dass die systemtragenden Regierungsparteien diesen Kurs verfolgen und, ähnlich dem Sozialstaat im Umweltstaat und im Markt die Akteure für eine ökologische Modernisierung sehen. Auch Bündnis 90/Die Grünen, die inzwischen ihr „Godesberg“ gehabt und ihren Burgfrieden mit dem Kapitalismus geschlossen haben, haben sich dem Modernisierungsparadigma verschrieben.

Nur in den Nischen des politischen Raums finden heute Diskussionen über eine Große Transformation statt, wie sie z.B. vom Wuppertal Institut und anderen Wissenschaftlern seit Jahren gefordert wird und von diesen konzeptionell ausgearbeitet worden ist. Das Wort Nachhaltigkeit ist im Munde der politischen Eliten nicht mehr als ein wohlklingendes, aber zu nichts verpflichtendes Sonntagsbekenntnis.

Auch die Gesellschaft in ihrer großen Mehrheit, einschließlich weiter Teile der Umweltbewegung scheint sich darauf geeinigt zu haben, dass Klima- und Umweltpolitik alles darf, nur nicht die Wachstumsorientierung und die Konsumentenfreiheiten tangieren. Zwischen der Skylla Unternehmerfreiheit und der Charybdis Konsumentenfreiheit eingeengt, ist eine Politik der starken Nachhaltigkeit aber nicht möglich. Während Zwischenberichte zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen veröffentlicht werden, in denen sich Regierungen feierlich zur Bedeutung dieser Ziele bekennen, während in Reden vor den UN-Vollversammlung ein höheres Tempo bei der Verwirklichung dieser Ziele angemahnt wird, hat man in der nationalen Politik diese ehrgeizigen Ziele längst aufgegeben, auch wenn das niemand zugeben kann. Die Klimapolitiker gleichen dem nackten Kaiser im Märchen von Hans Anderson.

Die Doppelzüngigkeit – hehre Nachhaltigkeitsziele auf globaler Ebene und nicht-nachhaltige Politik zuhause – scheint dem Bedürfnis der westlichen Öffentlichkeit und der Bevölkerung entgegenzukommen. Von Jahr zu Jahr wird zwar deutlicher, dass die gesteckten Klima- und Nachhaltigkeitsziele verfehlt werden, dennoch scheint eine große Mehrheit der Bevölkerung im Westen und das politische System kein höheres Tempo akzeptieren zu wollen. Mit dieser Doppelmoral lässt sich gut leben.

Während in den 1990er Jahren auch bei großen Teilen der Grünen noch die Erkenntnis vorgeherrscht hat, dass die ökologischen Risiken das Ergebnis einer kapitalistischen Produktions- und Lebensform sind, die es zu überwinden gilt, haben sich mittlerweile Grüne wie Klimaschützer auf den herrschenden Diskurspfad eines „grünen Kapitalismus“ eingelassen. Es geht also nicht mehr um die Transformation eines ökonomisch-kulturellen Systems, das die Natur als Rohstofflager verbraucht, sondern darum, wie die Anpassungsprozesse der Wirtschaft und der öffentlichen Infrastruktur an die ökologischen Imperative reformerisch gestaltet werden können, ohne strukturelle Änderungen der Wirtschaft und der Lebensweise der Menschen zu verursachen. Mit der Kritik an diesem Denkansatz wird sich dieser Text ausführlich im fünften Kapitel befassen.

Klimapolitik ist Teil der Routine geworden, die sich herausbildet, wenn Regierungen und Verwaltungen sich einer Sache annehmen. Sachlich, mit Augenmaß und unter Berücksichtigung des unter den gegebenen Strukturen Machbaren wird die Zivilisationskrise genauso „kleingearbeitet“, wie alle anderen Probleme, die auf den Tisch des Hauses kommen. Neue Gesetze, Verordnungen, Förderprogramme, Strategien und tägliche Pressemeldungen signalisieren dem Publikum, wie sehr man sich kümmert.

Die politischen Systeme sind mit dem Wirklichkeitssinn im Bunde, wie er seit Max Weber zur Berufsbeschreibung von Politikern zählt und wie Robert Musil ihn im „Mann ohne Eigenschaften“ charakterisiert hat. Der Mensch, der Wirklichkeitssinn besitzt, hält sich die Erkenntnis zugute, dass jemand, der „gut durch geöffnete Türen kommen will,… die Tatsache achten (muss), dass sie einen festen Rahmen haben.“ Aber, Musil hält dagegen, auch wer Möglichkeitssinn besitzt, „hat natürlich … Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit und kommt viel langsamer ans Ziel als der den meisten Menschen eignende Sinn für ihre wirklichen Möglichkeiten“ (Musil, Robert, 1978, S. 16 f.).

Keine Regierung hat die Absicht Türen zu versetzen, den Rahmen zu ändern. Aber eine Zivilisationskrise lässt sich nicht mit exekutiver Routine, bei Wahrung bestehender Strukturen und Interessen lösen! Gegen die sachliche, administrative Routine, die gelegentlich durch internationale Gipfeltreffen den Anstrich besonderer Dramatik erhält, heben sich die Stimmen der Klimaschützer durch einen bewusst alarmistischen Ton ab. Sie erinnern anhand der von Jahr zu Jahr erschreckender ausfallenden Befunde an den vulnerablen Zustand der Erde und fordern die Politiker auf, doch endlich den Wissenschaftlern zu folgen und zu handeln. Bestehen in der Zustandsbeschreibung und Bewertung der Lage erhebliche Unterschiede zwischen den zivilgesellschaftlichen Klimaschützern und den regierungsamtlichen Klimaschützern, so ist doch erstaunlich festzustellen, dass auch die Klimaschützer mittlerweile auf den herrschenden Diskurspfad eingeschwenkt sind. Sie unterscheiden sich in ihren konkreten Forderungen von den Vertretern der herrschenden Umwelt- und Klimapolitik nur darin, dass ihnen die Umsetzung von Vereinbarungen durch die Regierungen zu langsam geht. Sie fordern, die letzten Braunkohlekraftwerke nicht erst 2038 sondern bereits 2030 abzuschalten, ein möglichst baldiges Datum für ein Dieselverbot festzulegen, die Grenzwerte für den Schadstoffausstoß von PKWs strenger zu fassen und den Preis für CO2 höher anzusetzen.

Grundsätzlicher fällt nur der Widerspruch auf dem Gebiet der industriellen Tierhaltung, der Landwirtschaft und der Ernährung aus. Aber so verdienstvoll es ist, diese kritische Position zu vertreten, so fehlt es doch auf bei diesem Thema an einer grundlegenden Kritik an den Mechanismen, Interessen und Motiven eines nicht-nachhaltigen Konsums.

Kritik der Klimabewegung

In den 1990er Jahren gab es innerhalb der Ökologiebewegung eine einflussreiche, wenngleich politisch kaum wirksame Debatte über Wachstumskritik, alternative Lebensformen jenseits der Konsumorientierung und Projekte für selbstbestimmtes Arbeiten. Die ökologische Krise wurde von Teilen als Ausfluss eines Wirtschaftssystems analysiert, das die Natur zerstört und die Lebensbedingungen der Menschen dem Profitprinzip unterordnet. Das Modell der Modernisierung wurde grundsätzlich in Frage gestellt.24 Als Antwort auf die drohende ökologische Krise entstanden Konzepte für eine grundlegende Transformation des industriellen Systems, die auch von Grünen und der SPD programmatisch aufgegriffen worden sind.25 Eine Systemtransformation wurde zwar auch innerhalb dieses Diskurses nur von Randgruppen angestrebt, aber diese Alternative war durchaus theoretisch und strategisch präsent.

Durchgesetzt hat sich in der politischen Wirklichkeit die Erkenntnis, dass ein lange vertretener nachsorgender Umweltschutz nicht mehr problemadäquat ist. Dazu haben die in rascher Folge erschienenen Berichte über den Zustand des Planeten und die internationalen Umweltkonferenzen einen wichtigen Anstoß gegeben. An der Stelle des nachsorgenden Umweltschutzes, der die nichtintendierten Folgen der kapitalistischen Produktion beseitigt, setzte sich, jedenfalls in Deutschland und Japan das Konzept der „ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaft“ durch. So wurde in der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90 /Die Grünen 1998 ein Programm der „ökologischen Modernisierung“ formuliert. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien wurde dadurch erheblich forciert, der Einstieg in eine ökologische Steuerreform (1999) beschlossen.

Grundsätzliche Kontroversen über die Strategie im Umgang mit der Krise der modernen Naturbeziehungen gibt es heute kaum mehr. Mittlerweile beobachten wir seit Jahren einen Paradigmenwechsel im ökologischen Diskurs (Krüger, Timmo, 2013). Das Bemühen, „normative Fragen zu vermeiden, und umweltpolitische Problemlagen als wissenschaftliche, technologische, ökonomische oder administrative Fragen auszubuchstabieren“ hat nach Auffassung von Ingolfur Blühdorn zur Entpolitisierung der Ökologiedebatte geführtEs ist eine ungültige Quelle angegeben..

Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das für die ökologische Krise die Hauptverantwortung trägt, wird auch von den besorgten Klimaaktivisten aus dem Spiel gelassen. Ein tieferes Verständnis für den Zusammenhang von Klimawandel, Zerstörung der Ökosysteme, kapitalistischer Produktion, Konsum und Imperialismus und deren historische Einbettung in das Modell der Moderne und dessen Freiheitsbegriff fehlt vollständig. Die Klimabewegung bewegt sich auf den Spuren einer ökologischen Modernisierung, ohne Verständnis der Ursachen der drohenden Zerstörung der Lebensgrundlagen, ohne theoretisches Rüstzeug, ohne eine Gesellschaftsanalyse und ohne Kenntnis der Technik-Naturbeziehungen in der modernen Gesellschaft. Wofür die sozialdemokratische Arbeiterbewegung hundert Jahre gebraucht hat, hat die Umweltbewegung unter der Führung einer grünen Partei in einer Generation geschafft: Sie ist Teil eines reformistischen Politikansatzes geworden, in dem für Alternativen jenseits des Kapitalismus kein Platz zu sein scheint.

Modernisierungskonzepte im Kapitalismus sind dadurch geprägt, dass Teile des Kapitals erkennen, dass die bisherige Wirtschaftsweise modernisiert werden muss, wenn sie nicht in Gefahr geraten soll. Dieser Modernisierungsimpuls führt zu neuen Koalitionen, auch zwischen „fortschrittlichen“ Unternehmern und Umweltschützern, die sich in inkrementellen Reformen einen Fortschritt im Sinne ihrer umweltpolitischen Agenda erwarten. Ich will nicht bestreiten, dass es im Konkreten Interessen gibt, die übereinstimmen, zumal das Kapital Legitimationsbedarf in einer umweltbewussten Öffentlichkeit benötigt. Während aber die „nachhaltigen“ Unternehmensvertreter keine Sekunde vergessen, dass sie auch künftig Gewinne machen wollen und deshalb die Strukturen des Kapitalismus nicht in Frage stellen können, ist zu bezweifeln, dass auch Umweltschützer ein Bewusstsein haben, dass ihre Gemeinsamkeit nur Teil einer „antagonistischen Kooperation“ zwischen zwei grundsätzlich unvereinbaren Ansätzen ist.26

Die Strukturen der Umweltbewegung haben sich inzwischen professionalisiert. Finanziell gut ausgestattete, medial erfahrene Verbände und NGOs bilden ein Segment, das sich der Methoden des Lobbyings bedient und für ihre Konzepte wirbt. Ihre Strategie zielt darauf, den Elitendiskurs zu beeinflussen, statt die Massen zu mobilisieren.27 „Fridays for Future“ war in dieser Strategie der Verbände nicht vorgesehen. Beide Welten blieben sich deshalb auch fremd. Inzwischen scheint die Straße von den Bürokraten der Umweltverbände und ihren institutionellen Interessen zunehmend beherrscht zu werden.

Aus Klimaaktivisten sind Gegenexperten geworden, die den Interessensvertretern des fossilen Systems fachlich Paroli bieten. Anstelle der moralischen Argumentation der frühen Umweltbewegung ist bei den heutigen Vertretern technisches Knowhow getreten. Häufig argumentieren sie ökonomisch. Sie wollen „die Wirtschaft“ überzeugen, dass es auch für sie langfristig besser wäre, wenn man nachhaltig denken würde. Sie betätigen sich damit als Pioniere, die die Lernblockaden des ökonomischen Systems überwinden helfen und Druck für die ökologische Modernisierung des Kapitalismus erzeugen. Innerhalb des Lagers der Wirtschaft findet nämlich ebenfalls schon seit Längerem eine Auseinandersetzung statt, zwischen denjenigen, die ihre Assets verteidigen, wie die Energie- und Automobilbranche und den Modernisierern, die auf neues Wachstum, Exportschlager und Gewinne als „First mover“ setzen. So haben sich seit den 1990er Jahren Kapitalfraktionen gebildet, deren Geschäftsmodell in der Bearbeitung der nichtintendierten Folgen des kapitalistischen Raubbaus an der Natur besteht und die sich langfristig Gewinnchancen ausrechnen.

Statt über die Ursachen der ökologischen Krise zu diskutieren, beschränkt sich die etablierte Klimabewegung auf die Erörterung der Symptome und konzentriert sich auf die Identifikation der Mittel zu deren Behebung. Man sucht gemeinsam mit der Wirtschaft und der Politik nach „intelligenten“ technischen Lösungen. Die Debatte über die Wasserstofftechnologie ist ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche auf technische Fragen reduziert werden. Antagonistische Positionen, die an Machtstrukturen erinnern, passen nicht in diese Diskursformate.

Mit dieser Kritik soll die grundsätzliche Notwendigkeit einer antagonistischen Kooperation zwischen Klimabewegung und Kapital nicht in Abrede gestellt werden. Eine solche ist notwendig, um die gesellschaftlichen Konflikte, die am Beispiel der ökologischen Krise hervortreten voranzutreiben, Reibung zu erzeugen und soziale Entwicklungen zu ermöglichen, die über die Systemlogik des Kapitalismus hinausweisen. Aber eine solche Kooperation darf nicht zur Versöhnung zwischen dem Unversöhnlichen beitragen. Ohne eine theoretisch fundierte Gesellschaftskritik muss aber jede soziale Kooperation zur Stärkung der Hegemonie des Kapitals führen.28 Statt einer „Ausweitung der Kampfzone“ (Michel Houellebecq) begibt sich die organisierte Klimabewegung in Talkshows, um Unternehmer zu überzeugen, dass sie doch auch für Klimaschutz sein sollten.

Inzwischen ist eine strategische Koalition zwischen den fortschrittlichen Teilen der Wirtschaft und Teilen der Umweltbewegung entstanden. Deren Vertreter arbeiten konstruktiv an der Entwicklung von Modernisierungsprojekten in Unternehmen mit. Einige von ihnen haben in Unternehmensvorständen Karriere gemacht, andere stehen Verbänden vor.29 Oder anders formuliert: Teile der Ökologiebewegung spielen heute in den Modernisierungsdiskursen eine ähnliche Rolle, wie die „Künstlerkritik“ der 68er Bewegung für die Modernisierung der Arbeitsbeziehung in der Krise des tayloristischen Systems.30

Die Dominanz von Naturwissenschaftlern und Technikern sowie eine positivistische Perspektive auf die Klimadebatte haben dazu geführt, dass der weite Kreis von sozialen und kulturellen Belangen, die in dieser Zivilisationskrise im Spiel sind, zunehmend ausgeblendet werden. Die Zukunftsdebatte wird auf technische, regulatorische und fiskalische Fragen eingeengt. Eine Re-Politisierung der Klimadebatte wird im Augenblick nur von rechts betrieben. Statt sie aber von links aufzunehmen und einen Diskurs über die Frage „Wie wollen wir leben?“ zu initiieren, wird die Herausforderung der Rechten mit dem Hinweis auf unbestreitbare wissenschaftliche Erkenntnisse beantwortet. Es scheint eine normative Leerstelle entstanden zu sein, was den Naturwissenschaftlern nicht vorzuwerfen ist, sondern ein politisches Problem offenbart.

Die Definitionsmacht über unsere Zukunft hat den Platz gewechselt. Über die Frage, wie wir künftig leben wollen, ob der Kapitalismus im Sinne der Nachhaltigkeit reformierbar ist und wie wir Freiheit für alle verwirklichen können, ist abgelöst worden vom Diskurs zwischen Wissenschaftlern und Klimadiplomaten. Wie aber künftig die Ressourcen und Zumutungen innerhalb der Gesellschaft und weltweit verteilt werden, ist wissenschaftlich nicht zu klären, sondern nur politisch. Diese Frage betrifft die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen und gehört deshalb als umfassende gesellschaftspolitische Debatte in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung.31

Das neue Modernisierungsparadigma korrespondiert mit soziologischen Veränderungen. Die „Singularisierungsgesellschaft“ (Andreas Reckwitz), die in ihren Lebensstilen durch einen neuen Mittelstand geprägt wird, ist der Träger des Modernisierungsnarrativs. Im grünen Milieu des gesettelten neuen Mittelstands wird ein neues „Wohlfühlnarrativ“ (Ingolfur Blühdorn) sichtbar, welches man sich auch durch den Klimawandel nicht in Frage stellen lassen möchte. Aufgrund der Engführung der Diskussion über den Klimaschutz sind die Maßnahmen, die die Regierungen vorhaben, mit den Lebensformen der neuen Mittelschicht kompatibel. An den Klimaplänen der Bundesregierung (September 2019) und dem neuen Grundsatzprogramm der Grünen (November 2020) konnten die Angehörigen des neuen Mittelstands beruhigt erkennen, dass ihre Konsumentenfreiheit unangetastet bleibt. Dagegen macht sich bei dem schwindenden Teil der Klimaaktivisten, die nicht bereits ins System der organisierten Interessensvertretung integriert sind, zunehmend Verzweiflung breit, angesichts der verstreichenden und nicht genutzten Zeit.

Was den heutigen Klimaaktivisten fehlt, ist eine umfassende gesellschaftspolitische Problemanalyse, eine gemeinsame normative Zukunftsorientierung und eine politische Strategie, die über den Appell hinausgeht „Folgt den Wissenschaftlern!“ Deshalb ist anzunehmen, dass schon bald ein Teil der verbliebenen Klimabewegung über die Grünen in das System integriert wird, während der andere Teil droht frustriert, vielleicht auch radikalisiert politisch und medial marginalisiert zu werden.

Aus der Entwicklung der Klimabewegung ist die Folgerung zu ziehen, die Debatte zu re-politisieren, um die gesellschaftspolitische Transformationsblockade zu überwinden, die unsere Gesellschaften heute auszeichnet.32 Mit Re-Politisieren meine ich nicht Appelle, wie jene von Fridays for Future, „die Politik muss endlich handeln!“. „Die Politik“ wird keine einschneidenden Transformationen auf den Weg bringen, die tatsächlich die Ursachen der ökologischen Krise anpacken, es sei denn, der Druck aus der Gesellschaft für eine umfassende Transformation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse wird mächtig genug.

Die Strategie der ökologischen Modernisierung mit inkrementellen Mitteln ist der Versuch, die Kontrolle über die Natur zu behalten und die bestehenden Wirtschafts- und Lebensformen möglichst wenig ändern zu müssen. Kurzfristig kann dies für die Staaten des Nordens sogar funktionieren, aber nicht langfristig, wie ich im weiteren Verlauf dieses Buches zeigen werde. Die nicht stattfindende Transformation wird die Widersprüche zwischen unserer ökonomischen und kulturellen Praxis verschärfen, weil man mit der Natur nicht dealen kann.

Es ist anzunehmen, dass in den nächsten Jahrzehnten der Chor der Katastrophengesänge weiter anschwellen wird. Die apokalyptischen Szenarien aus Hollywood lähmen aber eher, als dass sie zum Handeln anregen. Das vorliegende Buch möchte einen anderen Akzent setzen. Meine Gemütslage, wenn ich an die Zukunft denke, lässt sich vielleicht am ehesten mit dem Begriff „hoffnungsvoller Pessimismus“ kennzeichnen. Die Menschheit wird es nicht schaffen, die Erde bis zur Jahrhundertwende zu zerstören. In jedem Fall kommt aber „das Ende der Welt wie wir sie kannten.“33 Entweder wir machen so weiter wie bisher und ordnen die Ökologie dem kapitalistischen Wachstumszwang unter, dann wird die Erde in Teilen unbewohnbar und in anderen Teilen werden sich die Lebensbedingungen für eine Mehrheit deutlich verschlechtern, die Risiken katastrophischer Ereignisse werden steigen und die Lebensformen auch in der nördlichen Hemisphäre werden sich grundlegend ändern. Oder aber wir fangen an, unser bisheriges Wirtschafts- und Lebensmodell nachhaltig zu transformieren. Dies geht nicht ohne Konflikte. Natürlich wird die ökologische Transformation zu einer anderen Gesellschaft führen. Sie wird aber die Grundlage für ein besseres und gerechteres Leben ermöglichen.

Um einen solchen Weg entwickeln zu können, müssen wir uns mit dem Rüstzeug einer Gesellschaftsanalyse und einer Theorie ausstatten, die den Zusammenhang zwischen den aktuell erörterten Phänomenen des Klimawandels, den anderen ökologischen Krisenphänomenen und den gesellschaftlichen Grundlagen unseres Lebensmodells erklären.

10 Bericht im SPIEGEL vom 3. Oktober 2021: https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/umweltbundesamt-fordert-70-prozent-weniger-emissionen-bis-2030-a-9542d5ed-c0d7-4e88-a6bc-6d80c539f654

11 https://www.de-ipcc.de/256.php

12 Das Fachjournal The Cryosphere berichtet, dass zwischen 1994 und 2017 die Erde insgesamt 28 Billionen Tonnen Eis verloren hat - eine Masse, die, würde man sie über ganz Großbritannien verteilen, eine 100 Meter hohe Eisschicht ergäbe. Quelle: Süddeutsche Zeitung v. 08. Febr. 2021 https://www.sueddeutsche.de/wissen/klimawandel-ozeane-1.5197108

13 Der Versuch, ein von der Außenwelt unabhängiges Ökosystem (Biosphäre 2) zu schaffen, um zu beweisen, dass in einem eigenständigen, geschlossenen ökologischen System Leben langfristig möglich ist, ist gescheitert. Es hat sich gezeigt, dass eine Synthese von Biosphäre und Technosphäre aufgrund der komplexen Wechselbeziehungen zwischen den Lebensräumen und Arten nicht möglich ist. „Im Moment gibt es keine erprobte Alternative dazu, die Lebensfähigkeit der Erde zu erhalten,“ stellen am Experiment beteiligte Wissenschaftler fest (Eichhorn, Christoph von, 29. Sept. 2021).

14 Ein aktuelles Beispiel ist die Studie der agora-Energiewende: Klimaneutrales Deutschland. In drei Schritten zu null Treibhausgasen bis 2050. Oktober 2020. https://www.agora-energiewende.de/veroeffentlichungen/klimaneutrales-deutschland-zusammenfassung/ Die Autoren gehen davon aus, dass allein durch eine zügige Umstellung der Energieproduktion auf Regenerative Energieträger, durch die Verdoppelung der Sanierungsquote im Wohnungsbestand, die Beheizung durch Wärmepumpen und die Umstellung des Individualverkehrs auf Elektroautos sowie ein üppiges Investitionsprogramm zur Erneuerung der industriellen und öffentlichen Infrastruktur die Klimaziele in Deutschland erreichbar sind.

15 Das Schwinden von Gewissheiten hat das Ende der mittelalterlichen Ordnung gekennzeichnet. Claude Lefort sieht im „Verschwinden der Zeichen der Sicherheit“ auch das wesentliche Kennzeichen für die Möglichkeit der Französischen Revolution (Marchart, Oliver, 2013, S. 29).

16 Stand: März 2020; https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/QANDA_20_330

17 Mit Souveränität über sein Leben hat der Alltag der meisten Menschen heute wenig zu tun. Umso paradoxer ist es, dass sich viele Menschen gegen Veränderungen wehren, die sie als Verzicht auffassen. Ob ein Leben, das immer mehr reguliert werden muss, damit alles funktioniert, wirklich das Optimum ist, ist doch sehr zu bezweifeln. Es ist vor allem ein Mangel an Imaginationskraft, der Menschen veranlasst am bekannten Schlechten festzuhalten und jede Änderung als Verzicht abzuwehren.

18 Ausführlicher zu den sozialpsychologischen Gründen, wie menschliche Wahrnehmung und Verhalten funktioniert: (Leggewie, Claus; Welzer, Harald, 2011).

19 So der Rat von Philipp Bovermann: Wir sind untröstlich. Warum Melancholie die einzig angemessene Reaktion auf die drohende Klimakatastrophe ist. Süddeutsche Zeitung v. 22./23. Juni 2019. Auch (Behringer, Wolfgang, 2011) berichtet in seiner „Kulturgeschichte des Klimas“ vom „Winter-Blues“ während der Kleinen Eiszeit.

20 Ich will mit dem Verweis auf das Religiöse nur den Mechanismus benennen, den wir verstehen müssen, um eine Imagination zu vermitteln, die für Menschen handlungsrelevant werden kann.

21 Ob diese Maßnahmen richtig und ausreichend sind, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.

22 Im Dezember 2019 hat die Bundesregierung beschlossen bis 2050 den Primärenergieverbrauch im Vergleich zu 2008 (knapp 14.380 Petajoule (PJ) zu halbieren, dabei die Verbraucher vor zu hohen Energierechnungen zu schützen und zur energieeffizientesten Volkswirtschaft weltweit zu werden.

23 Exemplarisch für die Debatte (Dörre, Klaus; Rosa, Hartmut; Becker, Karina; Bose, Sophie; Seyd, Benjamin (Hrsg.), 2019) und (Schneidewind, Uwe, 2018).

24 (Görg, Christoph, 2003). Einen interessanten Erklärungsansatz für die Veränderung des Diskurses liefert (Krüger, Timmo, 2013). Er sieht darin ideologische Kämpfe um die Deutungshoheit. Mittlerweile hat sich der ökomoderne Diskurs, den ich im fünften Kapitel als „grünen Kapitalismus“ analysieren werde, durchgesetzt.

25 Beispielhaft für politische Lösungsansätze: (Scheer, Hermann, 1993).

26 Der Begriff der „antagonistischen Kooperation“ verweist auf das Hegemoniekonzept von Antonio Gramsci und diente u.a. Peter von Oertzen und Peter Glotz zur Entwicklung einer Reformstrategie, ohne die transformative Perspektive zu opfern. Mit antagonistischer Kooperation ist in diesem Zusammenhang ein Konfliktmodell gemeint, das ausgehend von den bestehenden Macht- und Kräfteverhältnisse Kooperationspraktiken nutzt (Lohnverhandlungen, Streiks, politische Vertretung in Parlamenten, etc.), um Interessen durchzusetzen, aber zugleich die Chance auf eine Verschiebung der Machtverhältnisse zu verbessern.

27 Die Mobilisierung auf der Straße ist ersetzt worden durch die Unterschrift unter digitale Petitionen, deren Inflationierung in einem reziproken Verhältnis zu ihrer Wirkung steht. Dem guten Gewissen dient es allemal.

28 Die in der Gesellschaft vorherrschende Abneigung gegen Konflikte und Kämpfe ist Teil eines ideologischen Konzepts zur Sicherung der Hegemonie des Kapitals. Damit sollen die vom Kapital oder in seinem Sinne gewaltsam durchgesetzten Regeln als unantastbar gesichert werden. Tatsächlich erfolgen alle sozialen Veränderungen im Wege von Konflikten, in denen sich die aktuellen Macht- und Kräfteverhältnisse einer Gesellschaft widerspiegeln. Es gibt kein soziales Verhältnis, das nicht zugleich Konflikt- und Machtverhältnis ist.

29 Die ehem. Bundessprecherin der Grünen, Gunda Röstel ist Prokuristin der Gelsenwasser AG. Simone Peters, ehemalige Bundesvorsitzende ist zum Verband Erneuerbare Energien gewechselt und die Finanzpolitikerin Kerstin Andreae führt den Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft.

30 Dazu (Seibert, Thomas, 2017).

31 Politische Argumente sind in der Klimadebatte eigentlich nur noch als Warnhinweise zu vernehmen, die „Belastung der Wirtschaft“ oder des Autofahrers im ländlichen Raum nicht überzustrapazieren. Zudem wird gewarnt, die Menschen zu bevormunden. Dass solche Hinweise nur dazu dienen sollen, wirksamen Klimaschutz zu verhindern, braucht wohl nicht näher erläutert zu werden. Dass sie wirksam sind, ist erwiesen, wie die Wende der Grünen mit dem Thema „Veggie-Day“, dem Verhalten des grünen baden-württembergischen Ministerpräsidenten zur Automobilindustrie und zur C02-Steuer zeigt.

32 Über die Gründe für die Blockade der Transformation ausführlicher (Blühdorn, Ingolfur, 2020).

33 So der Titel eines Buches von Claus Leggewie und Harald Welzer (Leggewie, Claus; Welzer, Harald, 2011).

Abschied vom falschen Leben

Подняться наверх