Читать книгу Allmächd, scho widder a Mord! - Werner Rosenzweig - Страница 7
Nachtgiger – Nürnberg
Оглавление„A su a Scheißwedder, ned Fleisch ned Fisch. Warm is ned, kald is aa ned, und heid gehd der Chrisdkindlesmargd o. In drei Wochn hammer Weihnachdn, und um viera is finsder. Der Summer is mer lieber!“ Gunda Gierbich schimpfte wie ein Rohrspatz. „Mei gehd mier dees Wedder aufn Geisd. Den ganzn Dooch ka Sunna. Gerda, waßd du, wu der Raphael scho widder schdeggd? Der Lauser werd si doch ned scho widder ausn Haus gschlichn ham? Der Greizdunnerwedder-Hundsgrübbl! Irgendwann schloochin su ins Kreiz nei, dass nern sei Ausreißerei vergehd!“
Gunda Gierbich, die im Erlanger Ortsteil Frauenaurach geborene Fränkin, saß in ihrem zwanzig Quadratmeter großen Ankleidezimmer und lackierte sich ihre Krallen feuerrot. Sie stand etwas unter Zeitdruck und sah auf ihre diamantbesetzte Rolex. In einer Stunde, um achtzehn Uhr, hatte sie im Nürnberger Sheraton einen Termin mit ihren Freundinnen Yvonne, Doris, Thea und Gerlinde. Ihr monatlicher Galaabend stand mal wieder an, und sie musste mit ihrem Porsche Cayenne noch in die Innenstadt fahren.
„Iech hab gmaant, der Raphael is bei Iehna, gnädiche Frau“, rief Gerda Wunderlich, Köchin, Putzfrau und Kindermädchen zugleich, aus dem Erdgeschoss die Treppe hoch.
„Bei mier? Was solln der Fregger bei mier? Schau amol draußn nach, obsdn findsd!“
Der fünfjährige Lauser, Hundsgrübbl und Fregger war tatsächlich mal wieder entwischt. Dazu lag die Villa der Gierbichs aber auch zu verlockend direkt inmitten in der Natur, direkt am Rand von Großgründlach. Der älteste und nördlichste Ortsteil Nürnbergs, direkt an die Stadtgebiete Fürth und Erlangen angrenzend, nahe der Einflugschneise des Nürnberger Flughafens, zählt knapp fünftausend Einwohner. Dort, wo die Erlenhainstraße Dorf auswärts einen scharfen Rechtsknick macht, um kurz darauf vor offenen Feldern zu enden, liegt die moderne Villa der Gierbichs auf einem zweieinhalbtausend Quadratmeter großen Grundstück, eingerahmt von hohen Thuja-Hecken. In unmittelbarer Nähe fließt die Gründlach der Regnitz zu, und ungefähr dreihundert Meter dem Bachlauf folgend, stößt man auf einen kleinen Kastenwald, hinter dem der Mühlweiher liegt und fast bis zur Kleingründlacher Straße reicht. Eine reizvolle Gegend für einen Fünfjährigen um Indianerledz zu spielen. Viel reizvoller als auf dem eigenen Grundstück, welches im Sommer fast nur aus gepflegten Blumenbeeten und Rosenrabatten bestand und auf dem ein unkrautfreier englischer Kurzrasen angesät war, den man sowieso nicht betreten durfte. Die zehn Zimmer, drei Bäder, Bibliothek, Schwimmhalle, Krafttrainingsraum, Sauna und Kellerbar durfte Raphael nur unter Aufsicht erkunden. Einzig und allein sein Kinderzimmer, welches vor langweiligem Spielzeug überquoll, war sein Reich. Draußen am Bach, wo in der warmen Jahreszeit die Frösche hüpfen, und im Wald, wo hinter jedem Baum die feigen Indianer lauern, war es viel interessanter. Die konnte er mit seiner lärmenden und blinkenden Maschinenpistole wenigstens reihenweise niedermähen. Zumindest in seiner kindlichen Gedankenwelt.
„R-a-p-h-a-e-l, R-a-p-h-a-e-l“, hörte er Gerda rufen, „es is scho dungl, dei Mama had gsachd, du sollsd ham kumma.“ Er stand hinter einem dicken Stamm, seine Maschinenpistole im Anschlag, und er hatte Gerda ganz deutlich im Fadenkreuz seines Zielfernrohrs. Die feige Sioux-Squaw, die draußen auf dem freien Feld ihre Hände zu einem Trichter geformt an den Mund hielt und seinen Namen rief. Den falschen Namen dazu! Wusste sie denn nicht, dass er sich, hier draußen in der Wildnis, Buffalo Bill nannte? Das musste bestraft werden. Er zielte nochmals genau, dann eröffnete er knatternd das Feuer.
„Wie oft hab iech dier scho gsachd, dass du ned allaa do naus gehn sollsd?“, schimpfte ihn seine Mutter wenig später und zeigte mit ihren roten Teufelskrallen auf ihn. Ihr Gesicht erinnerte ihn an einen Sioux-Häuptling auf Kriegspfad. Es war bunt bemalt. „Vor allem wenns scho finsder is. Wenn du do ned ham kummsd, dann huld di numal der Nachtgiger. Wennsd ned hersd, dann frissder di eines Doochs nu auf. Do wersd schaua.“
„Mama, wie schaudn der aus, der Nachtgiger?“, wollte der Pimpf wissen.
„Firchderlich! Groß isser. Viel gresser als der Babba. A ganz dungle Gschdald mid an großn, rodn, schbidzin Schnabl. Damid zerhaggder di beesn Kinner, die ned auf iehre Eldern hern. Große Augn hadder, su groß wie a Subbndeller, damider in der Nachd was sichd. Und an seim Körber hadder Schubbn wie a Fisch. Der kann nämli a schwimma, mussd wissen. So, und edz gehsd in die Kichn und issd was. Die Gerda hadder Fischschdäbchen und Bommes gmachd. Danach gehsd ins Bad, ziehgsd dein Schlafanzuch o und budzd der dei Zäh. Um achda gehsd ins Bedd. Hasd mi verschdandn? Die Mama muss numol in die Schdadd, abber die Gerda is ja do.“
„Wu issn der Babba?“
„Der is nu in Frankfurt, auf der Ärwerd. Vor neina is der ned daham.“
„Warum mussn der Babba immer suviel in Frankfurt ärwern?“
„Der muss Geld verdiena, damid mier dier all die schena Schbielsachn kaafn kenna.“
„Iech will ka Schbielsachn!“
„Ruhich edz! Edz gehsd in die Kichn und issd was!“
In einem der Frankfurter Bankenhochhäuser saß Gerd Gierbich immer noch in einer Geschäftskonferenz. Erst in circa zwei Stunden würde er in seinen 750er BMW steigen und wie jeden Freitag auf der Autobahn nach Großgründlach jagen. Als Mitglied des dreiköpfigen Vorstands (der Name der Bank tut hier nichts zur Sache) war eine Fünfzig-Stunden-Woche für ihn ganz normal, er führte sowieso eine Wochenendehe. Seine hübsche Frau Gunda war neunzehn Jahre jünger als er, dafür aber einen Kopf größer. Aus Franken bekommt er Gunda nicht weg, das war ihm von Anfang an klar. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als seiner Familie dort ein angemessenes Zuhause zu bieten. Das fiel ihm nicht allzu schwer. Obwohl seine Bank seit Jahren tiefe Verluste einfuhr, genehmigte er sich – gemeinsam mit seinen beiden Vorstandskollegen – alljährlich hohe Bonizahlungen. Siebenstellige Beträge waren da keine Ausnahme. Die Aktionäre murrten zwar regelmäßig, und die Öffentlichkeit jaulte auch von Zeit zu Zeit auf, aber noch flossen die jährlichen Millionenbeträge. Der glatzköpfige, untersetzte Fünfziger liebte seinen Sohn Raphael über alles und erfüllte ihm fast jeden Wunsch. Dass er von seiner jungen Frau während der Woche von Bett und Tisch getrennt war, fiel ihm dahingegen nicht so schwer. Es gab da ja noch Lizzy, die rassige, vollbusige Mexikanerin. Die Frau mit dem anrüchigen, nuttenhaften Flair, besonders wenn sie ihre rote Unterwäsche und die halterlosen Netzstrümpfe trug. Sie wohnte gleich in der Nähe seines Frankfurter Appartements, am Holzhausenpark.
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Am Montagnachmittag, um sechzehn Uhr, schlüpfte Raphael Gierbich schon wieder unter dem lockeren Maschendrahtzaun hinter der mächtigen Thuja-Hecke hindurch. Seine ratternde und funkelnde Maschinenpistole hatte er auf den Rücken geschnallt. Die brauchte er ja, wenn er wieder Indianer jagen wollte. An den Nachtgiger verschwendete er nicht den geringsten Gedanken. Er rannte den kleinen Bachlauf entlang und konnte es kaum erwarten, bis er hinter den Lärchenstämmen in Deckung gehen konnte. Dann nahm er sein Spielzeuggewehr von der Schulter, rammte sich den Gewehrkolben in seine rechte Schulter und sah durch sein Zielfernrohr. Kein einziger Indianer war zu sehen. Die Abenddämmerung brach herein, und plötzlich fiel ihm der Nachtgiger ein. Der sollte ruhig kommen. Seine Maschinenpistole war geladen. Dann sah er ihn. Eine schwarze Gestalt, mit einer schwarzen Maske kam im Wald direkt auf ihn zu. Raphael sprang hinter seinem Stamm hervor und riss seine Maschinenpistole hoch. Die fing das Leuchten, Blinken und Rattern an. „Halt stehen bleiben!“, rief der kleine Pimpf, „sunsd gibds was auf die Nuss. Bisd du der Nachtgiger?“
Der schwarze Maskenmann blieb stehen und hob die Hände. „Na, der binni ned. Iech hab ja a kan Schnabl ned. Iech bin der Nachtgiger-Jächer. Iech will den Nachtgiger fanga, damid der dene klane Kinner ka Angsd mehr machen kou.“
„Warum hasd du dann a schwarze Maskn?“
„Dees is mei Darnanzuuch, damid miech der Nachtgiger in der Nachd ned sichd. Abber iech hab edz eigendlich ka Zeit, iech muss nach Reutles nieber, do soller si nämli grod rumdreibn, der Nachtgiger mid sein schbidzin Schnabl.“
Raphael Gierbich machte große Augen. Er glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Der schwarz gekleidete Mann machte Jagd auf das grässliche Monster.
„Hasd du aa a Bisdoln odder a Gwehr?“
„No fraali, sunsd wär dees doch viel zu gfährlich.“ Mit diesen Worten zog der Nachtgiger-Jäger eine schwarze, matt glänzende Pistole aus seinem Hosengürtel. Raphael war tief beeindruckt. „Derfi aa mied?“, wollte der Junge wissen, „iech hab aa a Gwehr. A Maschienabisdoln!“
„No fraali derfsd du aa mied, du musd mi doch underschdüdzn und dees Monsder bewachn, wenn iech die Bolizei hul.“ Kumm, mier nehma mei Audo, und foahrn nieber nach Reutles. Dees gehd viel schneller.“ Der vermummte Nachtgiger-Jäger nahm Raphael an der Hand, und beide marschierten zu einem schwarzen VW Golf, der auf einem grasbewachsenen Weg im kleinen Wäldchen stand. Der kleine Junge kroch aufgeregt auf die Rückbank, und der Schwarzgekleidete ließ den Motor an und legte den ersten Gang ein. Dann setzte sich der Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern langsam in Bewegung.
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Gerda Wunderlich und Gunda Gierbich hielten schwere Stablampen in den Händen. Sie riefen und suchten Raphael bis tief in die Nacht hinein. Vergeblich. Um elf Uhr wählten sie entnervt die Telefonnummer der Nürnberger Polizei. Heulend und aufgeregt schluchzte Gunda Gierbich in die Sprechmuschel: „Mei Bu, mei Raphael is schburlos verschwundn. Mier hamna scho ieberall gsuchd.“
„Langsam, langsam gude Fraa“, antwortete eine tiefe honorige Stimme aus dem Hörer, „erschd Mal der Reihe nach. Wie haßn Sie, und wo wohna Sie? Und dann erzählns mer in aller Ruh und der Reiha nach, was bassierd is.“
Es dauerte, bis der Beamte begriff, was Sache war. „Edz versuchns Mal, ganz ruhich zu bleibn. Mier schiggn jemand bei Iehna vorbei.“
Fünf Minuten später wählte die Mutter des abgängigen Raphael die Telefonnummer ihres Mannes in Frankfurt.
Gerd Gierbich war gerade mit Lizzy der feurigen Mexikanerin beschäftigt und schälte deren Brüste aus dem transparenten, roten BH, Cup Wassermelone. Das penetrante Klingeln des Telefons ging ihm gewaltig auf den Sack. Geistesabwesend und heftig atmend meldete er sich schließlich doch. „Gerd … aaah … Gierbich … mmmmh!“
„Gerd iech bins, die Gunda. Was machsdn du grod? Is alles okay mid dier?“
„Ja, ich habe soeben die Möpse, … ich meine …“
„Was machsd du?“
„Die Möpse, ich zähle gerade Möpse. Ich bin gerade am Geldzählen.“
„Ach so! Gerd, was ganz Schlimms is bassierd. Der Raphael is verschwundn.“
„Was heißt verschwunden? Der müsste doch längst im Bett sein!“
„Ebn ned. Der is einfach abghaud und nemmer ham kumma. Iech hab grod die Bolizei ogrufn. Die missdn jedn Augenbligg do sei. Iech waß ned, wassi machen soll! … Gerd, bisd du nu am Delefon?“
„Ja, ich habe nur schnell nachgedacht. Ich setze mich sofort in den Wagen und komme.“
„Ja Gerd, bidde bidde kum schnell ham!“
„Ruf mich auf meinem Mobiltelefon an, wenn es etwas Neues gibt“, wies Gerd Gierbich seine Frau an. Dann war die Leitung stumm.
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In einem alten Haus im Nürnberger Stadtteil Rehhof, ganz in der Nähe des Bahnhofgebäudes, saßen vier finstere Gestalten und stritten sich über die Formulierung eines Erpresserbriefes. Der kleine Raphael Gierbich rutschte auf dem schmutzigen Holzfußboden herum und spielte mit den Indianerund Cowboy-Figuren, welche ihm die vier Männer in einer großen Schachtel hingestellt hatten.
„Vier Milliona“, rief einer der Männer zum dritten Mal beharrlich.
„Su viel Geld had der ned“, wandte ein anderer ein. „Bis der dees beschaffd had, dauerd dees viel zu lang.“
„An Bfeifndeggl, dees gehd ganz schnell. Der is doch im Vorschdand vo dera Bank.“
„Herd auf zu schdreidn“, ergriff nun ein Dritter das Wort, „erschd solldn mier wissen, was mier ieberhabs schreiben wolln.“
„Also, iech fang amol o“, entschied der Vierte im Bund und griff sich ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber.
Erbresserbrief
Wenn Sie iehrn Sohn widder ham wolln, dann gild:
FINGER WEG VO DER BOLIZEI!
Mier wolln ……………….. Milliona Euro. Kann Cent mehr, abber aa
kann Cent wenicher.
Beschaffn Sie sich des Geld bis zum Freidooch in dera Wochn. Am
Freidooch um sechsa rufn mier Sie o und sogn Iehna was zu dou is.
Haldn Sie sich genau an unsre Anweisunga, sunst ……!
Iehrn Sohn geht’s gud. Der schbield grod Kauboi und Indjaner.
Mier ieberwachn jedn Iehrer Schridde und mergn, wenn Sie die Bolizei eischaldn. Lassn Sie sich dees gsachd sei.
Hochachdungsvoll
Der Nachtgiger
Rehhof, den …………
„Ferdich“, rief der Autor des Erpresserbriefes stolz. „Was maandn iehr? Bassd dees?“
Die drei anderen Entführer gruppierten sich um den am Tisch Sitzenden und studierten den Text. „Iech maan, ‚Hochachtungsvoll‘ miss mer ned grod schreiben. Klingd dees ned zu schdeif? Iech wär für ‚Dschüss, bis zum näxdn Freidooch‘.
„Du schreibsd do immer ‚mier‘: ‚… um sechsa rufn mier Sie o‘, ‚Mier ieberwachn jedn Iehrer Schridde …‘. Muss dees under dem Bliggwingl einer korreggdn Rechdschreibung ned ‚wier‘ haßn?“, monierte ein anderer der Gangster.
Dann meldete sich auch noch der dritte der Verbrecher: „Also sicher bin iech mier ned. Schreibd mer edz Rehof odder Rehhof? Mid an odder mid zwaa ha?“
„Mid zwaa“, rief der kleine Raphael vom Fußboden, dessen Kanoniere gerade die Wigwams des Indianerdorfes von Sitting Bull unter Feuer nahmen. „Mei Dande Erika wohnd in Rehhof. Die sachd immer ‚A Reh dees had vier Baa, und Rehhof had zwa ha‘. Abber Rehhof däd iech fei ned in den Brief neischreibn“, setzte der kleine Schlaumeier seine Rede fort. Die vier Gangster sahen ihn mit erwartungsvollen Blicken an.
„Sunsd waß doch die Bolizei gleich, wo sie nach eich suchn muss, und iech kann nemmer mid die Figurn schbieln, wenns mi befreia.“
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Am vierten Dezember, um die Mittagszeit, brachte die Deutsche Post den Gierbichs den Brief der Entführer. Der Wortlaut wich eine Kleinigkeit vom ersten Entwurf ab:
Vier Millionen Euro, und keine Polizei!
In kleinen Scheinen, ohne fortlaufende Nummernserie.
Weitere Anweisungen folgen am Freitag
Unterschrieben war der Brief mit Nachtgiger.
„Der Nachtgiger“, heulte Gunda Gierbich auf. „Edz hadder si mein Bubm dadsächli ghuld. Mein armer Raphael.“
„Wollen, beziehungsweise können Sie das Geld bis zum Freitag beschaffen?“, richtete Kommissar Nero Hammer das Wort an Gerd Gierbich?
Der saß mit hängenden Schultern auf dem Couchsofa im Wohnzimmer. „Das ist kein Problem, nur wie geht es dann weiter? Sie haben doch selbst gelesen: keine Polizei! Ich will meinen Sohn auf jeden Fall unversehrt zurück haben, o h n e sein Leben zu gefährden.“
„Keine Sorge“, versuchte Kommissar Hammer den Vater von Raphael zu beschwichtigen. „Angeblich folgen am Freitag weitere Anweisungen. Wie die aussehen, wissen wir noch nicht. Ob die wieder per Brief kommen oder telefonisch, wissen wir ebenfalls nicht. Also müssen wir uns, soweit es geht, auf jedwede Möglichkeit einstellen. Vor allem müssen wir versuchen, Zeit zu gewinnen. In der Zwischenzeit hören wir uns in der Szene um.“
„Ich scheiß auf Ihre Szene, Herr Kommissar, und warum wir Zeit gewinnen müssen, kann ich auch nicht nachvollziehen. Egal, ob ein weiterer Brief oder ein Anruf kommt, ich mach mich mit dem Geld sofort auf die Socken, falls dies gefordert wird, und ich möchte nicht, dass auch nur ein Polizist daran denkt, mir zu folgen.“
„Darüber müssen wir nochmals reden, Herr Gierbich. Ich verstehe Ihre Sorgen, das können Sie mir glauben. Natürlich stehen die Sicherheit und das Leben Ihres Sohnes im Vordergrund, aber wir dürfen auch nicht vergessen, den Tätern das Handwerk zu legen. Sollten sie erfolgreich sein, ohne dass wir sie schnappen, werden sie es wieder tun, und ein anderes Elternpaar wird sich fragen, warum Sie so egoistisch gehandelt haben. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ihr Mobiltelefon werden wir sowieso abhören. Außerdem möchten wir Sie gerne verwanzen und an Ihrem Wagen einen Peilsender anbringen, wenn es soweit ist. Seien Sie unbesorgt, wir werden uns nicht blicken lassen, auch wenn wir ständig in Ihrer Nähe sein werden.“
„Und was machen Sie, wenn es sich um mehrere Täter handelt?“, wollte Gerd Gierbich mit Zweifeln in den Augen wissen. Seine Frau Gunda und Gerda Wunderlich, die beide dem Dialog zugehört hatten, brachen in ein lautes Gejammer aus.
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Am Freitag kam ein weiterer Brief, der wie der erste in Erlangen aufgegeben war. Die heimlichen Ermittlungen der Polizei in der Szene brachten nichts. ‚Entweder es handelt sich um Amateure oder um Ausländer, die neu im Geschäft sind‘, waren die Vermutungen der Kripo. Dass Amateure am Werk waren, nun diese Annahme ließ der Wortlaut des Briefes nicht zu:
Fahren Sie um neunzehn Uhr zum Flughafen und halten Sie sich am Telefon zur Verfügung! Packen Sie das Geld in eine Aldi-Plastiktüte.
Nachtgiger
„Raffiniert“, merkte Kommissar Nero Hammer an, „auf diese Weise können wir keinen Koffer präparieren.“ Gunda und Gerda heulten auf.
Pünktlich um neunzehn Uhr startete Gerd Gierbich in seinem 750er BMW in der Erlenhainstraße. Sein Weg führte ihn zunächst in die Schweinfurter Straße, bevor er auf der Würzburger Straße weiterfuhr, um wenig später auf die B4 in Richtung Nürnberg abzubiegen. Der BMW nahm den Weg durch Boxdorf, hielt die 70-km/h-Geschwindigkeitsbegrenzung ein, als es an Buch vorbei ging, und folgte weiterhin der B4 bis zur Kreuzung Bamberger-/Marienbergstraße. Hier bog er links ab. Nun ging es ein Stück kerzengeradeaus, bis der Wagen wieder links in die Flughafenstraße einfuhr. Im Verkehrskreisel am Bucher Landgraben piepste Gerd Gierbichs iPhone und kündigte den Eingang einer SMS an. Wenig später stellte er den BMW in einer Parkbucht am Flughafen ab und las die Nachricht:
Verlassen Sie Ihr Fahrzeug und begeben Sie sich unmittelbar zur Rolltreppe der U-Bahnstation. Davor steht ein junger Mann mit Nikolausmaske. Diesem händigen Sie Ihr Mobiltelefon aus. Sie bekommen von ihm ein neues. Schalten Sie es nicht aus. Sie werden nur noch über das neue Handy kontaktiert. Fahren Sie mit der U-Bahn bis Nürnberg Hauptbahnhof und warten Sie auf weitere Anweisungen. Ach ja, vergessen Sie die Aldi-Tüte nicht.
Gerd Gierbich fluchte, und seine Hoffnungen in die polizeilichen Fähigkeiten schwanden schnell dahin. Als er unten am Bahnsteig ankam, fuhr gerade einer der zweiteiligen Frankenpfeile in die Station ein. Gierbich bestieg den U-Bahnzug und die Türen schlossen sich automatisch. Die Fahrt bis zum Hauptbahnhof dauerte gerade mal zehn Minuten. Er stellte sich erneut auf die Rolltreppe, dieses Mal nach oben, als das neue Mobiltelefon vibrierte. Eine weitere SMS.
Begeben Sie sich in der Haupthalle des Hauptbahnhofs in das Obergeschoss und suchen Sie die öffentlichen Toiletten auf. Ein junger Mann mit roter Nikolausmütze wird Ihnen einen Rucksack übergeben. Darin befindet sich eine schwarze Pudelmütze, ein Adidas-Trainingsanzug sowie eine Winterjacke in Ihrer Größe. Wechseln Sie die Kleidung und stecken Sie Ihre Klamotten in den Rucksack. Übergeben Sie dann den Rucksack dem Mann mit der Nikolausmütze. Nachdem sich dieser überzeugt hat, dass Sie nicht verkabelt sind, erhalten Sie von ihm ein neues Mobiltelefon. Geben Sie ihm Ihr altes. Laufen Sie zu Fuß zum Christkindlesmarkt und warten Sie dort in der Nähe des Schönen Brunnens auf weitere Nachrichten. Nachtgiger
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Kommissar Nero Hammer und sein Team, welche ihre Kommandozentrale im Wohnzimmer der Gierbichs eingerichtet hatten, bekamen langsam ein Problem. Auf einem Bildschirm, welcher den aktuellen Standort des 750er BMWs anzeigte, blinkte im regelmäßigen Rhythmus ein rotes Lämpchen, welches besagte, dass das Fahrzeug am Flughafen Nürnberg stand. Die Ortung von Gerd Gierbichs Mobiltelefon hatten sie bereits vor einer viertel Stunde verloren. Ein weiteres rotes Signal blinkte auf einem anderen Bildschirm. Gerd Gierbich befand sich in der U-Bahn und stieg soeben am Hauptbahnhof aus. Er bewegte sich in Richtung Haupthalle. „Nachtgiger drei, Nachtgiger drei, fahren Sie sofort zum Hauptbahnhof“ sprach Nero Hammer aufgeregt in sein Mikro. „Weitere Anweisungen abwarten.“
„Nachtgiger drei verstanden, zum Hauptbahnhof“, knisterte es klar und deutlich aus dem Lautsprecher auf dem Couchtisch.
Der Streifenwagen Nachtgiger drei, welcher sich gerade am Plärrer befand, beschleunigte und steuerte auf den Hauptbahnhof zu.
„Der Gierbich ist immer noch im Bahnhofsgebäude“, meldete der Kommissar an Nachtgiger drei, zwei, und vier. „Nachtgiger eins, schicken Sie Beamte in Zivil an die Ausgänge des Bahnhofs.“
„Nachtgiger eins, verstanden. Kollegen sind unterwegs.“
Sieben Minuten später sah der Kriminalkommissar wie sich das blinkende Licht wieder in Richtung Bahnsteige bewegte. Auf dem Bahnsteig Nummer zwei verweilte es drei Minuten, dann entfernte es sich mit zunehmender Geschwindigkeit in Richtung Osten.
„Achtung, Achtung, Durchsage an Nachtgiger eins bis vier, der Gierbich befindet sich in der S-Bahn der Linie 1 und entfernt sich in Richtung Hartmannshof. Nachtgiger eins bis vier folgen Sie dem Zug und warten Sie auf weitere Weisungen.“ Kommissar Hammer war guter Dinge, dass sie dem oder den Entführern näher kamen. Gott sei Dank konnte er den Banker überzeugen, sich verkabeln zu lassen. Das Fahrgeräusch des Zuges war deutlich zu hören. Dann erreichte ihn ein Telefonanruf. „Chef, wir haben das iPhone von dem Gierbich in einem Abfalleimer am Flughafen gefunden. Es ist abgeschaltet.“
„Scheiße“, war der einzige Kommentar von Nero Hammer. Dann wandte er sich wieder dem sich bewegenden roten Signal auf dem Bildschirm zu.
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Während Gerd Gierbich, in blauem Adidas-Trainingsanzug und schwarzer Winterjacke, eine prall gefüllte Aldi-Plastiktüte in der Hand, am Schönen Brunnen auf sein neues Mobiltelefon starrte und auf die nächste Nachricht wartete, stieg ein junger Mann, mit einer Nikolausmütze auf dem Kopf, am S-Bahnhof Lauf, links der Pegnitz, aus dem Zug. Auf seinem Rücken trug er einen gut gefüllten Rucksack. Dann bestieg er ein Herrenfahrrad, welches in einem Fahrradständer des Bahnhofs abgestellt war, schwang sich, nachdem er den Dynamo eingeschaltet hatte, in den Sattel, und radelte los. Er nahm die kurze Julienstraße, um den Drahtesel kurz darauf in die Weigmannstraße zu lenken. Er fuhr Richtung Altdorfer Straße weiter und hielt auf der Brücke der Johannisstraße mitten über der Pegnitz an. Links rauschte die Strömung des Flusses, dessen Wasser über ein kleines Wehr floss. Rechts verlor sich der Wohnturm des Wenzelschlosses, der ehemaligen Kaiserresidenz, die auf einer Insel in der Pegnitz erbaut wurde, in der Dunkelheit. Der junge Mann stieg vom Fahrrad ab, nahm seinen Rucksack vom Rücken und sah sich um. Kein Mensch war zu sehen. Er wartete ab, bis ein Pkw, der aus der Gegenrichtung die Brücke befuhr, wieder verschwunden war. Dann nahm er den Rucksack in die Hände und schleuderte ihn in die finstere Nacht. Sekunden später war ein schwaches Aufklatschen zu hören, welches vom Fließgeräusch des Flusses nahezu übertönt wurde. Der junge Mann wendete sein Fahrrad und verschwand strampelnd in der Siebenkeesstraße. Wenig später stand er wieder an der S-Bahnstation und wartete auf den nächsten Zug, zurück in Richtung Nürnberg.
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Zu dem Zeitpunkt als der Rucksack in den Fluten der Pegnitz verschwand, befand sich Nachtgiger drei, der führende Einsatzwagen, auf der B14, in der Höhe von Wetzendorf. In Großgründlach starrte Kommissar Nero Hammer gebannt auf den Bildschirm und beobachtete mit Schrecken wie das kleine, rot blinkende Signal eine Zeit lang auf der Pegnitz dahin schwamm, nach wenigen Minuten seinen Geist aufgab und für immer erlosch. War Gerd Gierbich verrückt geworden? Warum war er in die Pegnitz gesprungen? Irgendetwas stimmte nicht. „Nachtgiger eins bis Nachtgiger vier, fahren Sie zur Brücke Johannisstraße und umstellen Sie die Brücke weiträumig. Kontrollieren Sie jede Person, die Sie treffen.“
„Wie weiträumig, Chef?“, wollte Nachtgiger zwei wissen.
Am Bahnhof, links der Pegnitz, fuhr eine S-Bahn der Linie 1 aus Richtung Hersbruck kommend ein. „Lauf, links der Pegnitz, Lauf links der Pegnitz“, verkündete eine Lautsprecherdurchsage, „bitte einsteigen, die Türen schließen automatisch.“ Die Bremsen lösten sich, und der rote, dreiteilige Zug fuhr an. Drinnen im Wagon blickte ein junger Mann mit Nikolausmütze hinaus in die finstere Nacht.
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Gerd Gierbich wurde langsam nervös. Vor fünfundvierzig Minuten hatte sich der Entführer das letzte Mal gemeldet. Vor ihm, auf dem Hauptmarkt tobte das Leben. Die rot-weiß gestreiften Zeltdächer der circa einhundertdreißig Weihnachtsbuden ragten dicht an dicht gedrängt in den dunklen, wolkenverhangenen Himmel. Alles war festlich beleuchtet. Abertausende Besucher des Nürnberger Christkindlesmarktes drängten und wälzten sich durch die engen Budenstraßen. Viele hielten Glühweintassen oder Brötchen mit Nürnberger Rostbratwürsten in den Händen. Die Fassade der Frauenkirche, auf deren Balkon das Nürnberger Christkind mit seinem Prolog jährlich den Markt eröffnete, erstrahlte im festlichen Glanz. Vom Markt rief ein Verkäufer von Zwetschgenmännla im tiefsten Nürnberger Dialekt:
Willsd an, der di ned ärchern koo,
nou kaffsder hald an Zwedschgermoo.
A Zwedschgerfraa däi schaffsder oh,
wall däi dich niemals ärchern kou.
Gerd Gierbich war durch das bunte Treiben dermaßen abgelenkt, dass er die eingehende SMS fast nicht bemerkt hätte:
Gehen Sie nun zum Albrecht-Dürer-Platz. Hinter dem Albrecht-Dürer-Denkmal befindet sich ein unscheinbarer Treppenabgang, der durch eine Eisentür verschlossen ist. Warten Sie vor der Tür. Sobald das Geld übergeben und gezählt ist, erhalten Sie Ihren Sohn zurück.
Nachtgiger
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Nero Hammer spie Gift und Galle. Der oder die Entführer hatten ihn wie einen Amateur ausgetrickst. Seine Leute in Lauf hatten eine fünfundachtzigjährige Oma festgehalten, welche ihren Zwergpinscher Gassi führte und in einer Aldi-Plastiktüte ihr Strickzeug mit sich führte. Sie hatte ihre neunzigjährige Freundin besucht und war auf dem Nachhauseweg. „A alde Fraa ieberfalln, dees kennder, iehr nichdsnudzige Baggaasch. Iech hab ka Lösegeld ned. Wie ofd solli eich dees nu soogn.“ Dann hieb sie mit ihrer Plastiktüte auf einen Polizisten von Nachtgiger drei ein und fegte ihm seine Dienstmütze vom Kopf. Die Kopfbedeckung des Beamten nahm denselben Weg wie eine halbe Stunde vorher der ins Wasser geworfene Rucksack. Der betroffene Polizist sah verstört von der Brücke auf den Fluss und musste zusehen, wie etwas Rundes, Weißes schaukelnd in Richtung Nürnberg davongetragen wurde. „Iech bin selber arm wie a Kergnmaus“, geiferte die Alte weiter und holte erneut mit ihrer Tüte aus.
„Das ist Gewaltanwendung gegen Polizeibeamte im Dienst“, monierte der Beamte ohne Kopfbedeckung.
„Geh na her Berschla“, erhielt er zur Antwort, „dann griegsd gleich nu ane auf dei Goschn. Baggnern Hektor“, wies die Aldi-Tüten-Besitzerin ihren vierbeinigen Mikrosaurier an und deutete auf den Polizisten. Der Zwergpinscher sah den Hüter des Gesetzes mit gefletschten Zähnen an, stürzte sich todesmutig auf dessen rechtes Bein und verbiss sich im Stoff der Hose. Verzweifelt versuchte der Mann von Nachtgiger drei den Kläffer von seinem Hosenbein los zu bekommen. In diesem Moment der Unachtsamkeit griff die Alte in ihre Handtasche, holte eine Sprühdose heraus und verabreichte dem Beamten eine volle Ladung Pfefferspray ins Gesicht. Der Polizist schrie auf, hielt sich mit beiden Händen die schmerzenden Augen, der Hund zerrte unnachgiebig am Stoff der Hose, bis er einen großen Fetzen im Maul hatte, und die alte Dame landete eine Serie Aldi-Tüten-Schläge auf dem Kopf des Stöhnenden. „Wenn mi scho kaner vergewaldichd“, stellte sie sachlich fest, „dann habbi dees Bfefferschbräi wenigsdens ned umsunsd kaffd.“
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Gerd Gierbich stand im Treppenabgang vor der verschlossenen Eisentür, als das Telefon erneut vibrierte.
Legen Sie das Telefon in die Aldi-Tüte und stellen Sie diese vor der Türe ab. Verschwinden Sie. Sie haben Ihre Aufgabe erfüllt. Nun kommt es nur noch darauf an, dass Sie sich streng an die Anweisungen gehalten haben und die Banknoten keine Blüten oder Papierschnipsel sind. Wenn alles okay ist, kriegen Sie morgen Ihren Jungen zurück.
Nachtgiger
Gerd Gierbich sah sich um. Der entscheidende Moment war gekommen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Dann legte er das Mobiltelefon in die Tüte und stellte diese bedachtsam neben die schwere Eisentüre. Was, wenn ein Unbeteiligter das Geld fand und an sich nahm? Er zwang sich, die wenigen Stufen nach oben zu schreiten und die vier Millionen Euro allein zurückzulassen. Oben angekommen hörte er, wie sich ein Schlüssel knarzend im Schloss drehte und die schwere Tür in ihren Angeln quietschte. Er sah sich um und erschrak. Eine grässliche Fratze sah ihn an. Am auffälligsten war der große, rote Hakenschnabel, der zwischen zwei tellerrunden Augen hervorragte. Auf dem Kopf schwappten lange, goldfarbene Federn hin und her. Selbst der Körper der Gestalt war über und über gefiedert. Zwei Sekunden lang starrten sich die beiden in die Augen, dann griff die Nachtgiger-Gestalt blitzschnell nach der Aldi-Tüte, zog sie nach innen und schlug die Tür zu. Augenblicklich drehte sich der Schlüssel wieder im Schloss.
Der Nachtgiger hinter der Tür stieg über moderne Betonschächte in die Tiefe. Dann rannte er einen langen, niederen Gang entlang, der aus dem Gestein gemeißelt war. Schließlich gelangte er in ein Gewölbe, von dem aus mehrere Schächte in verschiedene Richtungen führten.
Weit vom Burgberg entfernt, im Südosten der Stadt und nordwestlich des Volksparks Dutzendteich, erstreckt sich der einhundertvierunddreißig Hektar große Luitpoldhain. An seinem nördlichen Rand steht die bekannte Meistersingerhalle. Unter tief hängenden Ästen einer Weide stand, vorzüglich versteckt, ein schwarzer VW Golf. Der Fahrer war ausgestiegen und inhalierte unter vorgehaltener Hand den Rauch einer Marlboro Light. Er war frühzeitig zum Treffpunkt gekommen. Der andere, eine grässliche Gestalt, würde noch etwas brauchen, bis er eintraf. Er hatte noch ein schönes Stück Weg vor sich. Doch das machte dem Raucher nichts aus. Er hatte Zeit. Hauptsache der Nachtgiger hatte die wunderschöne, prall gefüllte Aldi-Tüte dabei.
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Das alte, verwahrloste Haus in Rehhof lag einsam und verlassen da. Die vier Kindesentführer hatten ihren zeitweisen Unterschlupf verlassen. Rührende Szenen spielten sich ab, bevor sie sich auf ihren Weg machten. „Iech will nu a weng dobleibm und mid die Kauboi schbieln“, jammerte der kleine Raphael, „iech will nunni ham.“
„Deine Mama und dein Papa machen sich aber bestimmt schon große Sorgen“, versuchte es einer der Entführer.
„Mei Babba vielleichd scho, abber mei Mudder ned. Die had doch goar ka Zeid fier miech. Die is doch dauernd underwegs und driffd si immer mid iehre Freindinna. Dauernd soll iech mid der Gerda schbieln, abber die mooch ka Kauboi. Iech will doo bei eich bleibm.“
„Dees gehd doch ned, Raphael. Mier sen doch Gängsder und ham diech endfiehrt. Wenn uns die Bolizei derwischd, wern mier eigschberrd.“
„Abber iehr habd mier doch goar nix gmachd!“, bestand der kleine Knirps auf seiner Meinung. „Wenn iech edz wergli ham muss, kennd iehr miech ned schbäder numal endfiehrn? Des näxd Mol a weng länger?“
Schließlich gab es doch noch eine Einigung: Raphael durfte die Schachtel mit den Indianer- und Cowboyfiguren behalten und mit nach Hause nehmen. Außerdem schenkten sie ihm noch ein Nachtgigerkostüm. Das wollte er unbedingt gleich anziehen.
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Nachmittags gegen drei Uhr fuhr ein schwarzer VW Golf mit vier Erwachsenen und einem Kind von Eltersdorf kommend in die Kleingründlacher Straße. Nachdem der Pkw die Ortschaft Kleingründlach durchfahren hatte, verlangsamte er auf der Höhe des Mühlweihers seine Geschwindigkeit, bog rechts ab und fuhr auf ein kleines Kastenwäldchen zu. Auf einem schmalen Waldweg stoppte er. Der kleine Raphael hatte Tränen in den Augen und drückte zum Abschied jeden seiner Entführer ganz herzlich. Dann sprang er ins feuchte Gras, schnallte sich seine Maschinenpistole um, nahm die Schachtel mit den Cowboy- und Indianerfiguren entgegen, winkte nochmals zum Abschied und machte sich auf den schweren Weg nach Hause. Auch seine vier Entführer hatten nun glänzende Augen, und einem kullerte sogar eine Träne über die Backe. Als der Kleine aus ihrem Blickfeld verschwunden war, wendeten sie den Golf und fuhren die gleiche Strecke wieder zurück. Bei Eltersdorf nahmen sie den Frankenschnellweg in Richtung Bamberg, verließen die A73 aber wieder an der Ausfahrt Möhrendorf. Sie überquerten die Regnitzbrücke kurz vor der Dorfeinfahrt, und hielten sich gleich rechts, wo es nach Kleinseebach ging. Ein Stück fuhren sie parallel zum Rhein-Main-Donau-Kanal. An der nächsten Kreuzung orientierten sie sich links und nahmen die Route durch den Wald. Nach circa sieben Kilometer fuhren sie in ihr Heimatdorf Röttenbach ein. Im Kofferraum des VW Golfs lagen nun fünf Aldi-Plastiktüten. Vier von ihnen enthielten genau neunhunderttausend Euro. In der fünften Tüte schlummerten vierhunderttausend. Nachdem der Fahrer seinen Wagen in die Garage gefahren hatte, wählte er als erstes eine Frankfurter Telefonnummer. „Alles in Budder, Lizzy. Morgen kummi nach Frangfurd und bring der dein Deil.“ Dann legte er auf.
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Gerd Gierbich sah aus dem Fenster und wartete schon den ganzen Tag darauf, dass sich die Entführer meldeten, um ihm mitzuteilen, wo sein Sohn verblieben sei. Nero Hammer hatte ihm eingebleut, ein möglichst langes Telefonat zu führen. Das sei die beste Chance, den Standort der Entführer zu ermitteln, um sie doch noch festzunehmen. Raphaels Vater, der die Nacht zuvor mit dem Taxi nach Hause kam, hatte von den Ratschlägen des Polizisten die Nase voll. Draußen im Wiesengrund, der Gründlach entlang, bewegte sich ein unscharfer roter Klecks, der größer wurde und auf die Villa zumarschierte. Der Klecks trug etwas vor sich her. Gerd Gierbich setzte seine Brille auf. Der Klecks war nun scharf und deutlich zu erkennen. Ein feuerroter Hahn mit einem seltsam gekrümmten Schnabel näherte sich. Die Augen von dem Vieh waren schwarz wie die Nacht finster und riesengroß. Überhaupt hatte er noch nie so einen Monsterhahn gesehen. Zum Fürchten. Das Federkleid leuchtete wie prasselndes Feuer. Dann bemerkte er den braunen Pappkarton, den das Federvieh vor sich her trug. Gerd Gierbich stieß den Kommissar am Arm und deutete zum Fenster hinaus. „Raphael!“, rief im Hintergrund Gunda Gierbich, „mei Bu is widder do!“ Dann stürzte sie in ihren Hausschuhen zur Tür hinaus. Erst jetzt begriff der Hausherr und rannte hinterher. Er überholte seine Frau und stürmte auf seinen Sohn zu. „Babba, iech bin der Nachtgiger, hasd du ka Angsd vor mier?“
„Nein Raphael, ich habe keine Angst. Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“
„Die Mama aa?“
„Mei Gouderla“, rief die Mutter und versuchte, das Kind aus den Klauen seines Vaters zu befreien. „Nie widder derfsd du uns dees odu. Dees musd du mier verschbrechn.“
„Jetzt lass doch erst mal das Kind ins Haus und nörgle nicht schon wieder an ihm herum“, fuhr sie ihr Mann an.
„Raphael, kann ich dir ein paar Fragen stellen?“, rief ihm Nero Hammer, unter der Haustür stehend, schon von der Ferne zu.
„Nicht jetzt!“, ging der Vater dazwischen.
„Aber wir müssen doch die Kindesentführer so schnell wie möglich …“
„Nichts müssen Sie“, herrschte ihn Gerd Gierbich an, „zuerst wird der Junge ärztlich untersucht!“
„Iech bin ned grank“, begehrte der Junge auf und sehnte sich in das alte Haus in Rehhof zurück. Hoffentlich wurde er bald wieder entführt.
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„Das waren Nürnberger Täter. Mehrere!“, gab sich Nero Hammer überzeugt. „Der Nürnberger Burgberg ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Das weiß kein Auswärtiger, dass unter der Burg bereits im Mittelalter Gänge und Gewölbe angelegt wurden. Angeblich bis zu fünfundzwanzigtausend Quadratmeter auf bis zu vier Ebenen. Die Entführer kennen sich dort drinnen bestens aus. Raphael, jetzt erzähl uns mal, was du alles gesehen und gehört hast“, forderte ihn der Kommissar auf, „wir wollen die bösen Männer nämlich fangen und in das Gefängnis stecken.“
„Dees woarn ka beese Männer“, stellte der Knabe sachlich fest, der schon wieder das rote Federkleid trug, „dees woarn nedde Leid. Die hamsi immer mid mier underhaldn und miech gfrachd, was iech gern ess. Außerdem hams mid mier Kauboi und Indjaner gschbield.“
Der Kommissar guckte indigniert. Gerd Gierbich lächelte in sich hinein und war auf seinen Sohn mächtig stolz.
„So, so“, machte der Polizist, „und welches Auto haben sie denn gefahren? Kennst du dich mit Autonamen schon aus?“
„An rodn Obbl Zafiera mid hunnerddreißich BS“, kam die schnelle, aber falsche Antwort, „a Diesl, ka Benziener, Fimbf-Gang-Gedriebe, mit Handschaldung und Leichdmedallfelgn.“
„Wow“, lobte ihn der Kommissar, „du kannst ja prima beobachten. Wie viele Leute hast du denn gesehen?“
„Zwa Männer und drei Weiber. Der Schorsch, der Frieder, die Maichared, die Vroni und die Kunni.“
„Toll, Raphael, weiter so. Warst du denn in einem Haus, oder in einer Wohnung, und wie hat es denn dort ausgesehen?“
„Dees woar a Haus mid mindesdens siebn Schdoggwerg. Im Wohnzimmer woar a Bild vo an Moo mid an klan Schnurrbard ghängd. Zu dem hams immer Adolf gsachd.“
Nun wurde der Kommissar sehr aufmerksam. „Hatte der auch einen Nachnamen? So wie Gierbich, oder Hammer?“
„Genau“, rief der Junge begeistert, „irgendwas mid H.“
„Hieß der vielleicht Hitler“, wollte der Polizist wissen.
„Ja, Hidler, Hidler. Abber der woar ned dabei. Den habbi ned gsehgn. Bloß aufn Bild. Kennsd du den“, wollte Raphael wissen.
„Was war denn noch so Besonderes in der Wohnung zu sehen?“, bohrte Nero Hammer weiter.
„Die vieln Fohna!“
„Was denn für Fahnen? Was war denn auf den Fahnen zu sehen?“
„Nix Gscheids. Immer bloß su a komischs Kreiz.“
„So eines?“ Der Kommissar malte ein Hakenkreuz auf ein Blatt Papier.
„Hmh, genau su hams ausgschaud.“
„Haben die Männer und Frauen sich denn auch unterhalten, wenn du dabei warst?“
„Scho, iech woar ja immer dabei.“
„Worüber denn?“
„Ieber a Fraa hams gred, und dass bald gnuch Geld zamm ham, um die Fraa zu befreia.“
„Und um welche Frau ging es da?“
„Dschäbe odder so ähnlich.“
Der Kommissar zuckte zusammen.
„Abber“, fuhr Raphael ungefragt fort, „die ham aa vo Gwehre, Bisdoln und Munidzion gred, und dass edz eigendli die Beschdellung in der Dschechei aufgebn kenna. Die ham alle Glatzkebf ghabd“, fügte er hinzu, „aa die Frauen.“
Kommissar Nero Hammer wurde immer aufgeregter. „Ich muss erst telefonieren, Raphael, dann reden wir weiter.“ Mit roten Ohren hastete er aus dem Haus und suchte sich ein ruhiges Plätzchen, bevor er in seinem Büro anrief. „Hammer hier. Ich brauche unbedingt die Telefonnummer vom bayerischen Innenminister und vom Verfassungsschutz. Schnell. Der Fall der Kindesentführung ist eine heiße Kiste. Ganz heiß. Rufen Sie mich sofort zurück, wenn Sie die Telefonnummern haben. Ich warte.“ Dann rief er seine Frau an. „Schatz, ich komme heute wahrscheinlich sehr spät nach Hause. Ich bin in meinen Ermittlungen auf eine ganz heiße Spur gestoßen. … Ja, im Fall Raphael Gierbich. … Das kann deutliche Auswirkungen auf meine weitere Karriere haben. … Positiv meine ich. … Ich kann am Telefon nicht darüber reden. … N-S-U, sage ich nur.“ Er flüsterte die drei Buchstaben regelrecht ins Telefon. „Ja, genau d i e … die Zschäpe. … Pssst, nicht so laut. … ich stecke mitten drin in dem Fall … Ja, den Minister rufe ich als Ersten an. Ich muss jetzt Schluss machen, Schatz, ich erwarte noch einen dringenden Telefonanruf. … Na ja, wegen den Telefonnummern vom Minister und dem Verfassungsschutz. … Sieht nach einer Terrorzelle aus. … D-i-e w-o-l-l-e-n d-i-e Z-s-c-h-ä-p-e b-e-f-r-e-i-e-n“, flüsterte er gedehnt ins Telefon. Kommissar Hammer konnte seine Euphorie nicht für sich behalten. Dann legte er auf. Es klingelte schon wieder. Sein Büro. „Also Chef, iech hab die Delefonnummern. Hams was zum Midschreibn? Sie mergn sich die Nummern? Na gut, wenns maana! … Na ned 098, … die Vorwahl vo Minchn is 089.“
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Frau Dolores Hammer brauchte eigentlich nichts. Erst gestern war sie bei der Metro und beim Metzger, gleich gegenüber, doch sie hatte gerade umdisponiert. Heute Abend gab es zur Feier des Tages – egal wann ihr Nero heimkam – ein deftiges Sahnegulasch, keine Kartoffelsuppe mit Reibekuchen, wie ursprünglich geplant. Sie musste unbedingt noch schnell rüber, in die Metzgerei Haberstroh, dem einzigen Metzger in Schnepfenreuth. Es zog sie regelrecht hin.
„Grüß Gott!“
„Ja die Fraa Hammer! Hammer wohl was vergessn, gesdern?“
„Das nicht, Frau Haberstroh, aber aus gegebenem Anlass habe ich beschlossen, meinem Mann heute sein Lieblingsessen zuzubereiten.“
„Hammer wohl Hochzeidsdooch?“, riet Frau Haberstroh erneut.
„Odder Geburdsdooch?“, riet Frau Ottilie Siebenstampfer, eine treue Kundin der Metzgerei Haberstroh, die gerade dabei war, ihre Bestellung aufzugeben.
„Nein, nein, etwas Banales, Alltägliches ist der Anlass. Also mein Mann – eigentlich dürfte ich darüber ja gar nicht reden – Sie wissen schon der Entführungsfall …“
„Haddern derwischd, den Endfiehrer?“, rief Herr Haberstroh hinter der Theke dazwischen, der eine weitere Kundin bediente.
Frau Hammer winkte seufzend ab. „Viel schlimmer.“ Dann senkte sie die Stimme. „N-S-U“, stieß sie zwischen den Schneidezähnen hervor und wartete auf eine Reaktion.
Das Ehepaar Haberstroh und die anderen Kundinnen sahen sich mit großen Augen verständnislos an.
„Nazis“, schob Frau Hammer informativ nach, um gleich darauf zischend den Namen Zschäpe fallen zu lassen.
Herrn Haberstrohs Miene hellte sich auf. „Die wu die Diergn umbrachd ham?“
Frau Hammer schnaufte erleichtert auf. „Genau die.“
„Schdeggn die aa in dem Fall drinna?“, hakte Frau Haberstroh nach.
„Dees Gschwerdl!“, trug Ottilie Siebenstampfer ihren Beitrag dazu bei. „Iech sooch scho immer, verboodn gherns, die Nazi. Eigschberrd!“
„Unterstützer!“, warf Frau Hammer der hungrigen Meute einen weiteren Brocken hin.
Die Meute rätselte erneut.
„Die haben vor, mit dem erbeuteten Lösegeld Waffen anzuschaffen und die Zschäpe zu befreien“, löste Frau Hammer das Rätsel auf.
„Und dees had alles Iehr Moo rausgfunna?“, fragte Frau Haberstroh mit anerkennendem Blick.
Frau Hammer nickte mehrere Male stolz mit dem Kopf. „Vor zehn Minuten hat er mich angerufen und mir alles erzählt. Jetzt dürfte er gerade den Innenminister informieren.“
„Den Westerwelle?“, wollte Ottilie Siebenstampfer wissen.
„Der Westerwelle is doch ned unser Innenminisder“, klärte sie Frau Haberstroh auf. „Dees is doch der Schäuble.“
„Ach so, schdimmd ja“, lenkte die Kundin ein, „die zwa verwechsl iech immer. Den Noma vom Friedrich, unsern Verdeidigungsminisder kanner mer besser mergn.“
„Wissns was, Fra Hammer, schauers her, iech schneid Iehna vo dem moochern Schdüggla Rindfleisch do anerhalb Bfund runder. Do machsn Iehrn Mo a guds Gulasch draus. Dees kosd heid nix, und soogns nern scheene Grieß vo die Haberstrohs, er soll sis schmeggn lassn. Und die Gängsder soller alle eischberrn.“
„Und die Ausländer aa“, fügte Ottilie Siebenstampfer hinzu.
Hinten in der Ecke des Schnellimbiss kaute Bodo Ungerer, Reporter beim Pegnitz-Boten, genussvoll auf seiner Currywurst. Er hatte jedes Wort verstanden. ‚Nazis entführen Kind‘, oder klang ‚Held des Tages: Unser Nero Hammer’ besser? Vielleicht fiel ihm ja noch eine andere Schlagzeile ein. Wie wär’s mit ‚Zschäpe bald frei?‘?
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Einen Tag, nachdem der Pegnitz-Bote den Artikel „Nero Hammer lässt den Verfassungsschutz alt aussehen“ veröffentlicht hatte, wurde der Kommissar von seinen Aufgaben entbunden und ein halbes Jahr später nach Vohenstrauß in den Bayerischen Wald versetzt. Die Kindsentführer wurden nie gefasst. Raphael Gierbich wartet noch immer darauf, dass er ein zweites Mal entführt wird. Sein Vater hatte den Verlust der vier Millionen Euro schnell verschmerzt. Erstens war er gegen Kindsentführung versichert. Zweitens fiel die letzte Jahres-Bonuszahlung exorbitant hoch aus. Lizzy, die rassige Mexikanerin, war ihm allerdings kurzfristig abhanden gekommen. Sie heiratete einen Franken, der in dem kleinen Dorf Röttenbach beheimatet ist. Zwei Wochen später zog eine heißblütige Venezuelanerin namens Marie-Carmen in das freigewordene Appartement von Lizzy ein. Die tapfere, fünfundachtzigjährige Laufer Rentnerin, welche den Polizeibeamten von Nachtgiger drei regelrecht verdroschen hatte, errang in Lauf höchste Popularität, nachdem ihre Attacke stadtbekannt wurde. Sie trat den Piraten bei und kandiert bei der nächsten Kommunalwahl für das Bürgermeisteramt.
Der Nachtgiger? Nun für den echten Nachtgiger hat sich nichts geändert. Er verschleppt immer noch unartige Kinder, welche er in der Dämmerung oder nachts in Nürnberg erwischt – zumindest in der Gedankenwelt so mancher Mutter und so mancher Lausbuben.