Читать книгу Abschied vom falschen Leben - Werner Kindsmüller - Страница 6

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Einleitung

Vor gut vierhundert Jahren ließ William Shakespeare seinen traurigen Helden Hamlet ausrufen: „Die Welt ist aus den Fugen geraten“. Wie aktuell ist dieser Ausruf doch heute! Die Moderne befindet sich im Verteidigungsmodus. Die Weltfinanzkrise hat beinahe zur Kernschmelze des Finanzsystems geführt, ein Virus wurde zum Stresstest für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die demokratischen Gesellschaften stehen durch Gegner von außen und innen unter Legitimationsdruck und der Klimawandel entzaubert unsere Fantasien vom grenzenlosen Wachstum.

Ebenfalls vor ziemlich genau vierhundert Jahren (1620) hat Francis Bacon, Lordkanzler seiner Majestät von England indirekt eine Antwort auf die Klage Shakespeares gegeben. In seiner Aphorismensammlung „Novum Organum“, die deren Herausgeber Wolfgang Krohn als „eine Philosophie der Forschung“ bezeichnet hat, sieht Bacon in Forschung und Wissenschaft den Schlüssel dafür, die Welt wieder in Ordnung zu bringen. „Die Wohltaten der Erfinder können dem ganzen menschlichen Geschlecht zugute kommen“. Dafür müsse es „nur wieder sein Recht über die Natur sichern, welches ihm kraft einer göttlichen Schenkung zukommt“ (Bacon, Francis, 1990, S. 269, 273, Aphorismus 129).

Bei Francis Bacon finden wir erstmals ein umfassendes programmatisches Konzept zur Unterwerfung der Natur unter menschliche Zwecke. Bacons Gedanken stehen am Beginn einer Revolution, durch die die zerfallene kosmologische Ordnung des christlichen Mittelalters durch die Selbstermächtigung des Menschen abgelöst worden ist. Grundlegend für diese Revolution war die Neubestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Vierhundert Jahre nach Francis Bacon, im Frühjahr 2021, stellte UN-Generalsekretär Antonio Guterres fest: „Die Menschheit führt einen Krieg gegen die Natur“.2 Er fügte hinzu: „Das ist Selbstmord“ und fordert „wieder Frieden mit der Natur zu schließen“.

Um die Ursachen der heutigen Krisen, insbesondere die Gefahren einer ökologischen Selbstzerstörung der menschlichen Zivilisation zu entwickeln, werde ich den grundlegenden Wandel der menschlichen Naturbeziehungen durch die Moderne und den Kapitalismus herausarbeiten.

I.

Ich habe für dieses Buch den Untertitel gewählt „Kritik der politischen Ökologie des Kapitalismus“. Um Missverständnisse zu vermeiden, scheint es mir sinnvoll, mein Verständnis der verwendeten Zentralbegriffe kurz zu erläutern. Die Literatur zu jedem der Großbegriffe „Kritik“, „Ökologie“, „Kapitalismus“ füllt Bibliotheken und natürlich verfügen wir über kein gemeinsam geteiltes Verständnis dieser Begriffe.

Der Genitiv in der Formulierung „Politische Ökologie des Kapitalismus“ weist auf die Behauptung hin, dass der Kapitalismus über eine spezifische Ökologie verfügt, die sich von der Ökologie anderer Gesellschaftsformationen, z.B. des Feudalismus oder der prä-neolithischen Wirtschafts- und Lebensweise unterscheidet. Ökologie, so meine Prämisse, ist also immer schon die Ökologie einer spezifischen historischen Gesellschafts- und Wirtschaftsform. Ökologie umfasst die Beziehung der Menschen zu ihrer sozialen und natürlichen Umwelt, die Art wie wir in, mit und von der Natur unter spezifischen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen leben, wie wir produzieren, konsumieren, wie wir die Natur verwandeln. Aber wir müssen auch nach den institutionellen und rechtlichen Bedingungen unserer politischen Systeme fragen, die diese Naturbeziehungen organisieren. Auch die kulturellen Muster, die unser Handeln im Verhältnis zur Natur leiten, sind Teil unserer Umwelt.3 Die Organisation unserer Lebensweise bringt eine spezifische politische Ökologie hervor, in unserem Fall die politische Ökologie des Kapitalismus.

Wenn wir von Ökologie sprechen, dann versteht man im allgemeinen Sprachgebrauch die menschliche Umwelt, den Lebensraum, der uns umgibt. Allein dieses Verständnis ist zu kritisieren, weil darin der Geist der „Großen Trennung“ zu Beginn der Moderne Eingang gefunden hat. Wir sind Naturwesen und die Natur ist nicht nur unser (externer) Lebensraum, sondern wir sind Natur durch unseren Leib. Dieses Verständnis werde ich zugrunde legen, wenn ich von Ökologie oder ökologisch spreche.

Um ein historisch-spezifisches Verständnis von Ökologie unter kapitalistischen Bedingungen zu gewinnen, hilft das „Dreieck der Ökologie“, das Alain Lipietz skizziert hat. „Individuen“, „Organisierte Tätigkeit der Spezies“ und „Veränderungen der Umwelt“ bilden die drei Seiten des Dreiecks. Die eine Seitenlinie bildet das Verhältnis zwischen den Individuen und der organisierten Tätigkeit der Menschen (Arbeit und Wertschöpfung, Geschlechterverhältnisse, gesellschaftliche Beziehungen, Machtverhältnisse, etc.). Die zweite Seite befasst sich mit den Auswirkungen der sozialen Tätigkeiten auf die Umwelt und die dritte Seite mit den Rückwirkungen der Umwelt auf die Individuen (Lipietz, Alain, 2000, S. 16). Zusammen bilden die drei Dimensionen und ihre Beziehungen zueinander die realen Verhältnisse, unter denen wir leben. Auf diese Weise konstituiert sich also unsere Umwelt, die damit immer schon eine soziale und natürliche Umwelt ist. In diesem Sinne verwende ich den Begriff Ökologie.

Politisch ist diese Ökologie deshalb zu nennen, weil die historisch-spezifische Umwelt das Ergebnis von Entscheidungen ist, die die Menschen getroffen haben und die sie permanent treffen. Insofern sind die drei Beziehungsstränge, die ein ökologisches System konstituieren auch nicht statisch, sondern dynamisch. Mein Begriff von Politik ist dem Verständnis von Hannah Arendt entlehnt. Arendt geht von der Tatsache aus, dass es „kein menschliches Leben, auch nicht das Leben des Einsiedlers in der Wüste (gibt), das nicht … in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer Menschen zeugt“ (Arendt, Hannah, 1981, S. 27). Die auf die Bedingungen des gemeinschaftlichen Lebens bezogenen menschlichen Aktivitäten bezeichne ich als politisch. Die Umstände, unter denen wir aufwachsen, lernen, arbeiten, konsumieren, sterben, etc. sind Ergebnis von politischem Handeln, ebenso wie unser Handeln politische Folgen hat.

Der Begriff der politischen Ökologie soll verdeutlichen, dass die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Individuen, ihre organisierten Tätigkeiten und die dadurch ausgelösten Veränderungen der Umwelt das Ergebnis je spezifisch-historischer politischer Entscheidungen sind, die unsere Lebensbedingungen konstituieren und verändern. Politisches Handeln ist stets auf die Mitwelt und die Mitnatur bezogen. In beiden Sphären lösen wir Prozesse aus, deren Folgen oftmals nicht intendiert, nicht überschaubar sind und deren Konsequenzen selbst wieder zu Rahmenbedingungen unseres politischen Handels werden.

Kommen wir zum Begriff des Kapitalismus: Der Kapitalismus ist eine politisch-historische Formation, die nicht älter als gut zweihundert Jahre ist. Seine Grundlagen sind durch politische Entscheidungen, durch Umstürze und Kämpfe zwischen den Klassen geschaffen worden. Durch die Schaffung einer bürgerlich-liberalen Gesellschaft und eines liberalen Verfassungs- und Rechtsstaates wurde das Fundament für eine ökonomische Entwicklung gelegt, auf der die industrielle Revolution und der Aufbau von Märkten im modernen Sinne möglich wurden.

Im engeren Sinne wird unter Kapitalismus allgemein eine Wirtschaftsverfassung verstanden, die auf der Grundlage privaten Eigentums, marktbezogene Güter herstellt und diese mit dem Ziel, das eingesetzte Kapital zu vermehren, verkauft. Die wesentlichen Elemente des Kapitalismus in diesem Sinne sind 1. Privateigentum an den Produktionsmitteln, 2. die Trennung zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den Produzenten, 3. die Warenförmigkeit der menschlichen Arbeit, die auf Märkten gehandelt wird, 4. das Ziel der Akkumulation des Kapitals und dessen permanente Vermehrung als Ziel der Produktion, 5. die Koordination und Allokation von Gütern und Ressourcen (Arbeit, Kapital, Boden, Rohstoffe) über Marktmechanismen und 6. die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen zum Zwecke der individuellen Konsumtion.

Die Akkumulation von Kapital, also die Realisierung des eigentlichen Zwecks der Veranstaltung ist nur möglich, wenn das Wirtschaften eingebunden ist in einen bestimmten kulturellen und politisch-institutionellen Rahmen. Mit dem Begriff "Kapitalismus" bezeichne ich ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, also die Gesamtheit von ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Dimensionen, die die Lebensweise kapitalistisch verfasster Gesellschaften prägen.

Die genannten sechs Strukturelementen bilden die kapitalistische Produktionsweise. Ihr zentraler Mechanismus besteht darin, dass der in einer Produktionsperiode erwirtschaftete Profit in der nächsten Periode in Teilen reinvestiert wird, um das Schwungrad der Mehrwertproduktion zu beschleunigen und zu vergrößern. Damit dieser Mechanismus funktioniert, muss der ständig wachsende Berg an Produkten mit einer ständigen Zunahme des Absatzes der Waren durch privaten und öffentlichen Konsum einhergehen. In diesem Mechanismus liegt der expansive Charakter des Kapitalismus begründet.

Die ökonomische Formation des Kapitalismus bildet gewissermaßen das Betriebssystem, das für ihr Funktionieren aber spezifische institutionelle, rechtliche, kulturelle und politische Rahmenbedingungen benötigt. Ohne den Zugriff und das Kommando über das Arbeitsvermögen und die Naturressourcen ist kapitalistische Produktion nicht möglich.

Der Kapitalismus stellt historisch die erste wirklich dynamische Wirtschaftsform dar, die sich nicht damit begnügt, die Reproduktion ihres Reichtums auf immer gleichem Niveau sicherzustellen. Durch den Zwang der Vermehrung des Kapitals ergibt sich die Notwendigkeit, immer neue Bereiche der Logik der Kapitalverwertung zu unterwerfen. Alles muss zur Ware werden, der Elementarform des Kapitalismus, wie Karl Marx herausgearbeitet hat.

Bleibt der Begriff Kritik zu klären. Auch für ihn gilt, dass es ein gemeinsam geteiltes Verständnis des Begriffs nicht gibt. Ich werde den Begriff Kritik im Sinne einer welterschließenden Kraft verwenden, mit dessen Hilfe in einem emanzipatorischen Sinne nach den Bedingungen und Möglichkeiten eines gelingenden Lebens gesucht wird. Kritik wird als Erkenntnismethode verstanden, um die Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse voranzutreiben, wodurch es dem Einzelnen erst ermöglicht werden soll, sich als autonomes Wesen im Mitsein der Natur zu erfahren. Dieses Verständnis von Kritik ist transformativ, insofern sie zu einem Selbst- und Weltverständnis beitragen soll, auf dessen Grundlagen wir in die Lage versetzt werden sollen zu beraten und zu entscheiden, wie wir nachhaltig leben wollen.4

Grundlage einer Kritik ist die Analyse. In weiten Strecken werde ich historisch vorgehen, um sichtbar zu machen, wie der Gegenstand meiner Kritik das Ergebnis von Entwicklungen und Entscheidungen ist, die das Adjektiv politisch rechtfertigen. So werde ich vor allem verfahren, um die Genese der Moderne, das Bacon-Projekt zu entwickeln.

Das breit angelegte Thema der Untersuchung macht es notwendig, unterschiedlichste Sachgebiete in den Blick zu nehmen. Da es mir darum geht, Zusammenhänge sichtbar zu machen, die zwischen ökonomischen, philosophischen, kulturellen, soziologischen, politischen und technologischen Entwicklungen bestehen, bleibt mir keine Wahl, selbst auf die Gefahr hin, dass ich bei mancher Aussage von Experten der Fehlerhaftigkeit überführt werde. Dieses Risiko muss ich eingehen.

Was mit dem Terminus „ökologische Krise“ bezeichnet wird, verweist in Wirklichkeit auf eine Krise unserer modernen Selbstbeziehungen, die sich in unseren Selbst- und Weltbildern und in unseren Praktiken und Lebensformen manifestieren. Die vorgelegte Kritik soll erläutern, warum unserer Lebensentwurf an den Naturverhältnissen gescheitert ist, die die Moderne und der Kapitalismus in den vergangenen Jahrhunderten geprägt haben. Uns wurde versprochen, dass die Natur ein Füllhorn ist, das nie versiegt und aus dem wir uns nach Belieben bedienen können, um unsere Wünsche zu erfüllen. Von dieser Vorstellung müssen wir, so schnell es geht, Abschied nehmen. Aber dies ist gar nicht so einfach.

Ich werde versuchen, den Zusammenhang zwischen den Welt- und Selbstbildern und den Produktions- und Lebensformen in den wesentlichen Bezügen zu rekonstruieren. Das Fundament, auf dem diese spezifischen Formen unseres heutigen „In-der-Welt-seins", also unsere ökologischen Beziehungen beruhen, ist der Glaube, wir seien nicht Natur und die Natur sei das Material, das wir uns durch Wissenschaft, Technik, Produktion und Konsum dauerhaft aneignen könnten. Insofern setzt eine radikale Kritik der politischen Ökologie voraus, unser Verständnis von Natur zu klären.

Um zum Grund dieser Zivilisationskrise, mit der wir es zu tun haben durchzudringen, muss ich die Genese der modernen Naturbeziehungen des Menschen nachzeichnen. Dabei wird deutlich werden, dass unsere kulturellen Praktiken und Denkweisen, die zur Gefährdung unserer natürlichen Lebensgrundlagen geführt haben, ihre Wurzeln im Denken des 16. und 17. Jahrhunderts haben. Zugleich soll damit ersichtlich werden, wie grundlegend die Veränderungen sein müssen, damit wir die Krise der modernen Naturbeziehungen überwinden können.

Um diese komplexen Zusammenhänge der heutigen, in die Krise geratenen Naturverhältnissen zu skizzieren, werde ich die Kritik der politischen Ökologie aus der Verbindung von vier historischen Entwicklungssträngen erarbeiten:

Erstens: Das Werk von Francis Bacon dient mir als Ausgangspunkt, weil mit ihm die Grundüberzeugung in die Welt gekommen ist, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt durch Umgestaltung der Natur zugleich zu einem humanen Fortschritt führen wird. Bis heute ist diese Denkfigur wirkmächtig geblieben.

Zweitens: Im Werk von Bacon, wie bei Thomas Hobbes und René Descartes wird die Trennung des Menschen aus der Natur ideologisch vorbereitet, die sodann in Technik, Wissenschaft und Industrie vollzogen wird. Die Entfremdung von der Natur ist der Hauptgrund dafür, dass wir gegen uns selbst und gegen die Natur ein instrumentelles Verhältnis entwickelt haben.

Drittens: Damit verbunden ist die Idee der liberalen (negativen) Freiheit, wie sie gedanklich im Utilitarismus entwickelt worden ist und im heutigen Berechtigungsbewusstsein unserer imperialen Lebensweise fortwirkt.

Viertens: In der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise materialisiert sich der Geist von Bacon. Die unbegrenzte Verwandlung von Natur in Tauschwerte und die Externalisierung der Folgen dieser Produktionsweise für Mensch und Natur sind für das Betriebssystem des demokratischen Kapitalismus essentiell.

Im Grund ergibt sich bereits aus dem eingeschränkten Verständnis von Natur und Ökologie, das den gegenwärtigen Lösungsdiskurs der ökologischen Krise bestimmt, dass ihre Überwindung durch jene Strategien, die sie hervorgebracht haben, nicht möglich ist. Ich werde deshalb zeigen, dass das Konzept des Grünen Kapitalismus nur eine Modernisierung der Denk-, Handlungs- und Machtstrukturen des Bacon’schen Projekts darstellt. Ich werde nachweisen, dass dieses kapitalistische Entwicklungsparadigma, dessen Durchsetzung wir aktuell weltweit beobachten können, ungeeignet ist, um die künftige Praxis der Aneignung der Natur mit den Grenzen der Ökosysteme in Einklang zu bringen.

Die Natur ist unser menschlicher Lebensraum – und wir sind Teil von ihr. Aus dieser Tatsache folgt, dass sich die Art und Weise unserer Reproduktion (Ökonomie, Kultur) daran orientieren muss, dass wir durch unser Handeln zugleich unsere Mitnatur als menschlichen Lebensraum reproduzieren.5 Die Logik der Reproduktion zwischen dem, was wir als Kultur hervorbringen und dem, wie wir unseren Lebensraum reproduzieren, müssen übereinstimmen. In der Leitidee der starken Nachhaltigkeit, auf die ich mich beziehen werde, kommt dieses Prinzip zum Ausdruck.

Daraus leite ich die Ansatzpunkte für eine Alternative zu unserem heutigen Fortschrittsmodell ab. Die westliche Nachkriegsgesellschaft hat ihre kollektive Identität als materialistische Wohlstandsgesellschaft und durch imperiale Lebensweisen definiert. Damit wurden zugleich mögliche andere Entwicklungspfade verschüttet. Dies wird heute, angesichts der Dringlichkeit der planetarischen Grenzen zum Problem. Alternative Entwicklungspfade, auf denen die Gesellschaft ihre Identität erkunden und finden könnte, sind verkümmert. Für die Entwicklung nachhaltiger Entwicklungslinien stellt dies eine schwere Hypothek dar.

Gleichwohl: Wenn wir die richtigen Schlüsse aus der Krise unserer Lebensweise ziehen wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die kollektive Identität der imperialen Lebensweise zu überwinden. Unter dem heutigen Wohlstandsmodell ist eine Möglichkeit von Freiheit verschüttet, die es freizulegen gilt. Diese Möglichkeit der Freiheit beschränkt sich nicht auf die Wahlmöglichkeiten marktvermittelter kompensatorischer Glücksepisoden, sondern sie greift das Ziel der menschlichen Selbstbestimmung erneut auf und versucht ein gelingendes Leben unter den Bedingungen zu organisieren, die uns seitens der Natur vorgegeben sind.

Die schwierigste Frage, die sich mir während der Arbeit an diesem Buch immer wieder aufgedrängt hat, lautet: Warum sollten die Menschen trotz aller eindeutigen Hinweise auf eine Verschlechterung unserer natürlichen Lebensbedingungen ihre Lebensweise ändern wollen? Reichen die Erschütterungen der Selbstgewissheit des modernen Prometheus durch den Klimawandel, in denen er die Grenzen seiner Macht gegenüber der Natur erfährt, aus, um die Grundlage des modernen Lebensentwurfs zu überwinden? Oder als gesellschaftspolitische Frage formuliert: Wo sind die kritischen Ressourcen, durch die eine alternative Vorstellung vom gelingenden Leben zur realen Macht werden könnte?

Diese Fragen können nach meiner Überzeugung nur praktisch beantwortet werden, wenn wir die kulturellen und sozialpathologischen Zusammenhänge zwischen unseren Handungspraktiken und – formen und den Grundlagen der gesellschaftlichen Naturbeziehungen im Kapitalismus verstehen. Die Utopie eines besseren Lebens für alle Menschen im Einklang mit den ökologischen Grenzen wird nur dann genügend Menschen anstecken, wenn es gelingt, ihre wahren Bedürfnisse gegen ihre Begehrnisse zu mobilisieren.

II.

Aus heutiger Sicht erweist sich die Programmatik von Francis Bacon zumindest als ambivalent. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt hat uns einen bisher unvorstellbaren materiellen Wohlstand ermöglicht, zugleich aber hat er neue Probleme hervorgebracht, die es ohne ihn nicht gäbe. Die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen ist die folgenschwerste dieser Wirkungen. Für die Beurteilung der heutigen ökologischen Probleme und für die Entwicklung von Lösungsstrategien ist es entscheidend, ob wir diese als Nebenwirkungen eines ansonsten vorzüglichen und erhaltenswerten Zivilisationsmodells ansehen, oder ob wir zum Ergebnis gelangen, dass die Gefährdungen der menschlichen Lebensgrundlagen das notwendige Resultat gesellschaftlicher Naturverhältnisse sind, die auf diesem Fortschrittsmodell beruhen. An dieser Bewertung entscheidet sich, ob eine Modernisierung des Kapitalismus oder seine Transformation als notwendig angesehen wird. Ich werde die Auffassung vertreten, dass eine Modernisierung unseres heutigen Wohlstandsmodells das Ziel eines Lebens im Einklang mit den ökologischen Grenzen verfehlen muss.

Eine Transformation der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise braucht aber eine neue ideelle Grundlage: Sie kann nur in einem neuen Naturverhältnis begründet sein. Dieses muss davon ausgehen, dass der Mensch in der Natur ist und seine Reproduktion folglich so organisieren muss, dass zugleich die Reproduktion der natürlichen Lebensgrundlagen in ihrer Mannigfaltigkeit nicht gefährdet wird.

Bei der Abfassung dieses Buches habe ich mich intensiv mit der Zeit des 15. – 17. Jahrhunderts auseinandergesetzt, weil ich den Eindruck gewonnen habe, dass zwischen unserer heutigen Zivilisationskrise und der am Ende des Mittelalters Gemeinsamkeiten bestehen. Vor allem wird im historischen Vergleich bewusst, wie zentral für die Moderne die Revolutionierung der Beziehung des Menschen zur Natur gewesen ist. Erst durch die „Große Trennung“ zwischen Mensch und Natur, zwischen Körper und Geist, zwischen Subjekt und Objekt konnten die Elemente und Energien freigesetzt werden, durch die der moderne Fortschrittsprozess seine unvergleichliche Dynamik erhalten hat.

Wenn die Gefährdung der Ökosysteme nicht einfach ein aus dem Gesamtzusammenhang isolierbares Problem ist, sondern mit den ökonomischen Grundlagen des Kapitalismus und den Lebensformen unserer Kultur verschränkt ist, die sich wiederum in den Alltagspraktiken der Menschen manifestieren, wird die Aufgabe, vor der wir stehen nur noch schwerer. Aber es nützt ja nichts: Wenn wir das Problem, das uns gestellt ist, falsch analysieren, kann die Lösung wohl kaum richtig ausfallen.

Hingerissen zwischen Vernunft, Interessen und Gewohnheiten kommen unsere Gesellschaften zu keinem klaren Urteil darüber, ob sie den Krieg gegen die Natur – nur mit anderen Mitteln – fortsetzen, oder ob sie ihn beenden sollen. Es geht uns wie der lebenserfahrenen Marketenderin Mutter Courage in Bertolt Brechts Stück über den Dreißigjährigen Krieg. Die Courage hat gut verdient an dem Menschengemetzel, der Verlust ihrer drei Kinder war bitter, aber hatte sie eine Alternative zum Kriegshandwerk?6

Die Vernunft sagt uns, wir können so nicht weitermachen – aber wir sind ratlos, wie dann. Auch die Einsicht, dass es in einer endlichen Welt kein grenzenloses Wachstum und keine grenzenlosen Wünsche geben kann, wird abstrakt von immer mehr Menschen bejaht, ändert aber vorerst nichts daran, dass der Anstieg des Bruttosozialprodukts unkritisch bejubelt wird. Die Aufforderung, von Gewohnheiten Abschied zu nehmen oder gar die Grundlagen unseres Wohlstandsmodells in Frage zu stellen, macht Angst und löst Aggressionen aus. Es steht viel auf dem Spiel: Unser gewohntes Leben, die Interessen derjenigen, die am Krieg gegen die Natur gut verdienen, vor allem aber Sicherheiten, die uns der Glaube an Fortschritt, Wachstum und das Bewusstsein der Überlegenheit über die Natur vermittelt.

III.

Der Anlass für dieses Buch war die Beobachtung, dass die notwendigen Konsequenzen aus der ökologischen Krise nicht gezogen werden, ja dass diese nicht richtig begriffen wird. Weder die Regierungen noch die Menschen in den westlichen Gesellschaften sind wirklich bereit, die historische Dimension zu erkennen und die notwendigen Konsequenzen aus der ökologischen Krise zu ziehen. Stattdessen wird an den Strukturen und Ideologemen festgehalten, die in der Vergangenheit als erfolgreich galten. Zwischen den Regierungen und der Mehrheitsgesellschaft besteht ein stillschweigendes Übereinkommen darüber, dass der Klimaschutz weder die Wirtschaft noch die Konsumfreiheit der Menschen beeinträchtigen darf. Regierungen und die Wirtschaft achten darauf, dass die Wachstumsziele nicht gefährdet werden. Und die Gesellschaft will sich ihre Konsumfreiheiten nicht einschränken lassen. Zusammen bilden sie die Legitimationsgrundlage unseres demokratischen Kapitalismus.

Man ist sich parteiübergreifende einig, dass Klimapolitik sich im Wesentlichen darauf beschränken soll, durch technologische Innovationen die Energieeffizienz zu steigern und mit marktwirtschaftlichen Mitteln den Übergang von der fossilen Energiewirtschaft auf regenerative Energieträger zu organisieren. Die Maßnahmen im Rahmen der Klimastrategie der Bundesregierung sind Beleg dafür: Ausbau der Elektromobilität, Wasserstoffstrategie, Förderung der regenerativen Energien, ein bisschen CO2- Bepreisung; der Rest besteht aus viel Geld, um die Menschen freiwillig dazu zu bringen, ihre alte Ölheizung auszutauschen oder ihr Haus zu dämmen. Soll Autofahren teurer werden, oder sollen die Grenzwerte für Schadstoffe heraufgesetzt werden, wird dies durch milliarden-teure Programme abgefedert. Das inoffizielle Motto des Klimaschutzes lautet: „Klimaschutz? Ja bitte! Aber niemand soll es spüren!“. Die Grundlagen unserer Wirtschafts- und Lebensweise werden auf diese Weise aus dem Spiel genommen, so als hätten diese mit der ökologischen Krise nichts zu tun.

Neben dem Klimawandel besteht aber auch Handlungsbedarf, um den rasanten Verlust an Biodiversität, die Verschmutzung der Meere und die Zerstörung des Regenwaldes zu stoppen. Zudem muss der Materialverbrauch in den nächsten Jahren drastisch reduziert werden. Auch hier sieht es nicht besser aus. Etwas mehr Radwege, mehr Grün und Naturschutz – das muss reichen.

Die Folgen der Erderwärmung und die bereits heute registrierbaren Überschreitungen weiterer planetarischer Grenzen zeigen, dass unser globales Produktions- und Lebensmodell nicht zukunftsfähig ist. Die Art, wie wir in den vergangenen Jahrzehnten gewirtschaftet und konsumiert haben, hat uns in diese Situation gebracht. Ein „Weiter so“, nur mit Elektroautos und besserer Energie- und Materialeffizienz wird der Dimension der Krise nicht gerecht. Das Gefährlichste der heutigen Klimapolitik besteht darin, dass wir glauben, es könne im Grunde alles in unserem Leben so bleiben wie es ist.

Wir sind nicht die ersten, die vor einer solchen Zivilisationskrise stehen, auch wenn es das erste Mal in der Geschichte ist, dass diese Krise die gesamte Menschheit und nicht nur einzelne Kulturen bedroht. Historische Beispiele zeigen, dass in existentiellen Krisen die Menschen an den Strategien festgehalten haben, mit denen sie in der Vergangenheit erfolgreich gewesen sind. Sie haben diese intensiviert, in der Hoffnung so ihre Probleme zu beseitigen. Auch heute geben wir ein Beispiel unserer Lernunfähigkeit und begeben uns auf den Holzweg in den Grünen Kapitalismus.

Das Konzept des Grünen Kapitalismus hat eine stark beruhigende Wirkung auf die Menschen. Die Krise der modernen Naturverhältnisse wird umdefiniert zu einer globalen Aufgabe, unser bisheriges System des Wohlstands zu reparieren. Dafür müssten, so das Credo, die Potentiale unserer innovativen Ingenieure und Unternehmer mobilisiert werden. Der Kapitalismus und freie Märkte, so beruhigen wir uns, sind die besten Garanten dafür, um auch ökologische Probleme zu lösen.

IV.

Zur Gliederung des Buches: Das „Problem“ im Umgang mit der ökologischen Krise fängt schon damit an, wie man das Problem richtig beschreibt. Dadurch wird der Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen „Lösungen“ gesucht werden. Die öffentliche Debatte und das Handeln der Akteure in Politik und Wirtschaft bewegt sich zwischen routiniertem Pragmatismus und apokalyptischen Weltuntergangsszenarien. Auf diese Weise bleibt unverstanden, worin die tieferen Gründe für die Krise unserer Lebensweise bestehen.

Nach einer kurzen Einstimmung, mit der die politisch-mentale Ausgangssituation skizziert werden soll (Kapitel 1), werde ich in Form einer kulturhistorischen und philosophischen Analyse den Paradigmenwechsel erörtern, der mit Francis Bacon und den grundstürzenden Veränderungen des 15. bis 17. Jahrhunderts in die Welt kamen (Kapitel 2). Die Trennung des Menschen von der Natur und deren Instrumentalisierung, stellen grundlegende Veränderungen der Naturbeziehungen dar, die auf den Übergang zur Moderne datieren. Die Vorstellung, dass die Natur als Materie zur Befriedigung der menschlichen Wünsche vom Menschen beherrscht werden muss, damit dieser sein irdisches Glück finden kann, bildet das Signum der Moderne. Dieser Glaube ist in die technischen, ökonomischen und kulturellen Praktiken der Neuzeit eingeschrieben. Auch unser Freiheitsbegriff und die heutigen Formen der Subjektivität finden ihren Grund in der Trennung und Entgegensetzung von Mensch und Natur. Mit der Krise der modernen Naturverhältnisse steht also unser gesamtes Zivilisationsmodell zur Disposition.

Das auf Bacon zurückgehende Konzept von Fortschritt durch Wissenschaft und Technik wurde seit dem 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung zum ökonomisch-gesellschaftlichen Realversuch. Mittlerweile ist ein kapitalistischen Weltsystem entstanden, das unsere Produktions- und Lebensweise prägt. Die modernen Naturverhältnisse sind uns aber nicht nur äußerlich, sondern sie sind in unseren Lebensformen, den Weltbildern und in unserem Selbstbild als autonomes Wesen verankert. Mit diesen Bezügen werde ich mich in Kapitel 3 befassen. Damit möchte ich zugleich verstehen, welche Gründe Menschen veranlassen könnten, sich zu verändern und ihre nicht-nachhaltigen Formen des materiellen Glücks aufzugeben.

Der starke Grund warum wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise grundlegend verändern müssen, ist die Unmöglichkeit der Freiheit für alle unter den Bedingungen imperialer Lebensweisen, wie sie zum demokratischen Kapitalismus notwendigerweise gehören. Um die Zivilisationskrise abzuwenden, die zu katastrophischen Folgen führen wird, ist ein starkes und mobilisierungsfähiges Ziel notwendig, das die Klimaschutzbewegung bisher nicht entwickelt hat. Die Utopie einer Kultur, in der das essentielle Bedürfnis nach einem freien und selbstbestimmten Leben für alle Menschen im Einklang mit der Natur möglich wird, ist das stärkste Argument, das sich für eine Überwindung unseres heutigen Kulturmodells in Stellung bringen lässt. Mit dem normativen Ziel der nachhaltigen Freiheit als Bezugspunkt, nehme ich die universellen Werte der Aufklärung auf und stelle sie in den Kontext von Nachhaltigkeit.

Um zu beurteilen, welchen Anforderungen eine Antwort auf die Herausforderungen genügen müsste, werde ich im Kapitel 4 das Konzept der Nachhaltigkeit diskutieren. Es kann das Gegenprinzip zum modernen Fortschrittskonzept bilden. Nachhaltigkeit ist heute ein vager Begriff, nicht selten mehr Verpackung als Inhalt. Ich will zeigen, dass der Kern der Nachhaltigkeitsidee trotzdem als regulative Idee für Transformationsstrategien gut geeignet ist. Mein Begriff von Nachhaltigkeit dient als politisch-normative Leitidee für ein gutes Leben für demnächst zehn Milliarden Menschen auf der Erde, im Einklang mit den planetarischen Grenzen. Zugleich lässt sich dieses Verständnis mit einem Konzept des guten Lebens verbinden, das der humanen Idee der individuellen Selbstverwirklichung verpflichtet ist. Orientiert am Nachhaltigkeitsprinzip kann es uns gelingen, die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu sichern, die heute durch die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen gefährdet sind. Nachhaltigkeit kann damit zur Leitidee einer neuen Kultur werden, die am Naturwohl des Ganzen ausgerichtet ist, dessen Teil wir werden können.

Lässt sich dieser hohe Anspruch aber auch innerhalb der heutigen Grundlagen der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise verwirklichen? Mit dieser Frage werde ich mich in Kapitel 5 auseinandersetzen. Ich werde Gründe darlegen, warum das Konzept einer nachhaltigen Welt und die kapitalistische Logik unvereinbar sind. Zugleich werde ich zeigen, warum der Versuch, das Betriebssystem des Kapitalismus zu modernisieren, wie es Strategen des Grünen Kapitalismus anpreisen, nicht zu einer nachhaltigen Welt führen kann. Dieser Ansatz, der an der imperialen Lebensweise und der Strategie der Externalisierung festhält, wird vielmehr die bestehenden globalen sowie innergesellschaftlichen Ungerechtigkeit und Spaltungen vertiefen. Gelingende Lernprozesse, die an den Ursachen unserer Mehrfachkrise ansetzen, so meine Schlussfolgerung, müssten dem Lernziel folgen, sich in einer endlichen Welt unter den Bedingungen einzurichten, die die Natur vorgibt. Wir müssen anerkennen, dass Freiheit nur unter Bedingungen möglich ist, die uns die Natur setzt.

In Kapitel 6 werde ich die bisherige Kritik bündeln und orientiert an meinem Verständnis von Nachhaltigkeit fragen, welche Anforderungen eine kulturelle und politische Alternative erfüllen müsste, damit ein gelingendes Leben für alle Menschen im Einklang mit den planetarischen Grenzen möglich wird. Ohne eine neue Beziehung zur Natur, in der wir uns als Teil der Natur begreifen, wird eine Überwindung des heutigen Kriegs gegen die Natur nicht möglich sein, so meine These. Ich werde zwar keinen Bauplan, jedoch Elemente für eine Konzeption nachhaltiger gesellschaftlicher Naturbeziehungen zur Diskussion stellen. Abschließen werde ich mit einigen Hinweisen, welche konkreten Transformationsschritte ich in den zentralen Politikbereichen für erforderlich halte.

V.

Indem wir als Menschen Kultur hervorbringen, greifen wir in die Natur ein und verändern sie. Wie wir das aber tun ist entscheidend. Dabei handelt es sich nicht um eine technisch-instrumentelle Frage, sondern um die Frage, wie wir der Natur, deren Teil wir ja sind, begegnen. Machen wir uns bewusst, dass wir ohne die Güter der Natur nicht einen Augenblick leben könnten, wird uns klar, dass wir Verantwortung gegenüber der außermenschlichen Natur tragen. Wir schulden ihr, die Mannigfaltigkeit zu wahren, damit sich die nichtmenschlichen Lebensbereiche ebenso erhalten und entwickeln können, wie wir das für uns Menschen beanspruchen. Wenn uns das Wohl der Mitnatur am Herzen liegt, ergeben sich weitreichende Folgerungen für die Wirtschafts- und Lebensweise, die ich zum Schluss des Kapitels diskutieren werde.

Für den Ansatz, den ich im Schlusskapitel entwickelt habe, ist das Verständnis von Freiheit zentral, welches ich aus einer Kritik am liberalen Freiheitsbegriff gewinne. Ich werde deutlich machen, warum eine nachhaltige Welt mit einem am Ziel der individuellen Nutzenmaximierung ausgerichteten Verständnis von negativer Freiheit unvereinbar ist. Dagegen werde ich den Begriff der nachhaltigen Freiheit setzen. Nachhaltige Freiheit folgt dem politischen Konzept, die Natur als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit anzuerkennen. Die notwendigen Voraussetzungen für eine nachhaltige Freiheit können nur im Rahmen demokratischer Lebensformen realisiert werden. Ob ein gutes Leben im Einklang mit der Natur gelingt, entscheidet sich zwar individuell, ob es aber gelingen kann, hängt von Bedingungen ab, die nur gemeinschaftlich geschaffen werden können.

Hier schließt sich nun der Kreis. Die Kritik an den kapitalistischen Lebensformen, die unsere Zivilisation gefährden, verschränkt sich mit dem Entwurf einer neuen Freiheitskonzeption, die an gesellschaftliche Bedingungen gebunden ist und auf einem neuen Verhältnis des Menschen zu seiner Mitnatur beruht. Wenn uns die Natur nicht mehr Mittel ist, sondern wir uns als ihr Teil erfahren, eröffnet uns dies die Möglichkeit, unserer Natur gemäß zu leben und die gesellschaftlichen Bedingungen in diesem Sinne zu gestalten.

Auf die Frage, warum wir unsere heutigen Lebensformen ändern sollen, ist nunmehr eine Antwort möglich: Weil wir dadurch die Möglichkeiten eines gelingenden Lebens für alle Menschen im Einklang mit den natürlichen Grenzen dauerhaft sichern. Die Vision einer Welt, die ihr Wohlergehen im Einklang mit den Grenzen der Natur sichert und eine Zukunft, die es allen Menschen ermöglicht, ihre individuellen Fähigkeiten zu verwirklichen, mag angesichts der dystopischen Zukunftsbilder, mit denen wir apathisch gemacht werden, unrealistisch erscheinen. Meine Hoffnung beruht auf der Annahme, dass es uns wichtig ist, im Rahmen unseres zeitlich befristeten Daseins auf Erden ein gelingendes Leben zu erreichen. Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung bildet deshalb in meinen Überlegungen die starke Motivation, um Energien zur Überwindung unserer nicht-nachhaltigen Gegenwart zu mobilisieren.

VI.

Große Teile der Klimabewegung, allen voran die grünen Parteien sprechen heute von der „ökologischen Modernisierung“ und der Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie. In einer Zeit, in der kritische Gesellschaftsanalysen kaum mehr eine Rolle spielen und Theorie als verzichtbar angesehen wird, muss man sich nicht wundern, dass auch Menschen, die für eine andere Klimapolitik kämpfen und solche, die damit Wahlen gewinnen wollen, den hegemonialen Diskursstrukturen unserer Gesellschaft verhaftet sind. Ich kann deshalb auch diese Hauptlinie der Klimabewegung von Kritik nicht ausnehmen, insbesondere deshalb, weil sie ihre Lösungen innerhalb der Logik der modernen kapitalistischen Naturverhältnisse sucht. Wenn es der ökologischen Bewegung nicht gelingt, eine Vorstellung von post-kapitalistischen Naturverhältnissen zu entwickeln und diese mit einer transformatorischen Praxis zu verbinden, wird ihr reformistischer Ansatz den objektiven Notwendigkeiten einer ökologischen Politik nicht genügen.

Eine Bewegung, die etwas Richtiges will, braucht ein positives Ziel. „Den Klimawandel stoppen!“ ist kein Ziel, sondern ein Zweck. Die Klimaschutzbewegung ist in mehrfacher Hinsicht beschränkt: Zum einen hindert sie die starke Fixierung auf die Klimaziele, den umfassenden Charakter der Bedrohung der ökologischen Grundlagen unserer Zivilisation zu erkennen. Zum andern verfügt sie über keine Vision einer besseren Welt. Deshalb entgeht ihr auch der Zusammenhang zwischen der ökologischen Zerstörung der Welt, die im Klimawandel ihre besonders prägnante Form gefunden hat, der sozialen Ungleichheit und der Ausbeutung der Länder des Südens. Alle drei Entwicklungen haben ihre Ursachen in den herrschenden ökonomischen Strukturen des globalen Kapitalismus und bedingen einander.

Ich halte es für einen großen Mangel, dass die Klimaschutzbewegung nicht ernsthaft versucht, ihr Anliegen in den größeren Zusammenhang der Frage zu stellen, wie wir künftig auf diesem Planeten gut leben können – im Einklang mit der Natur. Diese Schwäche führt dazu, dass die sozialen Anliegen der Menschen, die Entfremdung in unserer Arbeits- und Konsumgesellschaft und sogar wichtige Themen der Ökologie, wie der Erhalt der natürlichen Vielfalt nur als Randthemen – wenn überhaupt – in den Blick geraten. Ihre Lösungsperspektive bleibt deshalb verengt.

Um das Anliegen des Klimaschutzes, des aktuell bestimmenden Themas der ökologischen Bewegung erfolgreich zu vertreten ist es notwendig, diesen in eine umfassende Konzeption von Nachhaltigkeit einzubetten. Nur in diesem Kontext wird der Zusammenhang zwischen den genannten Faktoren darstellbar und politisch relevant. Zugleich bietet das Konzept der Nachhaltigkeit einen positiven Ansatz der Mobilisierung für eine motivierende Zukunftsvision, während die Angst vor den Folgen des Klimawandels auf Dauer lähmen.

Gründe für eine Transformation unserer Wirtschafts- und Lebensweise gibt es nicht erst, seitdem der Klimawandel ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist und Fridays for Future und andere die Dringlichkeit von Klimaschutz anmahnen. Die wachsende soziale Ungleichheit, die Unfreiheit der Menschen in der Arbeit, überhaupt die entfremdeten Bedingungen, unter denen die meisten Menschen arbeiten müssen, die soziale Vereinzelung, die Zerstörung traditioneller Kulturen, die Missachtung von Menschenrechten – sind die Folgen eines Wirtschafts- und Lebensmodells, das sich das gute Leben nur als Genuss von Konsumgütern vorstellen kann. Hier könnten sich die Klimabewegung und die sozialen Bewegungen begegnen und sich mit der Emanzipation der Geschlechter, der Menschenrechtsbewegung und dem Kampf für eine gerechte Eine Welt vereinen. Sie könnten erkennen, dass ihre jeweiligen Ziele nur erreicht werden können, wenn man vereint für ein besseres Leben kämpft. Die Leitidee der nachhaltigen Freiheit könnte die verschiedenen Ansätze verbinden.

VII.

Ein „Weiter so“, auch mit grünem Anstrich, wird die Grundlagen unseres bisherigen Wohlstandsmodells nicht retten können. Nichts wird so bleiben wie es ist. Wir stehen vor der Alternative einer Transformation „by desaster“ oder „by design“. Die Entwicklung einer umfassenden politischen Perspektive ist eine Frage der Praxis und nicht der Theorie. Sie ist aber auf eine Gesellschaftskritik und ein theoretisches Fundament angewiesen.

Scheitern wir mit der Entwicklung einer attraktiven Perspektive, um das kapitalistische Fortschrittsmodell zu transformieren, so werden sich in der politisch-kulturellen Auseinandersetzung der nächsten Jahrzehnte in den westlichen Gesellschaften zwei Lager herausbilden: Der eine Teil wird sich an den einstürzenden Teilen des modernen Wirtschafts- und Lebensmodells festklammern, um im regressiven Modus möglichst viel von dem, was ihnen vertraut ist, für sich persönlich zu erhalten. Andere werden sich auf die Suche nach einem lebensfähigen neuen Modell globaler Gerechtigkeit machen. Es sind jene, für die ich dieses Buch geschrieben habe. Ihre Zahl ist heute leider überschaubar.

Unsere Welt steht vor einem Epochenwechsel, vergleichbar dem Übergang von der mittelalterlich-kosmischen Ordnung zur Moderne. Wir können diese Zäsur für uns, hier im globalen Norden vielleicht für eine Generation aufschieben, wenn wir unseren imperialen Lebensstil zu Lasten Dritter im Rahmen eines grünen Kapitalismus fortsetzen. Allerdings werden die Kosten dieses „Weiter so“ steigen und die sozialen Widersprüche auch im Norden werden sich verschärfen. Wenn wir die notwendigen Einsichten weiterhin verweigern, werden wir die Chance für einen bruchlosen Übergang in eine neue Zivilisationsepoche verspielen. Uns wird dann das gleiche widerfahren, was bereits zum Untergang früherer Kulturen geführt hat.

Es wäre ein Akt der Klugheit, auf die Illusion der Souveränität der Konsumenten zu verzichten und dafür gemeinsam Wege zu finden, klug mit knappen Gütern umzugehen. Aber dürfen wir darauf hoffen? Wir verfügen in der Tat über kein Beispiel aus der bisherigen Menschheitsgeschichte, dass eine Kultur ihren Niedergang dadurch abwenden konnte, indem sie rechtzeitig strukturelle Transformationen eingeleitet hat. Wie Jared Diamond belegt, blieben die Gesellschaften ihren Entwicklungspfaden und Überzeugungen treu, statt zu erkennen, dass die Bedingungen ihres bisherigen Erfolges weggefallen sind (Diamond, Jared, 2006). Es spricht auch jetzt nicht viel dafür, dass die Übergänge in eine neue historische Etappe harmonisch verlaufen werden.

Dieses Buch ist von der Skepsis geprägt, ob wir uns als lernfähig erweisen, um die Zivilisationswende noch zu meistern und aus der selbstverschuldeten Bedrohung unserer Lebensbedingungen herauszufinden. Diese Skepsis ist vor allem in den vielfältigen Hindernissen begründet, die uns an das kulturelle System des Kapitalismus und seinen materiellen Verlockungen binden.

Meine geringe Hoffnung knüpfe ich an die Idee der Freiheit, deren Motivationskraft wieder entdeckt werden muss. Es handelt sich dabei aber um eine Freiheit, die sich nicht mit dem Konsumentenglück zufriedengibt, sondern die die Verwirklichung der Menschen als selbstbestimmte Naturwesen zum Ziel hat.

Der kritische Zustand der globalen Ökosysteme und der Senken macht die Einschränkung der Konsumentensouveränität zu einer Überlebensfrage. Dieser „Verzicht“ kann aber durch die Erlangung der Möglichkeit der Selbstbestimmung mehr als kompensiert werden. Die ökologische Krise bietet die Chance, die kleine Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden und die Hoffnung der Aufklärung auf Selbstbestimmung einzulösen. Diese Utopie ist zugleich mit der Entgrenzung der Demokratie im Bunde. Da Freiheit auf Bedingungen angewiesen ist, die die Menschen nur gemeinsam politisch erringen können, umfasst das Konzept der Nachhaltigkeit auch das Ziel, alle Bereiche des Lebens, die wir teilen, dem demokratischen Gestaltungsprozess zu öffnen.

VIII.

Sind das nur Träumereien angesichts der Übermacht von Ignoranz und der Macht der bornierten Besitzstandsbewahrer? Der Historiker Christopher Clark hat dargelegt, dass es selbst in totalitären Systemen keine absolute Macht gegeben hat. Jede noch so stabil wirkende Mauer der Macht weist Sprünge und Ritzen auf (Clark, Christopher, 2020). Macht ist zudem, gerade in unserer Zeit nicht hierarchisch, sondern ihr Organisationsprinzip gleicht eher dem Rhizom. „Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden; es wuchert entlang seinen eigenen oder anderen Linien weiter“ (Deleuze, Gilles; Guattari, Felix, 1976, S. 16). Allerdings lässt sich dieses „Gespinst“ nicht, wie Marxisten früher meinten „mit einem Schlag“ beseitigen und ein neues Kapitel der Geschichte aufschlagen; vielmehr ist dieses Gespinst klebrig, widerspenstig und langlebig, weil wir selbst ihr Teil sind. Die Macht ist nichts Objektives, das unabhängig von uns überhaupt existieren könnte. Macht ist, was uns als Subjekte formt und die Richtung unseres Begehrens weist. Macht bedeutet, dass wir uns unterwerfen, dass wir das Subjekt werden, ohne das Macht nach Michel Foucault nicht existieren würde. Jede Person hat aber auch die Macht, ein anderes Subjekt zu werden.

Wir Menschen gelten den Tieren aufgrund der Ausstattung mit Vernunft und Sprache als überlegen. Ob das nun berechtigt ist oder nicht, sei dahingestellt. In jedem Fall aber verfügen wir über eine Gabe, die nur wir besitzen: Die Fähigkeit, uns Bilder einer gewünschten Welt zu machen und diese planvoll umzusetzen. Die Imaginationskraft ist die entscheidende Energie, mit der wir Neues schaffen können. Die Vorstellung einer besseren Welt, einer Neuinterpretation unseres In-der-Welt-Sein verleiht Flügel. Fiktionen erzeugen Wirklichkeit!7

Allerdings ist die Zukunft nicht beliebig. Wir müssen mit dem Material arbeiten, das wir vorfinden. Die natürlichen Rahmenbedingungen können wir nicht beeinflussen, sie bestimmen unseren Spielraum, aber alles andere ist kontingent. Die Geschichtswissenschaft hat uns über die Erfahrungen des Scheiterns von Zivilisationen aufgeklärt. Wir haben also die Möglichkeit, daraus zu lernen. Ob wir es tun, liegt an uns.

Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass sich die natürlichen Lebensbedingungen der nächsten Generationen zum Schlechteren wenden werden. Damit wird die Freiheit des Einzelnen, aber auch der gemeinsame Spielraum, die Zukunft nach eigenen Vorstellungen zu gestalten schrumpfen. Dies gilt selbst dann, wenn immer mehr Menschen bereit sein sollten, die Macht in Frage zu stellen, die der Wachstumskapitalismus über sie hat.

Nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnung mussten viele Generationen unter chaotischen Entwicklungen, Kriegen und sozialen Krisen leben, weil die Lernblockaden der bisherigen Gesellschaftsformation einen friedlichen Wandel verhindert hatten. Ähnliches steht unseren Kindern und Enkeln bevor.

IX.

Historische Entwicklungen sind die Folge von langsamen, aber zielgerichteten Prozessen und Strukturen. Sie verlaufen in Zeitlupe. Plötzliche Einzelereignisse sind eher die Ausnahme. Wir verfügen über kein Sensorium für schleichende Prozesse, die sich über Generationen hinweg allmählich entwickeln. Deshalb fällt es uns schwer, die Signatur dieser trägen Entwicklungen zu entschlüsseln. Diese Prozesse und die Strukturen in ihren Zusammenhängen zu erkennen und zu deuten, verlangt Theoriearbeit und die historische Betrachtung. Wenn wir verstehen, wie etwas entstanden ist und wie die verschiedenen Stränge zusammenhängen, können wir die Kräfte begreifen, die hinter den wahrnehmbaren Phänomenen wirken, mit denen wir uns in unserem Alltag auseinandersetzen.

Eine zweite Schwierigkeit kommt hinzu. Um komplexe gesellschaftliche Entwicklungen theoretisch zu begreifen, müssen wir mit abstrakten Begriffen hantieren, die wissenschaftlich in einem anderen Sinne als im Alltag gebraucht werden. Die „Arbeit des Begriffs“ (Hegel) ist für die Verständigung wichtig, sie erschwert leider auch oftmals die Lektüre. Alle diese Schwierigkeiten kann ich dem Leser jedoch nicht ersparen.

Eine Re-Politisierung der ökologischen Debatte, wie ich sie mit diesem Buch anstrebe, kommt ohne normative Vorstellungen über die Frage, wie wir künftig leben wollen, nicht aus. Bevor man aber grundsätzliche Fragen dieser Art politisch diskutieren kann, muss die ökologische Frage in der Sprache der Gesellschaftswissenschaften re-formuliert werden: Worum geht es bei der Klimakrise? Was sind Ursachen, jenseits der physikalischen Erklärungen durch Klimamodelle? Wie konnte es zur drohenden Klimakatastrophe kommen? Welche kulturellen, ökonomischen und ideologischen Ursachen gibt es dafür? Die gesellschaftspolitische Re-Formulierung der ökologischen Frage ist wesentliches Ziel dieses Buches.

Dieser Text wendet sich jedoch nicht an die wissenschaftliche Community, sondern an politisch interessierte Mitbürgerinnen und Mitbürger, denen die Entwicklung unseres Planeten Sorge bereitet. Ich will vermitteln, dass die Entwicklung einer zielgerichteten Strategie im Kampf gegen die ökologische Zivilisationskrise ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge voraussetzt.

Ich habe während der Befassung mit dem Thema gemerkt, dass ein grundlegendes Verständnis für die Leitfrage dieses Buches nur gewonnen werden kann, wenn ich neben soziologischen, politischen und ökonomischen Aspekten und Quellen auch solche aus dem Gebiet der Philosophie und der Kulturgeschichte, ja auch der Religionsgeschichte heranziehe. Schon die gebotene Begrenzung des Umfangs, aber auch die Kapazitäten eines Einzelnen ließen es nicht zu, jede der von mir formulierten Aussagen so umfassend zu erörtern, wie dies wissenschaftliche Standards erfordern würden. Auch eine gründliche Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Stimmen und möglichen Gegenargumenten in den verschiedenen Debatten, in die ich mich hier einmische, ist aus den gleichen Gründen nicht möglich.

X.

Man könnte sagen, wir erleben heute einen „Schiffbruch mit Zuschauer“.8 Die Selfie-postenden Voyeure des Grauens an den Abrisskanten des Erdrutsches in der Eifel und der Ahr, nach den Überschwemmungen im Sommer 2021 wähnen sich noch als Unbeteiligte. Noch sind sie nur Teil des Problems, das sie besichtigen. Bald schon können sie selbst diejenigen sein, deren Häuser von den Wassermassen wie Kartenhäuser weggespült werden.

Die Moderne hat ihre Zukunft aufgebraucht. Zukunft war bis vor kurzem ein Morgen ohne Horizont, ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten. Wenn Menschen im Jahr 2021, als dieses Buch entstanden ist, über Zukunft sprechen, dann schwingt neben der Angst davor, die Kontrolle über die eigene Zukunft zu verlieren die Hoffnung mit, dass alles wieder so wird, wie in der Vergangenheit. Die Corona-Pandemie und das Ergebnis der Bundestagswahlen im Herbst 2021 haben deutlich gemacht, dass die „Rückkehr in die Normalität“ die bestimmende Haltung der Menschen in Deutschland ist. Angesichts der bevorstehenden unkontrollierten Veränderungen durch den Klimawandel dürfte sich diese Hoffnung schon in wenigen Jahren zu einer regressiven Erwartung wandeln.9

Wir befinden uns heute in einem Zustand, in dem „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann,“ wie Antonio Gramsci es einst formuliert hat. Wir stehen vor einem Epochenwechsel. Er findet bereits statt. Das Fortschrittsmodell der Moderne ist gescheitert. Der bevorstehende Umbruch betrifft unser aller Leben. Der Kulturwandel, der vor uns verlangt wird, der aber ungewiss ist, lässt sich auf eine kurze Formel bringen: Von einer Kultur der Grenzenlosigkeit zu einer Kultur, die klug in den Grenzen der Natur lebt. Es hängt von unserer Lernfähigkeit ab, wie schmerzhaft der Weg der nächsten Jahrzehnte wird.

1 (Benjamin, Walter, 1974, S. 1232)

2 In seiner Rede bei der UN-Umweltkonferenz am 22./23. Februar 2021 in Nairobi. Zit. nach Süddeutsche Zeitung v. 24. Febr. 2021

3 Nicht viel anders, wenngleich mit anderen Worten hat Ernst Haeckel 1866 den Begriff der Ökologie eingeführt: „Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle „Existenz-Bedingungen“ rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur; sowohl diese als jene sind, wie wir vorher gezeigt haben, von der grössten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen.“ Zit. nach Wikipedia

4 Zur Problematik der Ideologiekritik Rahel Jaeggi in (Jaeggi, Rahel; Wesche, Tilo, 2009, S. 266-298).

5 Dazu: (Böhme, Gernot, 1993 a)

6Ich lass mir den Krieg von euch nicht madig machen. Es heißt, er vertilgt die Schwachen, aber die sind auch hin im Frieden. Nur, der Krieg nährt seine Leut besser“ (Akt 7).

7 Jens Becker weist überzeugend nach, dass der Kapitalismus nur aufgrund der fiktionalen Erwartungen möglich ist, mit deren Hilfe Investoren, Spekulanten und Konsumenten ihr Handeln auf die Zukunft ausrichten (Beckert, Jens, 2018).

8 So der Titel einer kleinen Schrift von Hans Blumenberg (Blumenberg, Hans, 1979).

9 2017 hat Heinrich Geiselberger in einem Band unter dem Titel „Die große Regression“ Beiträge einer internationalen Debatte „über die geistige Situation der Zeit“ versammelt. Deren gemeinsamer Fokus bildete die Entwicklung der Demokratie unter dem Einfluss zunehmender populistischer Tendenzen in den modernen Gesellschaften. Mittlerweile steht „Regression“ für eine Signatur unserer kulturellen Lage zu Beginn der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts (Geiselberger, Heinrich (Hrsg.), 2017).

Abschied vom falschen Leben

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