Читать книгу Allmächd, scho widder a Mord! - Werner Rosenzweig - Страница 9

Foosenachd – Veitshöchheim

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Veitshöchheim lag unter einer dichten Regenwolkendecke, welche der Wind von Würzburg herübertrieb. Die Temperaturen erreichten knappe zehn Grad plus, an diesem 24. Dezember 2012. Viel zu warm für die Jahreszeit. Selbst der ruhig dahinfließende Main, dessen Wasser im Sommer silbrig glitzert, sah bedrohlich dunkel aus. Vor zwei Wochen lag noch Schnee in den Straßen und Gassen des kleinen Ortes, und die Temperaturen lagen bei frostigen minus zehn Grad. Es war bitterkalt und schon weihnachtlich weiß. Dann kam das Tauwetter aus Nordwesten, welches heftigen Regen mit sich brachte. Nichts war‘s mit einer weißen Weihnacht. Die Straßen waren nahezu menschenleer. Die meisten der knapp zehntausend Einwohner bereiteten sich auf den Heiligen Abend vor, auf die Bescherung im Familienkreis, auf ein gutes Weihnachtsessen oder auf die Wiederholung der Buddenbrooks, welche heute Abend im ersten Programm der ARD lief. Viele kleine Kinder besuchten mit ihren Eltern gerade die Kindergottesdienste und fieberten gedanklich den Geschenken entgegen, welche das Christkind bringen würde. Armes Christkind, bei diesem Wetter vom Himmel herab zu fliegen, war auch keine leichte Aufgabe.

Kein Mensch außerhalb der unterfränkischen Gemeinde nahm derzeit Notiz von Veitshöchheim. Dies würde erst wieder am 1. Februar 2013 der Fall sein, wenn in den Mainfrankensälen die alljährliche Faschings-Prunksitzung des Fastnacht-Verbandes Franken e.V. stattfand. Dann kamen sie wieder alle nach Unterfranken, die Politikpromis aus der verhassten bayerischen Landeshauptstadt, allen voran dieser ständig lächelnde Ministerpräsident, der beim Sprechen die Zähne nicht auseinander bekam, seinen schlagzeilengeilen Finanzminister im Schlepptau. Die zwei Fuzzis der CSU verband miteinander mehr Hassliebe als politische Gemeinsamkeiten. Was meinte Horsti doch gleich wieder über seinen Schatten: „Ein vom Ehrgeiz zerfressener, charakterloser Wichtigtuer“. Doch dann vertrugen sie sich doch wieder und liebten sich, als wäre nichts gewesen. Dennoch, insgeheim war dem Horsti seine Ilse-Maus schon lieber. Aber auch die Roten, Gelben und Grünen stürzten sich am ersten Februar wieder in bunte Faschingskostüme, um den Millionen Zuschauern an den Fernsehgeräten zu zeigen, welch hohes Maß an Humor sie aufbringen konnten, wenn es denn sein musste. Anpassen, schön Wetter machen, war angesagt in diesem wichtigen Wahljahr. Immer schön lächeln. Dreihundert Eintrittskarten blieben den sogenannten Promis vorbehalten. Die restlichen dreihundert wurden im Losverfahren unter den mehr als zehntausend Interessenten vergeben, die auch gerne an der Prunksitzung teilgenommen hätten. Wer bei Fastnacht in Franken in Veitshöchheim dabei ist, ist „in“. Die fränkische Veranstaltung ist der Höhepunkt des Faschings in ganz Bayern. Wie das dem bayerischen Ministerpräsidenten, wie auch seinem Herausforderer von der SPD stank. Leider konnten sie es öffentlich nicht zugeben. Jedes Jahr mussten sie sich diese beißenden fränkischen Sticheleien und Seitenhiebe gefallen lassen. Sehr zur stillen Schadenfreude des aus Hersbruck stammenden, früheren Landesvaters, den sie nur kurz in Amt und Würde gelitten hatten, bevor sie ihre politischen Intrigen schürten.

Die Vorbereitungen liefen bereits seit Monaten, aber die fränkischen Narren mussten sich noch etwas gedulden. Noch war es nicht soweit. Erst in einem Monat und sieben Tagen würde der langjährige Sitzungspräsident die Prunksitzung eröffnen. Dann wirbelten wieder Deutschlands beste Funkenmariechen und Faschingsgarden über die Bühne, und Waltraud und Mariechen durften dem dankbaren Publikum ihre neuesten Gags vorspielen. Am 1. Februar 2013 würde Veitshöchheim wieder einmal einen Fernsehabend lang der Nabel des bayerischen Faschings sein. Nicht München.

Viele tausend Kilometer vom mainfränkischen Veitshöchheim entfernt, im pakistanischen Peshawar, sprach man ebenfalls über die kleine unterfränkische Gemeinde. Auch hier planten Experten für die am 1. Februar stattfindende Prunksitzung. Sie trafen sich im Innern eines halbverfallenen, kleinen Hauses, in einer engen, schmutzigen Gasse, mitten im Stadtkern von Peshawar. Die Gesprächspartner hießen allerdings nicht Volker Heißmann und Martin Rassau. Nicht Pierre Ruby mit seiner Amanda, auch nicht Michl Müller. Die Vertreter der Altneihauser Feierwehrkapelln waren auch nicht anwesend, sondern nur die Mitglieder einer islamistischen Terrorzelle der Al-Qaida.

„Salam alaikum, meine gläubigen Brüder. Allahu Akbar!“, begrüßte Abu Hassan Akbar, der Leiter der Gruppe, die vier anderen.

„Wa alaikum as salaam, Abu“, grüssten Mueselim Ansari, Shakir Yakisan, Ibrahim al-Assad und Yousaf Khan zurück. „Gott ist groß. Es gibt nur einen Gott!“

Die fünf Tadschiken aus Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans im Südwesten des Alai-Gebirges, kannten sich seit Kindesbeinen an, und waren vor fünf Monaten gemeinsam in die Dienste von Al-Qaida getreten. Sie waren gläubige Moslems und hatten ihre Herzen dem Dschihad, dem heiligen Krieg gegen die Ungläubigen, verschrieben. Die letzten Wochen hatten sie in einem Ausbildungslager im Swat-Tal verbracht und waren im Umgang mit Kalaschnikows, Pistolen, Sprengstoff, dem Legen von Landminen und dem Bombenbau geschult worden. Nun saßen sie in dem alten Haus, im Zentrum Peshawars, der Hauptstadt der nordwestlichen Grenzprovinz zu Afghanistan, Khybar Pakhtunkhwa. Sie steckten die Köpfe zusammen, um die letzten Schritte für ihren ersten Auslandseinsatz zu planen.

Bereits vor Wochen hatte der Leiter ihrer Terrorzelle, Al-Turabi, ihr Ziel ausgesucht: Veitshöchheim, ein kleines deutsches Städtchen, in der Nähe von Würzburg. „Unser Anschlag auf den Bahnhof in Bonn war ein Fehlschlag“, hatte Al-Turabi ihnen erklärt. „Wir hatten Stümper am Werk, schlecht ausgebildete Leute. Sie konnten die Bombe zwar in Position bringen, doch sie zündete nicht. Sie setzten zu schwache Batterien ein. Pfuscharbeit! Nun sind die deutsche Polizei und die deutschen Geheimdienste glockenwach. Wir müssen dieses Mal außerordentlich vorsichtig agieren.“

„Was ist unser Ziel, Bruder Turabi“, wollte Abu Hassan Akbar begierig wissen, „was unsere Aufgabe?“

„Langsam, langsam, Bruder Abu. Allah wird uns in unserem Kampf gegen die Ungläubigen führen. Ich komme gleich auf eure Aufgabe zu sprechen, doch zunächst lasst uns Gott anrufen und ihn um seinen Beistand im Kampf gegen alle Nichtgläubigen bitten.“

Al-Turabi hatte ihnen nach ihrem Gebet die Aufgabe bis ins kleinste Detail erläutert. Das war vor zwei Wochen gewesen. Nun saßen sie zusammen und besprachen zum letzten Mal ihre Aufgabenteilung. Sie würden sich nach diesem Treffen erst in Veitshöchheim wieder sehen. Mueselim Ansari und Ibrahim al-Assad planten, mit der KLM über Bahrain in Amsterdam einzureisen. Yousaf Khan und Shakir Yakisan würden nahezu zeitgleich die italienische Route nehmen. Abu Hassan Akbar aber, ihr Anführer eilte ihnen zwei Wochen voraus. Seine erste Aufgabe war es, die angestoßene Arbeit, welche die deutschen Sympathisanten und Helfer bereits eingeleitet hatten, zu überprüfen und alles Nötige für den großen Bäng vorzubereiten. Die Schläfer in Deutschland waren von Al-Turabi persönlich mobilisiert worden. Die fünf Terroristen waren angewiesen worden, keine Telefonate nach Europa zu führen. Der CIA, der britische MI6 und der deutsche BND saßen auf Zypern und hörten alle Telefongespräche ab. Eine Pleite wie in Bonn würde es nicht mehr geben. Wie schlau von Al-Turabi, für den Anschlag einen Ort auszuwählen, an dem Fröhlichkeit und Ausgelassenheit vorherrschten. Die Aufmerksamkeit der staatlichen Polizeiorgane und die Sicherheitsmaßnahmen würden zwangsweise darunter leiden. Das machte die Sache leichter. Über installierte Kameras, wie am Bahnhof in Bonn, machten sie sich dieses Mal keine Sorgen. An dem Tag, an dem sie zuschlugen, würden sie maskiert sein, wie die meisten Besucher dieser seltsamen Veranstaltung. Komische Leute, diese Deutschen, ziehen sich bunte Kostüme an, tanzen und singen dabei und trinken dazu in rauen Mengen Alkohol. Ungläubige Bastarde! Inklusive der Darsteller, Organisatoren und sonstiger Hilfskräfte würden sich knapp achthundert Menschen in dem Gebäude aufhalten, wenn die Halle mit lautem Getöse zusammenkrachte. Auch der Führer dieser bayerischen christlichen Partei war wieder da. Tod den Ungläubigen! Das Fernsehen berichtete live aus dem Inneren der Halle. Millionen von Fernsehzuschauern saßen dann im ganzen Land an den Bildschirmen und konnten zusehen, wie die detonierenden Bomben die Stahlträger, Betonwände und das Dach zum Einsturz brachten. Umherfliegende Glassplitter, Metallteile und Betonbrocken würden Schrecken, Angst und Tod mit sich bringen. Eine Inszenierung besser als 9/11. Zwar mit weniger Toten, aber umso medienwirksamer inszeniert. Abu Hassan Akbar träumte von der Berühmtheit, die er und seine moslemischen Brüder mit dieser Tat erlangen würden. Zum wiederholten Male vertiefte er sich in die Baupläne der Mainfrankensäle, um die sie alle fünf herumsaßen. Eigentlich taten sie ein gutes Werk. Sie halfen den Deutschen eine Menge Geld einzusparen. Am 18. Februar sollte mit der Sanierung und Erweiterung des Gebäudes begonnen werden. Mehr als dreizehn Millionen Euro sollten dafür ausgegeben werden. Die Deutschen konnten sich dieses Geld sparen. Am Abend des 1. Februars würde es die Mainfrankensäle nicht mehr geben, sondern nur noch Schutt und Asche mit vielen Toten. Sie mussten die Sprengsätze nur an den richtigen Stellen platzieren.

„Hier steigen wir voraussichtlich ein!“ Abu Hassan Akbar deutete auf den Küchenbereich der Mainfrankensäle, gleich neben dem Restaurant.

Am Abend des 26. Dezembers bestieg Abu Hassan Akbar mit gefälschtem Pass unter dem verhassten Namen David Morgenstern die PIA von Karatschi nach Dubai. Der Quaid-E-Azam International Airport lag im Dunst der naheliegenden pakistanischen Hauptstadt. In Dubai hatte er nach zwei Stunden Aufenthalt direkten Anschluss nach Wien Schwechat, wo er tags darauf von dem Deutschen Salafisten Max Schneider abgeholt wurde. Sie bestiegen den Mietwagen, einen VW Passat, und machten sich auf den Weg in das kleine unterfränkische Städtchen Zell am Main. Max Schneider, ehemaliger Unteroffizier bei den Pionieren der Deutschen Bundeswehr, hatte alle Beschaffungen, die ihm von Al-Turabi aufgetragen worden waren, längst erledigt. Im Keller des kleinen Anwesens im Dr.-Bolza-Ring, mit Blick auf den Main, welches er bereits im Oktober angemietet hatte, lagerten Zünder, Nitromethan, Natriumchlorat, Ammoniumnitrat und sonstige nette Zutaten, welche zum Bau hochexplosiver Sprengsätze hervorragende Dienste erwiesen.

Es war ein trüber Tag in Veitshöchheim, keine Sonne. Der Wind blies leicht aus Westen, und es sollte bald wieder kälter werden. Bitterkalt. Zwei Rentner standen mit hochgestellten Mantelkrägen im Rokokogarten, den die Würzburger Fürstbischöfe im achtzehnten Jahrhundert anlegen ließen, und unterhielten sich angeregt.

„Bist in Werzburch gewast?“

„Jo.“

„Wos host dann do gmecht, boor Schü gekefft, odder dich frisier gelosst?“

„Näi, i hob mi foto loss grafier.“

Ihre beiden Dackel beschnupperten sich unterdessen und schienen ebenfalls Gefallen aneinander gefunden zu haben.

Abu Hassan Akbar hatte die Kapuze seines Anoraks tief in das Gesicht gezogen, als er an den beiden Alten vorbei trottete. Das Wetter war ideal für seine Mission. Er war von dem nahen Zell trotz Wind und Regen mit dem Fahrrad herübergekommen und wollte sich das Objekt des geplanten Terroranschlags, die Mainfrankensäle, von der Nähe aus ansehen. Bis auf die beiden Rentner war keine Menschenseele unterwegs, an diesem 7. Januar 2013. Er näherte sich dem Gebäude von Westen, lief am Schloss vorbei, setzte seinen Weg, nachdem er den Rokokogarten verlassen hatte, in der Oberen Maingasse fort und bog dann zur Mainlände nach links ab. Er sah eine Weile auf die dunkeltrübe Wasseroberfläche des Flusses, auf der sich kleine, vom Wind getriebene Wellen kräuselten. Ein tief im Wasser liegender Frachtkahn näherte sich tuckernd aus Richtung Würzburg. Nach einer Weile drehte sich der Terrorist um, und betrachtete aus einiger Entfernung den Treppenaufgang zu den Mainfrankensälen. Noch ahnten die Besucher der Prunksitzung nicht, dass sie in Kürze die Treppe des Todes beschreiten würden, einen Weg ohne Wiederkehr. Abu Hassan Akbar setzte seinen Weg fort, um näher an das Objekt heranzukommen. Langsamen Schrittes schwenkte er in die Parkstraße ein und lief von dort auf die Mainfrankensäle zu. Nur wenige Autos standen auf den Besucherparkplätzen. Der Al-Qaida-Mann schritt die Stufen der Treppe empor und stand wenige Augenblicke später auf der breiten Terrasse. Das Restaurant war von innen dezent beleuchtet. Vereinzelt saßen Gäste an den Tischen. Er schloss die Augen und stellte sich den Grundriss des Objekts vor: Hinter dem fünfundsiebzig Quadratmeter großem Speiselokal zog sich die langgestreckte Küche hin. Davor lagen die Garderobe und eine kleine Bar. Beide waren vom Foyer aus erreichbar. Die Besucher mussten direkt an der Bar vorbei, wenn sie in den Mittleren Saal wollten. Doch am 1. Februar würde die Trennwand zwischen Mittlerem und Kleinem Saal geöffnet sein, so dass den Besuchern sechshundertsiebenundachtzig Quadratmeter zur Verfügung standen, die höhenverstellbare Bühne nicht eingerechnet. Rechterhand, im Anschluss an das Foyer, lag der Konferenzraum mit einer Grundfläche von einhundertfünfundzwanzig Quadratmetern. Dieser Raum interessierte ihn weniger. Seine Aufmerksamkeit galt den Sälen, der Bühne und dem Bar-Küchenbereich. Hier würden sich die meisten Menschen aufhalten. Dann rief er sich die Gegebenheiten des Untergeschosses ins Gedächtnis zurück, welches hauptsächlich aus Technikräumen bestand. Er überlegte. Seine Gruppe hatte zwei Optionen, die Bomben wirksam zu platzieren: entweder im oberen Bereich, zum Beispiel unter der Bühne und zur Küche hin, oder im unteren Stockwerk. Letzteres setzte allerdings voraus, dass die Bomben eine solche Sprengkraft entwickeln, dass das gesamte Gebäude in Sekunden vollständig in sich zusammenbricht und die Besucher unter sich begräbt. Beide Varianten hatten Vor- und Nachteile. Im ersteren Fall wären die Gäste direkt der Wirkung der Sprengsätze ausgeliefert, was ein blutiges Schlachtfeld zur Folge hätte, überall zerfetzte Leiber. Andererseits ist es schwierig und mit einem hohen Risiko verbunden, die Bomben unbeobachtet zu platzieren. Im Geist beschloss er, die Sprengsätze im Untergeschoss zur Detonation zu bringen. Zwei Bomben mit einer hohen Sprengkraft, der Sprengsatz aus einer Mischung von Ammoniumnitrat und Nitromethan, ließen die Mainfrankensäle in Schutt und Asche versinken. Das ließe sich machen. Er dachte an seine Ausbildung im Swat-Tal und erinnerte sich an die Bilder vom zerstörten, neunstöckigen Murrah Federal Building, in Oklahoma City. Eine Bombe aus Ammoniumnitrat, gemischt mit Nitromethan, hatte damals, am 19. April 1995 einhundertachtundsechzig Menschen getötet. Das Bürogebäude wurde völlig zerstört. Doch Abu Hassan Akbar wollte mehr über die Mainfrankensäle erfahren. Er wollte nicht nur die Pläne des Gebäudes studieren, er wollte das Objekt selbst kennenlernen, bevor er und seine Leute den Tod ins Haus brachten. Er hatte beschlossen, die Räume aufzusuchen, in denen die Ungläubigen von seinen Bomben zerrissen wurden. Allahu Akbar! Morgen, kurz vor neunzehn Uhr, ergab sich die Möglichkeit dazu. Er hatte die Eintrittskarte für den Vortrag über China bereits in seiner Tasche.

Abu Hassan Akbar war pünktlich. Zehn Minuten vor neunzehn Uhr betrat er das Foyer der Mainfrankensäle. Der Vortrag über China fand großen Anklang. Circa fünfzig Leute standen vor der Abendkasse. Er setzte sich in die hinterste Reihe. Nach dreißig Minuten verließ er den abgedunkelten Raum. Die Herrentoiletten befanden sich im Untergeschoss. Er war allein, niemand störte ihn. Als er die Toiletten wieder verließ, sah er die Tür mit der Aufschrift „Zugang nur für Personal“. Darunter stand in Englisch „Staff Only“. Er drückte die Türklinke. Die Tür war unverschlossen. Nach zehn Minuten kehrte er zurück und trat wieder aus der Tür. Er war höchst zufrieden. Er wusste nun genau, welche Bomben er bauen würde und wo er und seine Leute sie platzieren würden. Die ganze Angelegenheit war kinderleicht. Ihm war eine glänzende Idee gekommen. Niemand würde die Sprengsätze entdecken, selbst wenn er mit der Nase direkt davor stünde. Der Terrorist nahm sich vor, drei Sprengsätze zu bauen. Die örtlichen Gegebenheiten luden regelrecht dazu ein. Er sah die Mainfrankensäle bereits wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Morgen musste er Max Schneider nochmals auf Einkaufstour schicken. Außerdem musste er einen Pkw organisieren, mit einer ganz bestimmten Werbeaufschrift.

Seit einunddreißig Jahren sind Barbara Stieler, geborene Schacher und ihr Mann Anton verheiratet. Seit ihrer Geburt leben die beiden in der kleinen unterfränkischen Gemeinde Obersinn, im Landkreis Main-Spessart. Die weiteste Reise, welche die zwei in ihrem Leben je unternommen hatten, führte sie nach Würzburg. Das war auch vor einunddreißig Jahren. Es war ihre Hochzeitsreise. Damals besuchten sie Antons Bruder Michael, der ihnen zwei Tage lang die Schönheiten der Stadt zeigte. Danach fuhren sie mit dem Bummelzug wieder nach Obersinn zurück. In dem kleinen Ort unterhalten sie einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, sind fleißig, genügsam, glücklich und zufrieden. Die beiden erwachsenen Söhne waren längst aus dem Haus. Ihre Wege führen Anton und Barbara gelegentlich in den Ortsteil Emmerichsthal, wo Barbaras Geburtshaus steht, nach Mittelsinn und nach Bergsinn. Worte wie „Hotel“, „Kreditkarte“, oder „EC-Karte“, kennen sie nur vom Hörensagen. Andere Begriffe, wie „Laptop“, „Internet“, oder „Homepage“ sind ihnen völlig ungeläufig. Durch die Ortschaft Obersinn mit ihren knapp über eintausend Einwohnern schlängelt sich das Flüsschen Sinn, welches die Ortschaft in eine Spessart- und in eine Rhönseite teilt. Barbara und Anton leben auf der Spessartseite. Anton ist Mitglied beim SV Obersinn, bei der Freiwilligen Feuerwehr, beim Gesangsverein und beim Wanderverein. Der absolute Höhepunkt in Obersinn ist das alljährliche Schachblumenfest. Der Sinngrund mit seinen Feuchtwiesen ist das größte zusammenhängende Gebiet Deutschlands, in welchem die Schachblumen, ein Liliengewächs, von April bis Mai in vollen Blüten erstrahlen.

Nun ergab es sich, dass die Main-Spessart-Zeitung in ihrer Weihnachtsausgabe einen Heimatwettbewerb ausschrieb. Als Hauptpreis gab es zwei Eintrittskarten für die Prunksitzung Fastnacht in Franken, in Veitshöchheim. Einsendeschluss war der Silvestertag 2012. So stand es in der Zeitung. Die zu bewältigende Aufgabe bestand darin, einen vorgegebenen, hochdeutschen Text, bei dem es um das Schachblumenfest ging, in das beste, traditionellste Unterfränkisch zu transferieren, ein Unterfränkisch, wie es eben im Sinntal gesprochen wird. Der vorgegebene, hochdeutsche Text lautete:

Wenn du von auswärts kommst und einen schönen Spaziergang machen willst, bevor du zum Schachblumenfest gehst, lässt du am besten in Mittelsinn dein Auto stehen und marschierst über den Mannstall zum Brunnberg, weiter zum Rasen vom Dilleschmied, den Grund hinunter und die Röder entlang, dann erreichst du den Festplatz.

Später, nach einigen Bierchen und einer Bratwurst gehst du zurück ins Dorf über die Holeide und den Tiegel, bleibst einen Augenblick an der Blauen Villa stehen und erfreust dich daran, wie schön sich unser Dorf herausgeputzt hat.

Der Obersinner Wanderverein, dessen wirklich aktive Mitglieder hauptsächlich zugezogene Preußen sind, beschloss, sich der Aufgabe zu stellen. Aus verständlichen Gründen und nach etlichen Fehlversuchen trug dann doch Anton Stieler maßgeblich zu dem eingeschickten Lösungsvorschlag bei:

Willsde, wann de voo auswärts kömmsd, öeschd emoa en schüene Schbaziergang mach, befüür de zum Schachblummefesd geäsd, löessde in Mejiddelsinn dai Audo schdijenn unn marschierst üwern Mannschdall zum Brönnbarch, waidder zum Dilleschmiidsrösije unn die Grünn unn dii Röüder naus, dann kömmsde zum Festplatz. Schbeäder, nooch e boor Bier unn e Broadwueschd geäsde zeröügg üwer dii Holeide unn em Diichel ins Duerf und blaisd en Aachebkiigg on de blaue Villa schdijenn. Dann guggsde diich e wengg öm unn frääsd diich, wii schüe sich unser Duerf rausgebutzt hoed.

Fünfzig Prozent der Vereinsmitglieder verstanden überhaupt nicht, was da auf dem Papier stand. Weitere neunundvierzig Prozent hatten keine Ahnung, was das gesprochene Wort zum Ausdruck bringen sollte. Der dünne Lars Koggendorf aus Schleswig-Holstein murmelte nur ständig: „Smörebroed, Smörebroed.“ Einzig und allein Leopold Hornhaut, der Vorsitzende des Wandervereins, ein alter Obersinner, verstand, was Anton Stieler zu Papier gebracht hatte.

Am 8. Januar 2013 teilte die Redaktionsleitung der Main-Spessart-Zeitung dem Wanderverein Obersinn mit, dass der Verein den ersten Preis des Weihnachtswettbewerbs gewonnen habe, gratulierte zu dem hervorragenden mundartlichen Beitrag und bat um die Namen der zwei Personen, welche zur Prunksitzung nach Veitshöchheim kommen. Leopold Hornhaut, schrieb zurück: „Den Wanderverein Obersinn vertreten Barbara und Anton Stieler.“

Daraufhin bereiteten die Verantwortlichen der Main-Spessart-Zeitung die Einladung an das Ehepaar Stieler vor: Zwei Übernachtungen im Best-Western-Hotel Weißes Lamm in Veitshöchheim, inklusive Vollpension und zwei Eintrittskarten zu der Prunksitzung Fastnacht in Franken. Anreise am 1. Februar 2013, Abreise am Sonntag, den 3. Februar.

Barbara und Anton Stieler hatten keine Ahnung von ihrer bevorstehenden, zweiten Weltreise innerhalb von nur einunddreißig Jahren.

Während die vier tadschikischen Terroristen, Mueselim Ansari, Ibrahim al-Assad, Yousat Khan und Shakir Yakisan mit gefälschten Pässen in der Gulf Air-Maschine von Karatschi nach Bahrain saßen, bastelte Abu Hassan Akbar im Dr.-Bolza-Ring an seinen drei Sprengsätzen. Max Schneider hatte in unterschiedlichen Würzburger Geschäften drei Sechs-Kilogramm-protex-Feuerlöscher mit Manometer gekauft. Abu Hassan hatte eine geniale Idee entwickelt: Sie tauschten die drei protex-Feuerlöscher, die in den Mainfrankensälen hingen, gegen drei neue aus. Einfach und simpel. Niemand würde Verdacht schöpfen. Es gab nur einen winzigen, aber markanten Unterschied: In den „alten“ Feuerlöschern befand sich Löschpulver. In den neuen befanden sich jeweils ein Gemisch aus Ammoniumnitrat und Nitromethan, ein verlässlicher Zünder, weiterhin eine Software zur Verwaltung einer grafischen Benutzeroberfläche mit zugehöriger Antenne und ein Mobilteil, in welchem eine Frequenz zwischen 1156 und 1157 Mega-Hertz eingespeichert war. Die Batterien in den Mobilteilen waren vollgeladen. Es konnte praktisch nichts schief gehen. Durch die Zündung über Funk ging der Feststoff in Gas über. Diese Reaktion würde eine gewaltige Sprengkraft auslösen. Die Mainfrankensäle würden am 2. Februar der Vergangenheit angehören. Mehr als ein verkohlter, schwelender Haufen würde nicht übrig bleiben. Da war sich Abu Hassan Akbar sicher. Morgen würde er die letzte Bombe fertigstellen. Tod den Ungläubigen. Allahu Akbar.

Während ihr Führer in Zell am Main fleißig an den Sprengsätzen bastelte, trafen seine vier tadschikischen Terror-Kumpane pünktlich am Flughafen in Bahrain ein. Nach achtzig Minuten Aufenthalt betraten Mueselim Ansari und Ibrahim al-Awad die KLM-Maschine nach Amsterdam. Dreißig Minuten später nahmen Yousat Khan und Shakir Yakisan in der Business-Class der Allitalia Platz, um es sich auf dem Weiterflug nach Rom bequem zu machen. Auf getrennten Wegen wollten die vier Terroristen am 14. Januar in Zell eintreffen. So hatten sie es geplant. Dass es so nicht kommen würde, konnte zu diesem Zeitpunkt noch keiner von ihnen ahnen.

Als Anton Stieler und seine Barbara von ihrem „Glück“ erfuhren, schien für sie die Welt unterzugehen. Schon einmal, vor einunddreißig Jahren, mussten sie Obersinn verlassen, um sich auf eine weite Reise zu begeben, nur weil Antons Bruder darauf bestand, dem jungen Paar die Stadt Würzburg zu zeigen. Schon damals fühlten sie sich in der Fremde unwohl. Die Menschen sprachen eine andere Sprache. Das musste heute noch viel schlimmer sein. Sie könnten Fastnacht in Franken im Fernsehen anschauen, warum also extra die weite Reise unternehmen? In Veitshöchheim sind so viele kostümierte fremde Menschen in dieser engen, stickigen Halle, und alle sind gut gelaunt, trinken und klatschen in die Hände. Der Ministerpräsident steckt immer in einem dunklen Anzug, schwitzt im Gesicht und lacht gequält. Sein Lehrling, dieser Möchtegern-Finanzminister, hatte sich ein Mal in einen – wie nennt man das heutzutage? – in einen Punker verkleidet. Schrecklich sah der damals aus, richtig zum Fürchten.

„Om Foosenochdsdiischdich felld dii Schuel aus. Dii Schuelkinn versammele siich all schüe kostümiert unn maskiert on de old Schuel unn zije dann als Foosenochdszuuch durchs Duerf“, sprach die Barbara zu ihrem Anton, und wollte damit zum Ausdruck bringen „Warum denn so weit weg? Foosenachd haben wir in Obersinn doch auch! Was müssen wir da nach Veitshöchheim?“

Zudem, die Barbara hatte nur eine Kiddelschürz und ein einunddreißig Jahre altes Klääd, aus dem sie längst herausgewachsen war. Wo sollte Anton einen Oozuch herkriegen, er hatte doch nur eine knielange Joubbe. Und überhaupt, sie hatten weder Faschingskostüme, noch dunkle Anzüge, noch verstanden sie die meisten Künstler, die auf der Bühne auftraten. Sie erinnerten sich an einen Mittelfranken, der vom Ende einer anderen Welt zu kommen schien. Klaus Karl-Kraus. Wie konnte man nur Klaus Karl-Kraus heißen? Der sprach immer von einem Glubb der Aborigines auf einem Berch, wo jedes Jahr ein Gwerch stattfindet, und die Bayern-Säu nichts zu suchen haben. Dabei schrie er immer so, in seiner rot-weißen Jacke, und sein mickriges Pferdeschwänzchen schwappte immer hin und her. Anton und Barbara Stieler hatten die Geschichten, die er in dieser sonderbaren Fremdsprache erzählte, nie verstanden. Und nun sollten sie solchen Leuten von Angesicht zu Angesicht gegenüber sitzen? Womöglich in der ersten Reihe? In einer stinkenden, engen Halle? So weit weg von Obersinn?, Ohne Anzug, Kleid oder Kostüme? Mit dem bayerischen Oberkaspar, der beim Sprechen die Zähne nicht auseinander bekam und immer so dreckig grinste. Unter einem Dach?

Unmöglich! Nie und nimmer!

Sie hatten allerdings nicht mit der Überzeugungskunst des Leopold Hornhaut gerechnet, im wahren Leben nicht nur Vereinsvorsitzender, sondern auch Polizeihauptmeister bei der Landpolizei in Bergsinn. Leopold versprach Anton, ihm seine Uniform nebst Polizeimütze zu leihen. Sie hatten ja beide die gleiche Statur. Warum Leopold die Pistole nicht auch herausrücken wollte, leuchtete Anton nicht ein. Das war doch überhaupt der Clou. Doch Leopold blieb hart und ließ in diesem Punkt nicht weiter mit sich handeln. Frau Hornhaut trieb für Barbara ein weit geschnittenes Affenkostüm auf. Ausschlaggebend war jedoch, dass Leopold Hornhaut sich anbot, die beiden Stielers höchstpersönlich nach Veitshöchheim zu fahren, beim Einchecken im Hotel behilflich zu sein und sie auch am Sonntagmorgen wieder abzuholen. Im Polizeiwagen versteht sich, und mit Blaulicht und Martinshorn. Als Anton und Barbara dann noch vernahmen, dass auch der Erzbischof des Bistums Würzburg bei der Prunksitzung zu Gast sei, gingen ihnen allmählich die Argumente aus.

Yousat Khan und Shakir Yakisan landeten pünktlich am 12. Januar auf dem römischen Flughafen Fiumicino-Leonardo da Vinci. Nach der oberflächlichen Passkontrolle und nachdem sie ihr Gepäck vom Band aufgenommen hatten, nahmen sie sich ein Taxi zum Bahnhof Roma Termini. Dort stiegen sie nachmittags um halb drei in die City Night Line der Deutschen Bahn nach Frankfurt am Main. Tags darauf wollten sie in Würzburg ankommen und in der Pension „Zur Reblaus“ Mueselim und Ibrahim abholen, die tags zuvor angekommen sein müssten.

Mueselim Ansari und Ibrahim al-Awad kamen mit der KLM etwa zeitgleich auf dem Flughafen Schiphol in Amsterdam an. Auch sie hatten bei der Einreise keine Probleme. Ihre Anreise nach Würzburg war deutlich kürzer, und sie leisteten sich den Luxus eines Taxis. Der Fahrer konnte sein Glück kaum fassen, ließ sich aber sicherheitshalber das Bündel Geldscheine zeigen, bevor er losfuhr. Ibrahim und Mueselim schnallten sich an und machten es sich auf den hinteren Plätzen bequem.

Der Taxifahrer informierte seine Fahrgäste darüber, dass circa fünfhundertfünfzig Streckenkilometer vor ihnen lagen und dass sie sich, je nach Verkehrsaufkommen, auf eine Fahrt von ungefähr sechs Stunden einstellen müssten, inklusive einer halbstündigen Pause. Dann nannte er ihnen den Fahrpreis. Ibrahim nickte nur und deutete an, dass der Preis in Ordnung gehe. Der Fahrer informierte noch seine Leitstelle, dass er zwei Fahrgäste nach Würzburg in die Pension „Zur Reblaus“ bringe, dann nahm er ordentlich Fahrt auf und erhöhte die Geschwindigkeit.

Das Taxi fuhr über Arnheim, Duisburg, Köln und Bonn. Kurz hinter Bonn verließ der Fahrer die Autobahn und steuerte eine Raststätte an. Nach einer halbstündigen Pause mit Toilettengang, Tanken, Kaffee und zwei Zigaretten ging es weiter. Die Städte Wiesbaden und Frankfurt am Main lagen bald hinter ihnen, und weiter ging es auf der A3. Die beiden Fahrgäste auf den Rückbänken waren in Höhe Wiesbaden eingeschlafen. Um sie nicht zu stören, schaltete der Fahrer das Radio vollkommen aus. Er betrachtete die beiden durch den Rückspiegel. Bei jeder langgezogenen Kurve schwangen ihre Köpfe hin und her. Zwischenzeitlich näherte er sich seinem Ziel. Das Autobahndreieck Würzburg-West lag nur noch zwanzig Kilometer vor ihm. Dass bei Würzburg-Kist ein Geisterfahrer die Autobahn befahren hatte und ihm mit hoher Geschwindigkeit entgegen kam, konnte er nicht wissen, er hatte das Radio ja abgestellt. Der holländische Taxifahrer wunderte sich, dass fast alle Verkehrsteilnehmer vor, und hinter ihm plötzlich ihre Geschwindigkeit drastisch drosselten und in weiten Abständen hintereinander fuhren. Ihm war kein Verkehrsschild mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung aufgefallen. Alle fuhren rechts. Die linke Spur vor ihm war völlig frei. Er trat aufs Gaspedal und freute sich, dass er umso früher sein Ziel erreichen würde. In einer weitläufigen, schlecht einsehbaren Rechtskurve betrachtete er erneut seine Fahrgäste im Rückspiegel. „Wo die wohl herkamen, und was die wohl in Würzburg machen?“, ging es ihm durch den Kopf. Als er den Blick wieder auf die Straße vor sich richtete, war es bereits zu spät. Der junge Geisterfahrer aus Wolfenbüttel fuhr mit seinem VW Golf GTI ungebremst in den holländischen Mercedes 220S. Beide Fahrer hatten nicht die geringste Überlebenschance, als Metall auf Metall krachte, die Motorblöcke bis in das Wageninnere geschoben wurden und sich in sich verwanden. Die beiden Pkws schleuderten durch die Wucht des Aufpralls um ihre eigenen Achsen. Das Taxi blieb schließlich in der Leitplanke zur Gegenfahrbahn hängen, das Wrack des VW Golf wirbelte auf die rechte Seite, fegte noch einen Ford Focus und einen Opel Astra von der Straße und blieb schließlich mit rauchendem Kühler in der Einfahrt zu einem Parkplatz liegen.

Mueselim Ansari und Ibrahim al-Awad waren durch den heftigen Aufprall der beiden Fahrzeuge nur für den Bruchteil einer Sekunde wach geworden. Bevor sie begreifen konnten, was passiert war, trugen auch sie schwere innere und äußere Verletzungen davon und verloren das Bewusstsein. Doch noch waren sie am Leben, die Anschnallgurte retteten sie vor dem sofortigen sicheren Tod.

Drei Fahrzeuge der Verkehrspolizeiinspektion Würzburg-Biebelried trafen als erste am Unfallort ein. Die Beamten sicherten die Unfallstelle und sperrten die Autobahn in Richtung Würzburg. Drei Minuten später heulten ein Kommandowagen, ein Einsatzleitwagen und ein Hilfeleistungslöschgruppenfahrzeug der Berufsfeuerwehr Würzburg heran. Ihnen voraus fuhren zwei Sanitätsfahrzeuge und ein Notarztwagen, welche die zuständige Notdienst-Zentrale mobilisiert hatte. Am Unfallort sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall lagen verbogene Wagenteile und Reifenfetzen der beiden Unfallfahrzeuge herum. Nachfolgende Fahrzeuge verursachten einen kilometerlangen Stau. Ein Rettungshubschrauber jagte im Tiefflug heran und machte sich daran, auf dem naheliegenden Parkplatz zu landen.

Mueselim Ansari und Ibrahim al-Awad waren immer noch bewusstlos im Fond des Mercedes eingeklemmt. Von draußen machten sich die Rettungskräfte der Feuerwehr mit einer Rettungsschere an dem Fahrzeugwrack zu schaffen. Ein Polizeibeamter rief zwei Leichenwagen eines Bestattungsunternehmens herbei. Ein anderer orderte telefonisch Abschleppfahrzeuge für die beiden Wracks und für die beiden fahruntüchtigen Fahrzeuge, den Ford Focus und den Opel Astra. Der Fahrer und die Fahrerin der beiden Pkws standen unter Schock und bluteten aus Kopfwunden. Der anwesende Notarzt und die Rettungssanitäter kümmerten sich um sie. Als die beiden tadschikischen Terroristen aus dem Taxiwrack befreit waren, checkte der Notarzt ihren gesundheitlichen Zustand und ordnete an, dass sie mit dem Rettungshubschrauber sofort in die zentrale Notaufnahme der Klinik für Poliklinik, Unfall-, Hand-, Plastische- und Wiederherstellungschirurgie geflogen wurden. Wenige Minuten später hob der Hubschrauber ab. Die Aufräumungs- und Reinigungsarbeiten, Aufnahmen der Unfallsituation und die Sperrung der Autobahn dauerten insgesamt vier Stunden. Dann wurde die A3 wieder freigegeben.

Max Huber, Polizeihauptmeister der Verkehrspolizeiinspektion am Mainfrankenpark 53 a in Dettelbach, sah erstaunt auf den Bildschirm seiner Computeranlage. Soeben war eine E-Mail aus Kuwait eingegangen. Darin berichtete die Firmenleitung der Sandoil Co. Ltd, dass weder ein Ali Faroug, noch ein Abdul Kelim in ihren Diensten stünden. Zudem befände sich derzeit kein einziger ihrer Mitarbeiter auf einer Geschäftsreise in Europa. Auch von der Taxizentrale am Amsterdamer Flughafen Schiphol lag eine Nachricht vor: Arien van Gool, der tödlich verunglückte niederländische Taxifahrer, wollte zwei angekommene Fluggäste nach Würzburg bringen. Ziel der Fahrt war eine Pension „Zur Reblaus“ in der Schulstraße 28 in Würzburg.

Max Huber überprüfte sicherheitshalber erneut die persönlichen Dokumente, welche die Kollegen bei den beiden Verunglückten gefunden hatten. Die Namen beider Pässe deckten sich mit denen, welche auf den gefundenen Visitenkarten der Firma Sandoil standen. Max Huber war ratlos. Die beiden Unfallopfer waren nicht vernehmungsfähig. Einer hatte, neben diversen Knochenbrüchen, einen Leberriss abbekommen. Bei dem anderen stellten die Ärzte eine komplizierte Schädelfraktur fest. Max Huber rief bei der Kripo Würzburg in der Weißenburgstraße 2 an und schilderte den Fall. Die Kollegen versprachen, sich um die Sache zu kümmern. Als sie die persönlichen Sachen der Unfallopfer gesichtet, kurz in der Poliklinik vorbeigefahren waren, mit der Pensionswirtin in der Schulstraße 28 gesprochen hatten und einen Blick auf die eingeschalteten Mobiltelefone der Schwerverletzten geworfen hatten, informierten sie das BKA in Wiesbaden. Es war Samstag, das Bundeskriminalamt hatte nur die standardmäßige Notbesetzung. Ein Mitarbeiter nahm den Anruf der Kriminalpolizeiinspektion Würzburg entgegen, notierte sich die gemachten Angaben und versprach den Rückruf des zuständigen Mitarbeiters am Montagmorgen.

Die Zugfahrt von Yousat Khan und Shakir Yakisan verlief, bis auf eine halbstündige Verspätung, problemlos. Max Schneider stand am Sonntag, dem 13. Januar 2013, um elf Uhr am Gleis drei des Würzburger Hauptbahnhofs und wartete auf das Eintreffen des Zuges. Fünf Minuten später fuhr der ICE mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof.

Yousat Khan und Shakir Yakisan waren müde, aber guter Dinge. Als sie aus dem Bahnhofsgebäude traten, warfen sie einen Blick auf die mächtige Burg hoch oben auf dem Marienberg. Max Schneider war zu sehr auf die beiden konzentriert, so dass er die Schlagzeile der BILD am Sonntag in dem Zeitungskasten übersah. „Würzburg - Geisterfahrer verursacht tödlichen Unfall“, stand in großen Lettern auf der ersten Seite. Die drei Männer hatten vier Minuten zu laufen, dann nahmen die beiden Muslime auf dem Rücksitz des VW Passat Platz. Max Schneider klemmte sich hinters Steuer und startete den Motor. Bis zur Schulstraße würde er einige Zeit brauchen Sie lag weit vor den Toren des Stadtzentrums, in Rottenbauer, dem südlichsten Stadtteil Würzburgs. Abu Hassan Akbar hatte ihm aufgetragen, die beiden vom Bahnhof abzuholen, weiter zur Pension Zur Reblaus zu fahren, dort Mueselim Ansari und Ibrahim al-Assad abzuholen und alle vier nach Zell in den Dr.-Bolza-Ring zu bringen.

Dreißig Minuten später hielt Max Schneider vor der Privatpension. Er stieg aus und betrat den kleinen Empfangsraum. Hilde Breitblocker, Witwe und Pensionsinhaberin saß persönlich hinter dem Tresen und las die BILD am Sonntag. Sie schniefte und putzte sich die Nase. Höflich fragte Max Schneider nach den beiden Gästen aus Kuwait, welche gestern hier eintrafen und für die jeweils eine Übernachtung reserviert war. Hilde Breitblocker sah in mit großen Augen an.

„Du kost mii ämol am Aasch geläck“, fauchte sie ihn an. Dann machte sie ihm mit schriller Stimme klar, dass sie den ganzen Tag vergebens auf die Kanacken gewartet habe, obwohl sie eine starke Erkältung habe. „Der Doggder hadd gemeend, iich soll ama übahaubd ned naus ausm Naasd“, begründete sie ihre schlechte Laune. Max Schneider legte ihr wortlos einhundert fünfzig Euro auf den Tisch. Als er sich gerade zum Gehen abwenden wollte, fiel sein Blick auf die BILD am Sonntag. „Zwei Tote – Zwei Geschäftsleute aus Kuwait schwer verletzt“, lautete eine der Schlagzeilen im Innern des Blattes. Er riss den Zeitungsartikel an sich, legte nochmals zwei Euro als Entschädigung auf den Tresen und verließ wortlos die Pension. Hilde Breitblocker starrte ihm mit offenem Mund nach. Dann notierte sie sich das Kraftfahrzeugkennzeichen des sich entfernenden VW Passat.

Am Montagmorgen, kurz vor neun Uhr, meldete sich Klaus Kellermann vom BKA telefonisch bei der Kripo Würzburg und verlangte mit Kommissar Gerhard Kowalski verbunden zu werden. Das Gespräch dauerte fünfzehn Minuten, „… und als wir dann feststellen mussten, dass die beiden Schwerverletzten gar nicht bei Sandoil beschäftigt sind und auf ihren Mobiltelefonen offenbar Telefonadressen in Urdu abgespeichert sind, kam bei uns die Vermutung auf, dass es sich um Personen unbekannter Identität handeln könnte. Den Verdacht, dass wir es möglicherweise mit Terroristen zu tun haben, gewannen wir, als wir in einem der Gepäckstücke die Zeitschrift Inspire fanden, die von der Al-Qaida herausgegeben wird. Ob es sich bei den Reisepässen der beiden um Originale handelt, nun auch darüber sind zwischenzeitlich erhebliche Zweifel aufgekommen. Möglicherweise haben wir es mit sehr guten Fälschungen zu tun.“ Gerhard Kowalski beendete seine Zusammenfassung und wartete auf die Reaktion seines Gesprächspartners.

„Herr Kowalski“, sprach Klaus Kellermann, „zunächst bedanke ich mich für ihren ausführlichen Bericht, und es war richtig, uns zu informieren. Ich möchte Sie bitten, all das was Sie mir eben gesagt haben, in einem schriftlichen Bericht zusammenzufassen. Heute Nachmittag gegen sechzehn Uhr werde ich mit einem Kollegen vom BND bei Ihnen vorbeikommen und alle Unterlagen, Gebrauchsgegenstände, Reiseutensilien, Dokumente und Sonstiges bei Ihnen abholen. Bitte halten auch Sie sich für ein mögliches Gespräch zur Verfügung. Wir möchten auch mit der Pensionswirtin, Frau Hilde Breitblocker, sprechen, am besten in Ihrer Polizeiinspektion.“

Abu Hassan Akbar war aus zwei Gründen zu tiefst besorgt. Zum einen war er sich zwischenzeitlich ziemlich sicher, dass es sich bei den schwerverletzten Unfallopfern vom vergangenen Samstag um Mueselim Ansari und Ibrahim al-Assad handeln musste. Viel schlimmer war aber die Wahrscheinlichkeit, und das war seine Hauptsorge, dass die deutschen Polizeibehörden über die mit ihnen befreundeten Geheimdienste zwischenzeitlich die wahren Identitäten von Mueselim und Ibrahim herausgefunden hatten. Sollte seine Vermutung stimmen, könnte es noch sehr, sehr eng für den Rest der Gruppe werden. Noch achtzehn Tage bis zum geplanten Anschlag. Die Zeit war gegen sie. Abu Hassan beschloss, für einige Zeit aus der Gegend zu verschwinden. Selbst wenn es den deutschen Behörden gelang, ihre Identität aufzuklären, so wusste doch niemand, ob, wo und wann ein Terroranschlag stattfinden sollte. Der Anführer der Terroristen kam zu der Überzeugung, dass sie sich in eine sehr ländliche Gegend zurückziehen sollten, nicht zu weit weg, aber auch nicht in unmittelbarer Nähe von Zell und Veitshöchheim. Sie würden sich ein Appartement mit Küche, Bad und vier Zimmern mieten, sich still verhalten und abwarten. Er besprach die Situation mit Max Schneider. Der hatte eine Idee, wo sie sich die nächsten zwei Wochen verkriechen konnten. Früh am Morgen des 15. Januars machten sie sich auf den Weg und verließen, zumindest temporär, den Dr.-Bolza-Ring in Richtung Rhön. Seine drei selbst hergestellten Sprengsätze nahm Abu Hassan mit. Er war dabei, seinen Plan völlig umzuschmeißen. Erst am 31. Januar würde seine Gruppe nach Veitshöchheim zurückkehren, in einem Servicefahrzeug der Firma GLORIA Gmbh, mit der Werbeaufschrift

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auf beiden Türen. Max Schneider hatte in den nächsten beiden Wochen genügend Zeit, ein Fahrzeug und die aufklebbare Werbeschrift zu organisieren. Sie würden am 31. Januar mitten in die Generalprobe in die Mainfrankensäle platzen, jeder einen Feuerlöscher unter dem Arm, und unter jedermanns Augen die Sprengsätze gegen die vorhandenen Feuerlöscher austauschen. Das war am unverfänglichsten. Niemand würde Verdacht schöpfen. Jedermann würde die Austauschaktion als völlig normal empfinden. Tags darauf, wenn die Stimmung in den Sälen dem Höhepunkt zusteuerte, würde er persönlich auf dem Basisteil den roten Knopf drücken, und dann: BÄNG! Als die Terroristen sich aus dem Staub machten, setzte erst leichter und dann immer dichter werdender Schneefall ein. Der Winter war wieder zurück.

Das BKA und der BND lösten bundesweit höchste Alarmstufe aus. Sie rechneten mit einem bevorstehenden terroristischen Anschlag in oder in der Nähe von Würzburg, wussten aber nicht wann beziehungsweise wo. Sowohl der Bundesminister für Innere Angelegenheiten in Berlin, als auch sein bayerischer Kollege auf Länderebene wurden informiert. Eindeutige Warnhinweise erhielten die restlichen Bundesländer. „Pannen wie bei der NSU-Affäre können wir uns nicht mehr leisten“, warnte der Bundesinnenminister.

„Wir müssen die Scheiß-Islamisten aufhalten“, setzte sein bayerischer Kollege aus Erlangen hinzu, „notfalls mit Gewalt.“ Der Ausdruck „Scheiß-Islamisten“ brachte ihm in den Folgetagen herbe Kritik in den Medien ein.

Die Ergebnisse der aktuellen Ermittlungen bestätigten den Verdacht auf einen bevorstehenden Terrorakt. Die Auswertung der Mobiltelefone von Mueselim Ansari und Ibrahim al-Assad deutete auf Verbindungen zu dem gefährlichen Al-Qaida-Mann Al-Turabi hin. Desweiteren zeigte die Anrufliste Telefonate mit Abu Hassan Akbar, einem Yousat Khan, einem Shakir Yakisan, und einer Vielzahl weiterer islamischer Namen. Der BND schickte die Namensliste sowie Fotografien von Mueselim Ansari und Ibrahim al-Assad an befreundete Dienste, wie das britische MI6, an die US-amerikanische CIA und an den israelischen Mossad. Die Antworten der drei Geheimdienste waren eindeutig. Die beiden Schwerverletzten, wie auch ihre drei Kumpane, wurden identifiziert. Die CIA bestätigte, dass sich alle fünf erst kürzlich in einem Ausbildungslager der Al-Qaida, im Swat-Tal aufgehalten hatten. Wo sie sich derzeit aufhielten? Keine Ahnung, sie waren von der Bildfläche verschwunden. Daraufhin wurden auf allen europäischen Flughäfen die Überwachungskameras von Ankommenden aus dem Nahen Osten und aus Fernost überprüft. Sowohl in Rom, als auch in Wien wurden die Geheimdienste fündig.

Sorgen bereitete den Fahndern die Hinweise, dass es offensichtlich Unterstützer in Deutschland gab. Die Witwe Hilde Breitblocker bestätigte eindeutig, dass sie mit einem Deutschen gesprochen habe, der die beiden vermeintlichen Gäste abholen wollte. Ungefähr einen Meter achtzig groß, blond, kräftig gebaut, blaue Augen und einen ebenso blonden Rauschebart. Auf dem Haupt ein weißes, gehäkeltes Käppi und ansonsten eigenartig gekleidet. Das Kraftfahrzeugkennzeichen, welches sich die Witwe notiert hatte, führte zu keinem Fahndungserfolg. Auf das Kraftfahrkennzeichen aus dem Landkreis Erlangen-Höchstadt war kein VW Passat zugelassen, sondern ein Ford C-Max, Baujahr 2008. Als die Landpolizei Höchstadt an der Aisch die Eigentümerin des Fords befragte, war diese immer noch völlig außer sich: „Dees Kennzeichn hamms mer gschduhln. Blooß dees Kennzeichn! Warum ned aa dees Audo? Dann häddi wenigsdens vo der Versicherung was grichd.“

Klaus Kellermann und sein Kollege aus Pullach, Herr Peter Hintermooser, steckten in ihrer Ermittlungsarbeit fest. Sie kannten die Akteure, bis auf den oder die deutschen Helfer. Zwei Terroristen lagen nicht vernehmungsfähig im Krankenhaus und rangen mit dem Tod, die anderen, die sich vermutlich auch in oder um Würzburg aufhielten (oder war/ist Würzburg nur eine Zwischenstation?), waren wie vom Erdboden verschluckt. Die Zeit lief den Ermittlern und ihren Kollegen davon. Auf Anregung des Polizeipräsidenten Würzburg, welcher Unterstützung durch den Bundesinnenminister erhielt, wurde die Sonderkommission „Faschingskehraus“ gebildet. Vom Mossad kam noch die Information, dass Abu Hassan Akbar unter dem Namen David Morgenstern nach Österreich eingereist sei. Doch das brachte die Fahnder vom BKA und BND nicht wirklich weiter.

Während die Ermittler sich die Köpfe zerbrachen und Überstunden schoben, hatten sich Abu Hassan Akbar, Shakir Yakisan, Yousat Khan und ihr deutscher Helfer in dem kleinen Weiler Emmerichsthal, im oberen Steinbachtal, einquartiert. Hier lag das Ende der Welt, ganz in der Nähe der bayerisch-hessischen Grenze. Die winzige Ortschaft lag weit auseinander gezogen im romantischen Steinbachtal, beidseitig von sanften, bewaldeten Hügeln eingerahmt, und gehörte zu der Gemeinde Obersinn. Das bereits etwas betagte, aber möblierte Zweifamilienhaus, in dessen verwildertem Bauerngarten das Schild „Auch kurzzeitig zu vermieten“ stand, gehörte Frau Barbara Stieler, welche, gemeinsam mit ihrem Mann, in Obersinn einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb unterhielt.

Max Schneider, der schon zwei, drei Mal den abgelegenen Ort als Ausgangsbasis für naturnahe Wanderungen nutzte, und sich an das gute und billige Essen der Gaststätte Waldesruh erinnerte, kam auf die Idee, sich bis Ende des Monats hier einzunisten. Hier gab es keine neugierigen Nachbarn, keine Polizeistation und um diese Jahreszeit keine Touristen. Er hatte den VW Passat in der alten Holzscheune geparkt und montierte gerade das ERH-Kraftfahrzeugkennzeichen ab, um es durch ein geklautes Fürther Kennzeichen zu ersetzen. In den nächsten Tagen hatte er noch einige Aufgaben zu erledigen. Da waren die beiden GLORIA-GmbH-Werbeaufkleber und das dazugehörige Fahrzeug. Ihm fiel ein, dass sich die Freiwillige Feuerwehr Obersinn im letzten Jahr einen Opel Omega als Kommandofahrzeug zugelegt hatte. Ein Feuerwehrfahrzeug, mit Blaulicht, auf den Türen einen Aufkleber der GLORIA GmbH, das wäre doch was. Das macht doch Eindruck? Wer würde da noch an einer routinemäßigen Austauschaktion der Feuerlöscher zweifeln? Er nahm sich vor, mit Abu Hassan Akbar zu sprechen. Draußen im Steinbachtal fiel lautlos der Schnee. Hügel, Felder und Bäume lagen bald unter einer dichten, weißen Decke.

Die Tage vergingen, ohne dass sich etwas Aufregendes ereignete.

Das BKA und der BND erhielten immer mehr Informationen über die untergetauchten Terroristen. Das führte sie aber dennoch nicht weiter. Mueselim Ansari war zwischenzeitlich seinen schweren Verletzungen erlegen, und auch um Ibrahim al-Assad sah es nicht gut aus.

Anton und Barbara Stieler wurden immer nervöser. Der Tag ihrer Abreise in eine unbekannte, fremde Welt rückte immer näher. Dann fiel ihnen siedend heiß ein, dass sie die Reise gar nicht antreten konnten. Sie verfügten nicht mal über einen Koffer. Die lästige Frau Hornhaut rückte mit einem roten Hartschalen-Monster auf vier Rollen an. Der einzige Lichtblick, den die Stielers kurz vor der geplanten Abreise genossen, war der warme Geldsegen, der ihnen überraschend ins Haus schwappte. Eintausend Euro zahlten ein paar ausländische Touristen dafür, dass sie zwei Wochen in Barbaras Geburtshaus wohnen durften. „Das sind wichtige Manager aus dem Ölgeschäft“, erklärte ihnen der deutsche Reiseführer mit dem Rauschebart, „die suchen Erholung und Entspannung vor einer kritischen, explosiven Geschäftsbesprechung.“ Anton Stieler konnte mit dem Begriff „Manager“ nichts anfangen. Sein Freund Rudi Haselmann aus Bergsinn war auch im Ölgeschäft tätig. Der betrieb eine Heizölfirma, hatte einen mittelgroßen Lkw und kutschierte damit den ganzen Tag in der Gegend herum. Rudi hatte noch nie geklagt, dass er Erholung und Entspannung brauche. Ob Rudi vielleicht auch ein Manager war? Vielleicht kein richtiger, weil, das wusste Anton ganz genau, Rudi Haselmann nie zu explosiven Geschäftsbesprechungen ging. Rudi Haselmann trank bei allen Kunden, wenn er sein Heizöl abgeliefert hatte, ein Schnäpschen. Davon konnte man doch nicht explodieren? Anton Stieler glaubte die Geschichte nicht. Das waren bestimmt ausländische Gäste, die auch zu der Prunksitzung in Veitshöchheim wollten. Ihre Kostüme trugen sie ja schon. Das verstand er ja gerade noch. Aber dass sie sich jetzt schon die Bärte angeklebt hatten, hielt er doch für etwas übertrieben.

Der Tag des Aufbruchs war gekommen. Die vier Terroristen verstauten ihr Gepäck im roten Opel Omega. Auf dem Fahrzeugdach strahlte das Glasgehäuse der Blaulichtanlage in der aufgehenden Morgensonne, welche im Osten über die tief verschneiten Hügel kroch. Auf der Fahrer- und Beifahrertür prangten gut lesbare, blaue Werbeaufschriften und versprachen:

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Abu Hassan Akbar verstaute persönlich seine drei Sprengsätze im Kofferraum und aktivierte sie. In Veitshöchheim hatten sie keine Zeit mehr dazu, denn sie würden die Mainfrankensäle direkt anfahren, ihre Arbeit verrichten und dann noch eine Nacht im Dr.-Bolza-Ring verbringen. Am Abend des darauffolgenden Tages würde Abu Hassan Akbar das größte Feuerwerk auslösen, das Veitshöchheim je gesehen hatte. Er trieb seine Leute an, pünktlich zu sein. Um neun Uhr wollte der Hauseigentümer zur Schlüsselübergabe vorbeikommen.

Anton Stieler tuckerte auf seinem alten Fendt-Traktor das verschneite Steinbachtal hinauf. Er war gedanklich nicht ganz bei der Sache. Veitshöchheim, die anwesende Politikprominenz und die Altneihauser Feierwehrkapelln spukten ihm im Kopf herum. Er und seine Frau mitten drin. Wenn die Sitzung doch nur schon vorbei wäre!

Zwei Minuten nach neun Uhr stoppte sein Fendt vor dem Anwesen seiner Frau Barbara. Der deutsche Reiseleiter stand bereits kostümiert vor einem roten Opel Omega, in welchem die drei ebenfalls maskierten Ölmanager Platz genommen hatten. Der Pkw gehörte der Firma GLORIA-GmbH und auf dem Dach war ein Blaulicht angebracht. So ein Fahrzeug hatte die Freiwillige Feuerwehr Obersinn auch. Die Schlüsselübergabe war schnell vollzogen und Anton Stieler wünschte dem deutschen Reiseleiter und seinen Gästen alles Gute, eine hoffentlich baldige Rückkehr und eine erfolgreiche, explosive Geschäftsbesprechung. Dann startete der rote Pkw und rauschte, trotz Schneelage, mit zunehmender Geschwindigkeit das Steinbachtal hinunter.

Anton Stieler überlegte sich noch, ob er im Haus nach dem Rechten sehen oder gleich wieder zurückfahren sollte. Er entschied sich für einen kurzen Rundgang durch das Haus. Als er die Wohnküche betrat, fiel ihm sofort ein kleines schwarzes Kästchen auf, welches auf dem Küchentisch lag. So etwas hatte er noch nie gesehen.

Der rote Opel Omega war bereits zehn Kilometer von Emmerichsthal entfernt, als Abu Hassan Akbar der Schreck in alle Glieder fuhr. „Stopp!“, schrie er auf dem Beifahrersitz des Opels. „Sofort halten!“ Max Schneider stieg in die Eisen. Yousat Khan und Shakir Yakisan flogen mit den Köpfen gegen die Kopfstützen der Vordersitze. Abu Hassan riss die Beifahrertür auf und rannte zum Kofferraum. Dann warf er sich wieder in den Beifahrersitz. „Zurück!“, rief er, „alles zurück nach Emmerichsthal!“

Anton Stieler überlegte sich, was er mit seinem Fund machen sollte. Mitnehmen oder liegen lassen? Ob die Ölmanager das schwarze Kästchen für ihre explosive Geschäftsbesprechung brauchten? Vielleicht wäre es ratsam, das geheimnisvolle Kästchen erst einmal Rudi Haselmann zu zeigen. Vielleicht konnte der etwas damit anfangen? Anton Stieler besah sich das Teil etwas genauer. On, Off, was hatte das denn zu bedeuten? Ob Rudi Haselmann das weiß? Anton bezweifelte dies. Neugierig wie er war, drückte er auf die Taste Off. Nichts geschah. Dann drückte er auf On. Auf einem winzigen, rechteckigen Fenster erschien eine rote, vierstellige Zahl. Dahinter stand, ebenfalls in Rot, MHz. Bestimmt ein Wort in einer ausländischen Sprache. Die Zahl und das MHz blinkten ständig. Ob sich das so gehörte? Anton Stielers Blick fiel zufälligerweise durch das Küchenfenster nach draußen. Ein roter Opel Omega fuhr mit affenartiger Geschwindigkeit das Steinbachtal herauf. Oh je, die Feriengäste hatten den Verlust ihres schwarzen Kästchens bemerkt, und er stand da, hatte das Ding eingeschaltet und wusste nicht, wie er das Blinken ausschalten konnte. Das musste der rote Knopf sein. Anton drückte mit seinem rechten Daumen so fest er nur konnte.

Einhundert Meter vor dem Ortseingangsschild Emmerichsthal stieg mitten auf der Straße eine gewaltige Stichflamme in die Höhe. Der Knall, der ihr folgte, war ohrenbetäubend. Die Druckwelle traf das Küchenfenster, und hunderte kleiner Glasscherben flogen Anton Stieler um die Ohren. Von der Druckwelle verbogene und von der Hitze zerschmolzene Kfz-Teile prasselten auf die Dächer des Stielerschen Anwesens herab. Anton meinte gar, er habe einen menschlichen Arm durch die Luft wirbeln sehen. Als sich der Rauch um den Explosionsherd verflüchtigt hatte, gähnte ein fünf Meter tiefes Loch in der Straße. Auf einen Durchmesser von zehn Metern gab es keine Teerdecke, keinen Straßengraben und keine Verkehrsleitpfosten mehr. Das Ortseingangsschild lag demoliert vor Anton Stielers Hauseingang.

Aus dem Ausflug nach Veitshöchheim wurde verständlicherweise nichts. Leopold Hornhaut war es nicht möglich seine Polizeiuniform auszuleihen. In den nächsten Tagen war er berufsbedingt zu sehr engagiert. Das gab es bei Leopold noch nie. Aus den besagten Gründen war es ihm auch nicht möglich, das Ehepaar Stieler mit dem Dienstfahrzeug nach Veitshöchheim zu kutschieren. Ohne Kostüm und ohne angemessene Anreise wollte Adam Stieler aber nicht in die Foosenachd-Hochburg. Zudem, auch er war viel zu sehr beschäftigt: Er war einziger Augen- und Ohrenzeuge der gigantischen Explosion in Emmerichsthal. Warum sich der rote Opel Omega laut knallend in seine Bestandteile aufgelöst hatte, war ihm noch immer ein Rätsel.

Das BKA und der BND hielten eisernes Schweigen über die Angelegenheit. Offiziell handelte es sich bei dem „BÄNG“ im Steinbachtal um den Einschlag eines kleinen Meteoriten.

MI6, CIA und der Mossad strichen fünf gefährliche Al-Qaida-Terroristen von ihren Fahndungslisten.

Am ersten Februar feierten die bayerischen Politikpromis und die Veitshöchheimer Foosenachdsgäste eine rauschende Prunksitzung. Die anti-fränkische Altneihauser Feierwehrkapell’n aus der Oberpfalz bekam Gegenwind von einer Pro-Franken-Stimmungskapelle. Die sprechende Nilpferddame Amanda eroberte wieder einmal die Herzen der närrischen Besucher. Heißmann und Rassau schlüpften in die Rollen von Präsident Obama und der deutschen Bundeskanzlerin, und der bayerische Finanzminister entzückte als Marilyn Monroe. Nur sein bayerischer Kollege vom Innenministerium war offensichtlich noch immer auf Verbrecherjagd. Zumindest hatte er seinen schwarzen Sheriffhut und seinen Colt, mit denen er jedes Jahr zur Prunksitzung kam, noch nicht abgelegt. Mehr als viereinhalb Millionen Fernsehzuschauer verfolgten an den Bildschirmen die Veitshöchheimer Prunksitzung.

Am 4. Februar meldete der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr Ostsinn das Kommandoführungsfahrzeug, einen roten Opel Omega, als gestohlen.

Allmächd, scho widder a Mord!

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