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Pressekonferenz
ОглавлениеSonntag, 27. August
Franziska Berger traf eine halbe Stunde vor elf Uhr an dem vierstöckigen Gebäude der Kriminalpolizeiinspektion in der Schildstraße ein. Der Wolfenbütteler hatte sie schon wieder genervt. Um 18 Uhr wollte er ihren Bericht für die Montagsausgabe haben. „Du kriegst die komplette erste Seite, Franziska“, hatte er gelokt, „und von mir aus auch die ganze dritte, wenn du sie brauchst. Bleib dran. Versuch, so viele Informationen wie möglich zu bekommen. Ich verlasse mich auf dich.“
Das Getue nervte sie. Sie selbst wollte wissen, was mit dem toten Kind passiert war, und konnte dabei zum Glück von ihrem Presseausweis profitieren. Scheiß doch auf die Auflage der Zeitung. Menschlichkeit ging in so einem Fall vor Geschäft.
Franziska kannte den Weg zum Presseraum der Kripo im Erdgeschoss. Es war schon allerhand los. Die meisten Kollegen der Konkurrenzblätter waren schon da. Der BR war mit einem Kamerateam vertreten. Schnell sicherte sie sich einen freien Platz in den vorderen Reihen. Alles war vorbereitet. Die Namensschildchen auf dem langgezogenen Konferenztisch vor ihr standen schon. Sie las von links nach rechts: Polizeimeister Helmut Vorndran, Aktenführer / Prof. Franziskus Stich, Rechtsmediziner und forensischer Anthropologe / Werner Grandjean, Kriminalkommissar und Pressesprecher / Harald Hagenkötter, Kriminalhauptkommissar und Kommissionsleiter. Auf der Stirnwand hinter der noch leeren Stuhlreihe prangte in großen Buchstaben Polizeipräsidium Oberfranken.
Pünktlich um elf Uhr öffnete sich eine Seitentür. Die auf den Namensschildern Angekündigten hielten Einzug und nahmen ihre Plätze ein. Unruhe kam auf, Papier raschelte und die ersten Blitzlichter zuckten durch den Raum. Pressesprecher Grandjean griff nach seiner Brille, setzte sie auf seine Nasenspitze und sah über den Brillenrand in die Menge der anwesenden Journalisten. Es kehrte gespannte Ruhe ein. Alle hingen an den Lippen des Pressesprechers. Der ließ sich Zeit, bis auch der letzte Husterer, das letzte Schnäuzen verklungen waren.
„Meine Damen und Herren von den Medien“, begann er, „ich heiße Sie herzlich willkommen hier in der Kriminalpolizeiinspektion Bamberg, auch wenn der Anlass dazu nicht gerade ein freudiger ist.“ Dann stellte er seine Kollegen links und rechts neben sich vor, bevor er zur Sache kam: „Wie Sie zwischenzeitlich alle wissen, wurde gestern gegen neun Uhr ein auf dem Linken Regnitzarm treibender weiblicher Leichnam entdeckt, den der Fluss in Höhe der Schleuse 100 angetrieben hat. Einem Jogger ist der Leichnam aufgefallen, er hat über sein Mobiltelefon unverzüglich die Notfallrufnummer 110 angerufen. Vor Ort stellte sich heraus, dass es sich bei dem Leichnam um ein Mädchen im Alter von vermutlich elf Jahren handelte. Die Tote war völlig entkleidet, persönliche Gegenstände wurden weder an ihrer Person noch im Umkreis der Fundstelle entdeckt, was unter anderem dazu führt, dass wir ihre Identität noch nicht feststellen konnten.“
„Ist es richtig, dass das Mädchen einem Verbrechen zum Opfer fiel?“, schrie ein Reporter der Nordbayerischen Nachrichten ungeduldig dazwischen.
„Lassen Sie uns bitte erst vollständig berichten, bevor wir auf Ihre Fragen eingehen“, wehrte Grandjean die Frage ab. „Aber so viel vorab: Ja, es ist richtig, dass unser Rechtsmediziner und forensischer Anthropologe, Herr Professor Dr. Stich, bereits am Fundort Würgemale am Hals des Opfers festgestellt hat. Herr Professor Stich und einer seiner Kollegen haben die Tote zwischenzeitlich in der Rechtsmedizin Erlangen obduziert und der Herr Professor wird Sie gleich über die wesentlichen Erkenntnisse seiner Untersuchung informieren.“ Ein langer Blick fiel über den Brillenrand auf die versammelte Presse. „Kommen wir noch einmal kurz auf die Tote zurück: Bis jetzt liegen uns keine Vermisstenanzeigen vor. Wir tappen also im Dunkeln, um wen es sich bei dem toten Kind handelt. Was die Todesursache beziehungsweise die Gründe der Tat anbelangt, ermitteln wir in alle Richtungen, von Menschenhandel bis zum Sexualdelikt. Zu Todeszeitpunkt und -umständen bitte ich nun Herrn Professor Stich um seinen Bericht. Herr Professor?“
Der Rechtsmediziner sah in die Runde und räusperte sich. Er hatte bisher geradezu teilnahmslos gewirkt, fast wie ein Fremdkörper in der illustren Runde. Sein faltiges Gesicht ruhte aufgestützt in seinen Fingern. Sein Blick über den dicken Tränensäcken hatte irgendwo an der Decke gehangen, doch nun angesprochen kam Leben in seine stahlgrauen Augen und er ergriff das Wort: „Die Frage lautet doch: Ist das Kind in der Regnitz ertrunken oder wurde es bereits tot in dem Gewässer abgelegt, was man im Übrigen als Leichen-Dumping bezeichnen würde. Sprechen wir zuerst über das Ertrinken an und für sich: Der Tod tritt hierbei nach fünf typischen Phasen ein. Die kritischste ist die Phase drei, Dyspnoe genannt. Dabei ist der Ertrinkende bereits unter Wasser geraten und sein Körper versucht früher oder später zwangsweise, das letzte Mal nach Sauerstoff zu schnappen. Doch es ist bereits zu spät. Bei diesem letzten Luftschnappen wird Wasser aspiriert, das sich dann in den Atemwegen mit Luft und Schleim vermischt. Nur ein noch lebender Körper zeigt diese Reaktion. Ich meine dieses letztmalige, verzweifelte Schnappen nach Sauerstoff.“ Professor Dr. Stich ließ den Mund auf- und zuklappen wie ein Fisch. „Wird dagegen ein bereits toter menschlicher Körper im Wasser abgelegt, bleibt dieses letzte Luftschnappen verständlicherweise aus. Beim Tod durch Ersticken hingegen, zum Beispiel wenn jemand erdrosselt wird, zeigen sich andere Symptome, sogenannte Tardie’sche Flecken. Auffällige Erstickungsblutungen unter dem Lungenfell – wie im Fall unserer weiblichen Leiche. Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis meiner Untersuchungen eindeutig: Das Mädchen war bereits tot, als es in den Fluss geworfen wurde. Das heißt, wir sprechen von einem gewaltsamen Tod, vermutlich von Mord.“
Das hektische Kratzen von Stiftspitzen über Papier, gepaart mit eifrigem Tastaturklappern, erfüllte den Raum.
Stich hob einen Finger und dozierte weiter: „Das bringt uns zum Todeszeitpunkt. Dazu ist generell zu sagen, dass der Verwesungsprozess eines menschlichen Körpers im Wasser wesentlich langsamer voranschreitet als dies an der Luft der Fall ist. Dennoch, auch unter Wasser tun unsere bekannten Darmbakterien ihren Dienst, verstoffwechseln den menschlichen Körper von innen her und produzieren dabei Gase. Irgendwann reicht die Dichte der Leiche dann nicht mehr aus, um den Körper unter Wasser zu halten, er treibt an die Oberfläche. Das alles hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie beispielsweise der Wassertemperatur, der Wasserqualität, der Wassertiefe und anderen Gegebenheiten. Je tiefer eine Leiche im Wasser liegt, desto höher ist der Wasserdruck. Einmal in große Tiefe gesunken, kommt der Ertrunkene wahrscheinlich nie mehr nach oben.“ Der Professor gestikulierte und redete sich regelrecht in Rage: „In der Regnitz herrschen aber eigene Bedingungen, insbesondere was die derzeitigen Wassertemperaturen anbelangt. Nach meinen Einschätzungen, basierend auf besagten aktuellen äußeren Bedingungen, dürfte das tote Mädchen vor sieben bis zehn Tagen im Fluss abgelegt worden sein. Dennoch – dass sie gefunden wurde, ist ein großer Zufall, denn länger als 30 Minuten treibt ein menschlicher Körper im Normalfall nicht an der Wasseroberfläche. Irgendwann sind die Gase aus ihm entwichen, dann taucht er natürlich wieder unter. Auf eines muss ich in diesem Zusammenhang deutlich hinweisen: Der Grund des Linken Regnitzarms ist außergewöhnlich stark bewachsen, dazu kommen Hindernisse wie Steine und verhaktes Geäst, teils sogar knapp unter der Wasseroberfläche. Dies könnte dazu geführt haben, dass der Leichnam sich unter Wasser verhakt hat, vielleicht sogar mehrmals, und der Verwesungsprozess so beeinflusst wurde. Auch postmortaler Tierfraß, zum Beispiel durch Aale, kann einen hohen Einfluss auf die Treibedauer an der Oberfläche haben. Dennoch: An der Schleuse 100, wo die Leiche des Mädchens entdeckt wurde, verursacht die Strömung der Regnitz leichte Wirbel. Nur so ist es aktuell zu erklären, dass die Tote nach der langen Liegezeit im Wasser noch auf der Oberfläche trieb.“
Der Rechtsmediziner sah einen Moment versonnen in die Runde. „Soweit meine Ausführungen“, endete er dann und schien selbst erstaunt, endlich zum Punkt gekommen zu sein.
„Darf ich noch einen kurzen Moment um Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit bitten“, schaltete sich nun Kriminalhauptkommissar Hagenkötter in die Gesprächsleitung ein und unterband damit die aufkommende Unruhe. „Sie haben alle gehört, was der Professor gesagt hat. Wir konzentrieren uns bei unseren Ermittlungen also auf verdächtige Vorgänge, die sich vor rund sieben bis zehn Tagen am Flussufer zugetragen haben könnten und möglicherweise beobachtet wurden. – Und nun zu Ihren Fragen.“
In der ersten Reihe hob ein BILD-Reporter den rechten Arm und schoss direkt seine Frage ab: „Was tun Sie im Moment, um die Identität des Opfers festzustellen?“
„Nun, unsere Teammitglieder konzentrieren sich zunächst auf alle Schulen in Bamberg und der näheren Umgebung. Ob wir allerdings jetzt in der Ferienzeit die betreffenden Schulleiter antreffen werden – wir werden sehen. Parallel erhoffen wir uns durch Ihre Berichterstattung Hinweise aus der Bevölkerung.“
Auch Franziska hatte ihre Hand gehoben.
„Ja, Frau Berger?“, erteilte ihr Hagenkötter das Wort.
„Gibt es konkrete Hinweise, dass das Mordopfer sexuell missbraucht wurde?“, wollte sie wissen. „Ich meine, wenn Sie schon in Richtung Sexualdelikt ermitteln? Schließlich ist es doch nicht normal, dass ein Kind völlig nackt in der Regnitz treibt?“
„Tut mir leid, darauf kann ich keine Antwort geben. Das könnte unsere Ermittlungsarbeit negativ beeinflussen.“
„Also ja“, ließ die Fränkischer-Tag-Reporterin nicht locker.
„Keine weiteren Kommentare dazu.“
„Warum sollte das Kind denn sonst nackt sein?“, wollte ein anderer wissen.
„Darüber können wir im Moment nur spekulieren. Vielleicht, um uns die Feststellung der Identität zu erschweren.“
„Oder doch ein Hinweis auf sexuellen Missbrauch?“ hakte der Fragesteller nach.
„Wie gesagt, dazu kein weiterer Kommentar“, bekam er zur Antwort.
Franziska ging ein weiterer Gedanke durch den Kopf. Wieder hob sie die Hand.
„Ja, Frau Berger.“
„Sie sprechen davon, dass der Mörder das Mädchen vor rund sieben bis zehn Tagen in der Regnitz entsorgt hat. Heißt das auch, dass sie zu diesem Zeitpunkt ermordet wurde?“
Hauptkommissar Hagenkötter schien durch die Frage etwas überrascht und richtete seinen Blick auf den Rechtsmediziner Stich. „Eine gute Frage“, ergriff der das Wort, „eine sehr gute Frage, Frau Berger.“ Seine Tränensäcke hingen ihm wie Bleigewichte unter den Augen. „Und nein, das heißt es nicht. Wir wissen nicht, wie viel Zeit zwischen dem tatsächlichen Todeszeitpunkt und dem Zeitpunkt verstrichen ist, da man das Kind in die Regnitz geworfen hat.“
„Dann kann man den tatsächlichen Todeszeitpunkt nicht mehr feststellen?“
„Ich befürchte, dass es so ist“, gab der Rechtsmediziner zu. „Das liegt daran, dass eine möglichst genaue Todeszeitbestimmung in den meisten Fällen nur 36 Stunden nach dem Eintreten des Todes machbar ist. Natürlich bietet die forensische Entomologie auch darüber hinaus noch Möglichkeiten …“ Stirnen wurden gerunzelt, erneutes Raunen ging durch den Raum und Professor Stich sah sich zu einer Erklärung genötigt: „Entomologie, meine Damen und Herren, ist die Insektenkunde. Das Alter der diversen Insektenlarven auf frischen Leichen verrät dem geschulten Auge so einiges. Doch ich erinnere daran: Die Leiche trieb im Wasser. Da haben es Eier wie Larven der Schmeißfliege schwer. Bei einer Wasserliegezeit von zehn bis 14 Tagen kommt es stattdessen zur Besiedlung der Körperoberfläche mit Algenrasen. Das war bei dem Mädchen noch nicht der Fall. Also können wir relativ gut einschätzen, wie lange der Leichnam im Wasser trieb. Aber, wie gesagt, das hilft uns nicht viel bei der Bestimmung des exakten Todeszeitpunkts.“
„Konnten an der Wasserleiche noch Spermien festgestellt werden?“, versuchte es Franziska direkt beim Rechtsmediziner.
„Nach 72 Stunden ist dies kaum mehr möglich“, erklärte Professor Stich, „ob Wasserleiche oder nicht.“ Ein scharfer Blick von Hagenkötter ließ ihn hinzufügen: „Und dazu gibt es von mir auch keinen weiteren Kommentar mehr.“
Es folgten noch ein paar banale Fragen zu den Mitgliedern des Ermittlungsteams und der Verweildauer der Leiche im Fluss, dann schloss der Pressesprecher die Veranstaltung.
Die Journalisten strömten dem Ausgang zu. Ein jeder wollte so schnell wie möglich nach Hause. Es war schließlich Sonntag und erneut ein wunderschöner Sommertag, den man gerne im Freibad, auf dem Bierkeller oder ganz einfach daheim im Garten beim Grillen von Bratwürsten, Fleischspießen oder Steaks verbringen wollte.
Auch Franziska stand bereits vor dem Polizeigebäude und öffnete gerade das Schloss ihres abgesperrten Fahrrads, als eine junge Frau in ihrem Alter auf sie zukam: „Franziska? Bist du es? Wir haben uns ja Ewigkeiten nicht mehr gesehen!“
Die Angesprochene hob den Kopf. „Tina? Tina Meisel? Was machst du denn hier?”
„Ich arbeite hier“, bekam Franziska zur Antwort.
„Bei der Kripo?“
„Bei der Kripo!“
„Ich dachte, du wolltest Jura studieren und später die Kanzlei deines Vaters übernehmen?“
„Dachte ich am Anfang auch“, lächelte Tina Meisel, „aber nach vier Semestern war mir diese sture Paragrafen-Lernerei zu langweilig. Ich wollte was Sinnvolleres tun und hab mich bei der Polizei beworben.“
„Und dein Vater?“
„Der war natürlich tief enttäuscht. Aber dass ich nicht bis zu meinem Rentenalter zerstrittene Ehepaare scheiden will, musste er am Schluss einfach akzeptieren.“
„Na dann. Aber was für ein schöner Zufall, dass wir uns getroffen haben“, stellte Franziska fest. „Was machst du jetzt? Musst du heute noch arbeiten? Am Sonntag?“
„Nein, nicht wirklich, nach der Pressekonferenz ist für mich jetzt Schluss. Aber du bist als rasende Reporterin ja auch am Wochenende im Einsatz, wie’s aussieht.“
„Stimmt. Und was hast du jetzt vor?“, wiederholte die Journalistin ihre Frage.
„Jetzt fahre ich nach Hause.“
„Wartet jemand auf dich oder hast du Zeit? Eigentlich sollten wir unser unverhofftes Wiedersehen ordentlich feiern.“
Tina lächelte. „Nun, nachdem ich mich vor vier Wochen von meinem Verlobten getrennt habe, habe ich eigentlich wieder alle Zeit der Welt.“
„Wollen wir einen Kaffee miteinander trinken, ein bisschen quatschen? Komm, ich lade dich ins Domcafé ein. Die haben richtig leckere, leichte Schnitten.“
„Wow, ins Domcafè“, rief Tina begeistert, „da sage ich nicht nein. Und du glaubst, wir kriegen da am Sonntag noch einen Platz?“
„In einer halben Stunde schon“, meinte Franziska, griff zu ihrem Mobiltelefon und drückte eine eingespeicherte Nummer. „Draußen vor dem Eingang“, meinte sie, nachdem sie ihr kurzes Gespräch beendet hatte, „hält man für uns in der kleinen Sitzgruppe zwei Plätze frei.“