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Café am Dom
ОглавлениеSonntag, 27. August
Etwa zur gleichen Zeit nahmen Franziska Berger und Tina Meisel im kleinen Außenbereich des Domcafés ihre reservierten Plätze ein. Alle Stühle waren besetzt, wie fast immer an solch herrlichen Sonnentagen. Die Gäste schnatterten munter durcheinander, genossen ihre Kaffees mit leichten Quarkschnitten oder appetitlich zubereiteten Eisbechern. In der kleinen Ringleinsgasse, die vorbeiführte, wälzten sich die Touristen bergab und bergauf. Die einen wollten hinunter in die Dominikanerstraße, wo sie direkt auf das Bamberger Kultgasthaus Schlenkerla stießen, wo das besondere Rauchbier, bekannt für seinen an geräucherten Schinken erinnernden Geschmack, ausgeschenkt wird. Die anderen, die es die Ringleinsgasse hinauf in Richtung Karolinenstraße trieb, hatten von dort nur noch einen kurzen Weg zum Kaiserdom, zur Alten Hofhaltung oder zur Neuen Residenz mit ihrem bekannten Rosengarten, von wo man einen herrlichen Blick auf das ehemalige Kloster St. Michael genoss. Doch nicht nur Touristen füllten die Altstadt. Tausende von Bambergern ließen sich die Freude an ihrer abgesagten Sandkerwa nicht nehmen und durchstreiften in Feierlaune die engen Gassen.
Tina und Franziska indessen hatten eher Interesse an der reichhaltigen Karte des Cafés am Dom, in dem nach traditioneller Handwerkskunst gefertigte Spezialitäten offeriert wurden: frische und hausgemachte Kuchen und Torten, feine Pralinen, Sahnetrüffel und andere Leckereien; alles, was die Augen gerne aufnahmen, was der Zunge und dem Gaumen schmeckte und sich wohlig im Magen anfühlte. Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit hatten sich die beiden Frauen nicht mehr gesehen, obwohl sie doch in derselben Stadt wohnten. Damals waren sie beide gerade 20 gewesen, als sie am E.T.A Hoffmann-Gymnasium ihr Abitur gemeistert hatten. Rund neun Jahre waren seitdem vergangen, aber sie fühlten sich nach nur wenigen ersten holprigen Fragen schnell wieder verbunden.
Tina erzählte gerade, wie sie nach dem Abi erst einmal um die halbe Welt gereist war – vom Papa finanziert –, bevor sie sich an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen für ein Jurastudium eingeschrieben hatte. Franziska hatte niemanden gehabt, der ihr das Reisen hätte finanzieren können. Also hatte sie nach dem Abi für ein paar Monate bei einer örtlichen Supermarktkette gejobbt, Kartons geschleppt und Paletten gefahren, die Packstücke im Zentrallager eingeordnet oder in den riesigen Kühlraum gebracht. Ihr schwer verdientes Geld hatte sie gespart, bevor sie sich für das Herbstsemester an der örtlichen Otto-Friedrich-Universität eingeschrieben und sich fortan mit Medienkultur, Gesellschaftswissenschaften, Informationstechnik und Aspekten der Kommunikationspolitik auseinandergesetzt hatte. Als sie ihren Bachelor in Kommunikationswissenschaften in der Tasche gehabt hatte, war der Bewerbung bei der Mediengruppe Oberfranken in der Gutenbergstraße 1 nichts mehr im Weg gestanden. Vor zwei Jahren hatte sie sich sogar an die Finanzierung ihrer Eigentumswohnung Am Hollergraben gewagt.
„Und du hast zwischenzeitlich tatsächlich den Weg zum gehobenen Polizeiverzugsdienst eingeschlagen?“, wollte Franziska jetzt von ihrer ehemaligen Mitschülerin wissen.
„Ja und ich hab es bis heute nicht bereut. Wenn schon nicht Anwalt, dann zumindest ein Job, bei dem es auch um Recht und Gerechtigkeit geht. Wir haben ein gutes, kollegiales Team und ich fühle mich dort wohl.“ Tina klang überzeugt und aufrichtig. Die Arbeit bei der Kripo schien ihr wirklich enormen Spaß zu machen.
Franziska erinnerte sich an die gemeinsame Schulzeit. Tina Meisel hatte damals schon als unbedingt zuverlässig gegolten, was sie versprach, das hielt sie auch. Ihr roter Lockenkopf und die kecken Sommersprossen um die kleine Stupsnase herum waren es, die ihr zu ihrem damaligen Spitznamen Pumuckl verholfen hatten.
„Erzähl“, forderte Franziska sie jetzt auf. „So einfach kommt man doch nicht an eine Position wie die deine. Da war der Weg doch sicher hart?“
„Ach, da gibt es gar nicht so viel zu erzählen. Mit dem Abi in der Tasche war ich ja fast ein Jahr in der Welt unterwegs. Neuseeland, Australien, Japan, Thailand, Singapur, Bali und Indien. Nach vier Semestern Jura hab ich einfach keinen Sinn mehr gesehen und hingeschmissen. Alles viel zu weit weg vom echten Leben. Also Bewerbung bei der Kripo Bamberg. Eingestellt: als Kriminalkommissar-Anwärterin – das geht, wenn man Abi hat. Ansonsten muss man erst noch durch die harte Schule mit Streifendienst und Co. Die nächsten drei Jahre war ich an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Bachelorstudium. Zurück in Bamberg hab ich dann Bernd kennengelernt, war unheimlich verliebt, bis ich vor vier Wochen mitbekommen hab, dass er auch anderswo rumvögelt.“
„Und dann gleich die Trennung?“
„Na klar. Die andere hat den Trottel echt verdient.“
„Sicher wahr“, nickte Franziska. „Trotzdem klingt das ganz schön abgebrüht nach nur einem Monat. Du trauerst ihm echt nicht nach?“
„Ich hab ja einen großartigen Job, mit dem ich mich trösten kann. Seit zwei Jahren und acht Monaten bin ich jetzt als Kriminalkommissarin im Dienst.“ Tina strahlte.
„Wow, das klingt nach echtem Berufsglück, ich beneide dich.“
„Wieso das denn?“, wunderte sich die Polizeibeamtin. „Du stehst doch schon viel länger im Beruf, hast keine Zeit verloren wie ich, immer zielstrebig. Wahrscheinlich bist du auch sehr erfolgreich, ich hab deinen Namen immer wieder unter Artikeln bei uns im Fränkischen Tag gelesen – hab aber zu keinem Zeitpunkt vermutet, dass genau du dahintersteckst, sonst hätte ich mich längst schon mal bei dir gemeldet. Und seit der Schulzeit hast du dich auch kaum verändert – immer noch rank und schlank. Ganz ehrlich: Das ist ein schönes Leben. Was willst du mehr? Bist du eigentlich liiert?“
„Gott behüte, bloß das nicht!“
„Auch schlechte Erfahrungen?“, fragte Tina neugierig nach.
„Gott sei Dank nein. Der Richtige hat sich einfach noch nicht bei mir vorgestellt. Braucht er aber auch nicht so bald, ich bin ganz gern unabhängig.“
„Auch keine lose Beziehung?“
„Auch keine lose Beziehung!“, bestätigte Franziska.
„Und was machst du, wenn dir mal danach ist? Na ja, ich meine … wenn dir mal nach Sex zumute ist?“
Franziska musste lauthals lachen, schüttelte ihre blonde Tina-Turner-Mähne und meinte: „Dann gehe ich in den Mojow-Club, oder ins Agostea, da lernst du immer jemanden kennen.“
„Auch für einen One-Night-Stand?“
„Warum nicht?“
Die jungen Frauen grinsten sich an und rückten dann zur Seite, um dem Kellner Platz zu machen. Der stellte zwei Milchkaffees, eine Obstschnitte und einen beeindruckenden Eisbecher vor den beiden ab und wünschte guten Appetit.
Franziska griff nach ihrer Kuchengabel. „Sag mal, wenn du schon nicht in die Fußstapfen deines Vaters treten wolltest, hat sich dann wenigstens einer von deinen kleinen Brüdern erbarmt?“
„Axel oder Johannes als Anwalt?“ Tina lachte und zog den blauwandigen Kelch mit ihrem Früchteeis näher zu sich heran. „Kannst du dich nicht mehr an sie erinnern, wie faul die zwei damals waren? Null Bock auf gar nichts. Nur Flausen und Fußball im Kopf. Am Ende waren meine Eltern froh, dass sie überhaupt die Mittlere Reife geschafft haben.“ Sie stach beherzt in ihren Eisbecher. „Der Ehrgeiz kam bei den beiden erst viel später. Johannes hat sich dann bei Siemens in Erlangen beworben, für eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Und, was für ein Wunder, er wurde tatsächlich genommen. Heute bereist er als Vertriebler die halbe Welt und verkauft U-Bahnzüge. Anscheinend sehr erfolgreich. Vor zwei Jahren hat er die Liebe seines Lebens geheiratet – wie er sagt. In zwei Monaten wird er Vater.“
„Aber das ist doch schön“, freute sich Franziska. „Und Axel, der hoffnungsvolle Nachwuchsspieler vom FC Bamberg?“
„Ach, der Axel“, Tina verdrehte die Augen. „Der war ja schon immer ein Hitzkopf und ist das auch geblieben. Immer in Bewegung, Stillsitzen ist einfach nicht seine Sache. Mit der Fußballerkarriere ist’s leider nichts geworden, dafür hat er seine ganzen anderen sportlichen Hobbies zum Beruf gemacht. Der tanzt auf allen Hochzeiten: In Staffelstein betreibt er eine Paragliding-Schule, führt Wandergruppen durch die Fränkische Schweiz und bringt Leuten am Walberla bei Schlaifhausen das Klettern bei.“
„Oh, ein echter Naturbursche. Da fliegen die Mädels sicher scharenweise auf ihn“, warf Franziska ein.
„Schon, aber soviel ich weiß gibt es da nichts Festes. Das letzte, was ich von Axel zu diesem Thema gehört habe, ging in etwa so: Schwesterherz, die Weiber rennen mir die Bude ein, warum soll ich da mein Herz in feste Hände geben? Na ja, der Junge sieht schon gut aus, das muss man neidlos zugeben.“
Franziska lachte. „Was meinen die beiden eigentlich dazu, dass aus ihrer Schwester eine große Verbrecherjägerin geworden ist?“
„Ich glaube, sie finden das eigentlich ganz spannend. Nur Johannes wird immer spießiger, seit er verheiratet ist. Der würde mich lieber an einem Schreibtisch sehen, wo das gefährlichste die scharfen Kanten der Papierstapel sind. Tja.“
Einen Moment lang herrschte Schweigen, während Franziska und Tina beide nach ihren Milchkaffees griffen und den ersten Schluck genossen.
„Tina, was ist eigentlich deine Meinung zu dem Fall, den ihr seit gestern zu lösen habt?“, nahm Franziska den Faden wieder auf und gestikulierte mit ihrer Kuchengabel. „Ich meine das tote Mädchen aus der Regnitz?“
„Aha, auf diese Frage hab ich schon gewartet. Da meldet sich die eifrige Journalistin in dir. Du weißt aber, dass ich dir darüber nichts sagen darf.“
„Ja, ich weiß. Ich frage dich auch nicht, um darüber zu schreiben. Mir geht das arme Ding nur ständig durch den Kopf. So jung und schon tot. Ermordet. Was müssen das für Menschen sein, die so eine Tat begehen? Unvorstellbar. Schrecklich. Auch deshalb hab ich vorhin gesagt, dass ich dich beneide. Weißt du, anstatt immer nur von außen drüber zu schreiben, würde ich mich am liebsten selbst auf die Suche machen und den Mörder zur Strecke bringen.“
„Bloß nicht!“, schreckte die Kommissarin zurück. „Das könnte verdammt gefährlich werden. Dafür sind wir zuständig. Mein Chef, der Hagenkötter – du hast ihn auf der Pressekonferenz gesehen, der mit dem Schnauzbart – kriegt den Täter schon zu fassen. Da bin ich mir absolut sicher. Er ist geradlinig, vielleicht ein wenig querköpfig, aber gerecht – und ein verdammt guter Ermittler.“
„Ich meine ja nur … Oh, Mist!“ Franziska hatte einen Blick auf ihre Uhr geworfen. „Wie die Zeit dahinrast! Um 18 Uhr will mein Chef meinen Bericht über euren neuen Fall auf dem Tisch haben und ich hab noch keine einzige Zeile geschrieben. Ich muss, Tina. Treffen wir uns bald mal wieder? Ich hab mich so gefreut, dass wir uns nach so langer Zeit wieder begegnet sind. – Ich übernehme die Rechnung“, setzte sie hinzu, als Tina in ihre Handtasche greifen wollte und war kurz darauf winkend verschwunden.
Wer ist die Tote in der Regnitz?, hämmerte sie zuhause in die Tastatur ihres Laptops, nachdem sie am Hollergraben angekommen war. Vor ihrem geistigen Auge erschien der sich sachte drehende Leichnam des toten Mädchens, durch einen Wasserwirbel an der Oberfläche der Regnitz gehalten. Um viertel vor sechs drückte sie auf Senden und schickte ihren Beitrag an den Fatzke aus Wolfenbüttel.