Читать книгу Allmächd, scho widder a Mord! - Werner Rosenzweig - Страница 8
Häbbi Nju Jiehr – Erlangen
ОглавлениеWeihnachten stand vor der Tür, somit auch die eintönigen Feiertage, welche ihre Eltern mal wieder als Beisammensein mit der buckligen Verwandtschaft planten. Gottesdienst an Heilig Abend, Gansessen bei Oma Dorothea, Bleigießen an Silvester, Besuch des Forchheimer Krippenweges. Jedes Jahr der gleiche Mist. Monoton, langweilig, ätzend.
Nelli Bieber, die 20-jährige Jurastudentin an der Uni Erlangen-Nürnberg, hatte ihr Leben mal wieder so richtig satt. Ein Hundeleben, an dem sie selbst nicht ganz schuldlos war. Das gestand sie sich selbst ein. Noch nie hatte sie ernsthaft versucht, sich aus der fürsorglichen Umklammerung ihrer Eltern zu lösen. Ein wohlbehütetes Mädchen. Exzellente Noten, aber keinen Bekanntenkreis. Bildhübsch, aber keinen Freund. Wohlhabende Eltern, aber keine Lebensfreude.
Nelli saß in ihrem Zimmer und dachte an die einzige Freundin, die ihr etwas näher stand, Kathie Schreiber, ihre ehemalige Klassenkameradin vom Christian-Ernst-Gymnasium. Kathie war das Gegenteil von Nelli: immer aufmüpfig gegen jedermann, ein Typ, der mit dem Kopf durch die Wand geht. Sehr kritisch, wusste alles besser, häufig wechselnde Männerbekanntschaften.
Weder Eltern noch Lehrer hatten große Freude mit ihr. Nach dem Abitur beschloss sie, sich ein Jahr Auszeit zu nehmen. Sie zog von Zuhause aus und mietete sich in einem der Hochhäuser am Rhein-Main-Donau-Kanal in Alterlangen eine Zweizimmerwohnung. Seit drei Monaten hauste sie nun dort, mit ihrem derzeitigen Freund Tom. Die Miete und die Lebenshaltungskosten teilten sich die beiden. Tom war Gitarrist in einer Rockband und verdiente mit seiner Musik, insbesondere an den Wochenenden, ordentlich Kohle. Kathie jobbte mal hier mal da. Zurzeit half sie im Zentrallager des Schuhhauses Mengin aus. Dreimal die Woche bediente sie im Irish-Pub.
Nelli hörte, wie draußen im Flur ihr Vater, Franz Bieber, mit einer Klientin telefonierte: „ … nein, machen Sie sich keine Sorgen, Frau Wolf, wir werden Ihren Noch-Ehemann ausnehmen wie die berühmte Weihnachtsgans. Dem werden die Augen tropfen, wenn er erfährt, was er monatlich an Unterhaltszahlungen für Sie und Ihre beiden Kinder zu berappen hat.“
Nellis Vater war Anwalt, spezialisiert auf Ehescheidungen und betrieb in dem kleinen mittelfränkischen Kaff Röttenbach eine eigene Anwaltskanzlei. Für ihn war es selbstverständlich, dass seine Tochter eines Tages die Kanzlei übernimmt.
Nellis Mutter Theresa hingegen hatte noch viel weitreichendere Pläne. Sie wollte ihre Tochter gerne mit dem jungen Justus von Weihersbach verkuppeln, dem 26-jährigen Sohn des alten Germanicus von Weihersbach, der im Nachbarort Hemhofen die bekannte Anwaltskanzlei Weihersbach & Partner führte. Leider reagierte die Tochter bisher nicht so, wie die Mutter sich das vorstellte. Justus war ein Langweiler, wie er im Buche steht. Alleine sein äußeres Erscheinungsbild sprach Bände. Stets trug er maßgeschneiderte Anzüge aus Italien mit rasiermesserscharfen Bügelfalten. Nie ging er ohne Fliege und dem passenden Einstecktuch aus. Aber das war noch nicht alles. Wer ihm die Hand zum Gruß reichte, hatte immer das Gefühl, in einen Eimer schwitzenden Puddings zu greifen. Justus von Weihersbach war nicht nur ein Langweiler, nein, er war zudem auch noch hässlich wie ein Grottenmolch. Sein teigig weißes Gesicht passte ebenso zu ihm, wie seine pomadige Frisur, deren Scheitel immer wie mit dem Lineal gezogen war. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren schien er der Pubertät noch immer nicht entwachsen zu sein. Aus seinem Gesicht leuchteten dunkelrote Pickel, die meisten mit ekligen Eiterkronen. Nelli graute es jedes Mal, wenn sie – aus gesellschaftlichen Verpflichtungen, welche ihre Eltern organisiert hatten – an Events teilnehmen musste und dabei auf Justus von Weihersbach traf. „Kümmere dich um Justus“, trug ihr ihre Mutter stets auf. „Er ist so ein netter junger Mann und so fleißig. Sicherlich würde er dir gerne bei deiner Facharbeit helfen. Du weißt, mit seiner Expertise Die alten Ägypter – Vorboten des modernen Rechtssystems war er Bester seines Seminarjahrgangs.“
Widerwillig und nur ihrer Mutter zuliebe hatte sich Nelli ein, zwei Mal mit Justus unterhalten. Es waren jedes Mal die gleichen grauenhaften Erfahrungen, die sie sammelte. Der junge Mann kannte nur zwei Themen: Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch und Präzedenzfälle. Andere Themen interessierten ihn nicht. Er hörte keine Musik, fuhr nicht in den Urlaub, las ausschließlich Fachbücher, und politische Themen hasste er sowieso grundsätzlich. Am liebsten saß er zuhause, von Rechtsliteratur umgeben. In ihren wenigen, holprigen Gesprächen mit ihm fiel Nelli auf, dass er mit der Zunge immer wieder an seinen weit auseinanderstehenden Schneidezähnen anstieß und dabei fürchterlich lispelte. Auch das noch.
Nellis Gedanken schweiften wieder in die Gegenwart zurück. Noch immer hielt sie das Bürgerliche Gesetzbuch in den Händen, um sich auf die nächste Klausurarbeit vorzubereiten. Sie klappte das Buch zu und schmiss es in die Ecke, stand auf und betrachtete sich in ihrem hohen Wandspiegel. Es gefiel ihr, was sie sah: eine junge, hochgewachsene, schlanke Frau, mit ebenen Gesichtszügen, eingehüllt in lockige, naturblonde Haare, welche ihr wie eine Löwenmähne bis auf die Schultern fielen. Ihr Busen war gut ausgebildet, aber nicht zu dominant. Gerade richtig. Viel zu schade für einen pickeligen, langweiligen Juristen. Nur mit ihren hellblauen Augen war sie nicht zufrieden. Irgendetwas fehlte. Sie hatten keinen Glanz, keine Lebensfreude. Sie waren da, aber sie wirkten stumpf. Trostlos eben, irgendwie von Hoffnungslosigkeit geprägt. Ihr graute vor den bevorstehenden Feiertagen. Sie fühlte sich wie eingesperrt. ‚Raus, raus hier. Einfach mal ausbrechen‘. Panische Gedanken purzelten ihr durch den Kopf. Abrupt griff sie sich ihr iPhone und wählte die Nummer ihrer Freundin Kathie. Das Freizeichen ertönte.
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„Kathie Schreiber hier“, meldete sich nach geraumer Zeit eine schwer atmende Stimme.
„Hallo Kathie, ich bin‘s, Nelli. Störe ich gerade?“
„Hi Nelli. Wie würdest du es bezeichnen, wenn du beim Bumsen angerufen wirst und der Anrufer hartnäckig in der Leitung bleibt?“
„Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass …, tut mir leid, das war nicht meine Absicht, dich zu …“
„Ist schon okay, nicht so schlimm. Schön, dass du dich mal wieder meldest. Was gibt es denn?“
Nelli druckste herum und war sich in keinster Weise mehr sicher, ob es der richtige Zeitpunkt war, Kathie jetzt mit ihrem Frust und ihren Sorgen zu belasten.
„Na komm, raus mit der Sprache“, forderte Kathie sie auf. „Da bringst du mich mit deinem Anruf um meinen wohlverdienten Orgasmus, und dann bist du stumm wie ein Fisch! So geht das nicht. Also, nun sprich endlich mit mir!“
Nelli konnte ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten. Sie weinte und sie ließ ihren Frust ab. Kathie hörte aufmerksam zu und unterbrach sie kein einziges Mal. Eine Stunde telefonierten die beiden Freundinnen miteinander. „Du musst einfach mal raus aus deinem Alltagstrott“, riet ihr Kathie. „Du lebst wie im Schloss von Dornröschen, aber ein schöner Prinz wird nicht von selbst vorbeikommen, glaube mir. Höchstens ein lispelnder, mit Pickel und Pomade im Haar. Pass auf, du kommst Silvester zu mir und übernachtest hier. Tom gibt mit seiner Band ein Konzert in Straubing. Ich bin sowieso allein. Komm, wir machen uns einen schönen Abend und quatschen über alles. Außerdem habe ich etwas ganz feines zuhause. Das wird dich umhauen.“
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Die Weihnachtsfeiertage waren schnell vorüber. Pünktlich um achtzehn Uhr klingelte Nelli bei Kathie Schreiber, Am Europakanal 165. Der Türöffner summte und Nelli fuhr mit dem Aufzug in das fünfzehnte Stockwerk hoch. „Komm rein, Nelli“, begrüßte Kathie sie, nachdem sie die Wohnungstür geöffnet hatte, „schön, dass du gekommen bist. Komm, leg ab. Ich habe uns beim Italiener zwei Pizzen bestellt, Quattro Staggioni und Ai Funghi, müssten in einer Stunde da sein. Komm, setz dich und mach es dir bequem. Ich hole uns eine Flasche Chianti.“
Die Stunden verrannen wie im Flug. Die Pizzen waren hervorragend, die Wanduhr zeigte kurz vor dreiundzwanzig Uhr an, und Kathie Schreiber öffnete die dritte Flasche Rotwein. „Nun kommt das Beste!“, verkündete die Hausherrin mit inzwischen schwerer Zunge, „unser Nachtisch sozusagen. Der wird uns wieder aufmuntern.“ Sie wankte zu einem Sideboard und entnahm der linken unteren Schublade ein kleines Fläschchen, in welchem sich ein kristallenes Pulver befand. Dann holte sie aus der Küche ein Päckchen Würfelzucker, ein Glas halb voll Wasser und einen Teelöffel. Zurück am Sofa konzentrierte sie sich, gab eine winzige Menge des Pulvers auf den Teelöffel, löste es mit wenigen Tropfen Wasser auf und schüttete die Flüssigkeit vorsichtig über ein Stück Würfelzucker. Nelli verfolgte neugierig die Zeremonie. „Was ist das?“, wollte sie wissen.
„Tz, tz, tz, wer lang fragt, geht lang irr“, antwortete Kathie. „Mund auf!“, wies sie Nelli an. „Zweihundert Mikrogramm dürften für dich genügen. Ich nehm mir etwas mehr“, kicherte sie.
Nachdem Nelli gehorsam den Würfelzucker aufgelutscht hatte, wiederholte Kathie die Prozedur und steckte sich ebenfalls ein Stück Würfelzucker in den Mund. „LSD“, erklärte sie. „Keine Sorge, macht nicht süchtig, aber total high. Frisch aus Hongkong eingetroffen. Das Beste, was es derzeit auf dem Markt gibt, du wirst staunen.“
Die beiden jungen Frauen setzten ihre Unterhaltung fort, schlürften dabei den Rotwein und schwelgten in Erinnerungen an die alten, gemeinsamen Schulzeiten. Nach einer weiteren halben Stunde meinte Nelli Bieber: „Ich meine, dein Superstoff ist ein Flopp. Scheint gar nicht zu wirken. Da hast du dir aber was andrehen lassen.“
Doch da täuschte sich die Jurastudentin gewaltig. Das Lysergsäurediethylamid war bereits voll unterwegs. Es dauerte noch exakt sieben Minuten, bis die synthetische Chemikalie im limbischen und retikulären Systems ihres Gehirns ankam – dort wo die emotionalen Reaktionen auf äußere Sinnesreize gesteuert werden – und seine volle Wirkung zeigte. Das LSD explodierte regelrecht in Nellis Kopf, wie eine Unterwasserbombe in der Nähe eines getauchten U-Boots. Ihr Gehirn wurde durcheinander geschüttelt. Ihre Pupillen vergrößerten sich schlagartig. Sie kicherte wie eine Zwölfjährige beim ersten Kuss, während ihr Energiespiegel raketenartig anstieg.
Ihre Freundin Kathie glotzte sie mit tellergroßen Augen über den Couchtisch hinweg an und drehte ihren Kopf wie ein Uhu in alle Richtungen. Dort, wo sonst ihre Nase saß, war ihr ein gelber Hakenschnabel gewachsen. „Hi, hi, du siehst aus wie eine Eule“, wieherte Nelli.
„Ich bin eine Eule, ich bin eine Eule“, uhute Kathie zurück, stieg auf einen Stuhl und schlug mit den Armen. „Ich kann fliegen.“
Nelli überfiel ein plötzlicher, heftiger Schweißausbruch. Das Zimmer schien sich zu drehen, und Justus von Weihersbach schritt aus einer dichten Nebelwand. Hinter ihm folgte ihre Mutter aus dem weißen Dunst. Justus war seltsam gekleidet. Auf seinem Kopf thronte ein kanariengelber Zylinderhut. Sein schmächtiger Körper steckte in einem lilafarbenen Smoking mit weißen Flecken. Er sah aus wie die Milka-Kuh auf der Alm. In seinem Gesicht blinkten die Pickel wie tausend rote Ampeln. Ihre Mutter sang ständig: „Hosianna, Hosianna“ und trug ein weißes Kissen vor sich her, auf welchem zwei Trauringe lagen. Wie aus dem Boden gezaubert stand plötzlich ihr Uni-Professor, der alte Hubertus Jennerwein vor ihr, hielt das Strafgesetzbuch in der Hand und rezitierte mit seiner dünnen Fistelstimme: „Paragraph eins: Juristen sollst du keine freien, wirst es dir sonst nie verzeihen.“
„Hosianna, Hosianna“, klang es aus dem dichten Nebel.
„Paragraph zwei“, erklang die Fistelstimme wieder, „Wer gegen dies Gesetz verstößt, mit Qualen in der Hölle röst.“
Zwischen Professor Jennerwein und Justus von Weihersbach hüpfte plötzlich die Eule Kathie umher. „Mir ist so heiß“, krächzte sie, hüpfte wieder auf ihren Stuhl und ging in die Hocke. Sie wähnte sich im Zauberwald und saß auf dem mächtigen Ast einer gewaltigen Buche. Drunten auf der Erde, gleich neben dem Lebkuchenknusperhaus, stieß Hänsel die böse Hexe gerade in das Feuer ihres eigenen Backofens. Gretel, Dornröschen und Schneewittchen winkten aus dem Fenster des Lebkuchenhauses und riefen „hau ruck, hau ruck“, bis die böse Hexe vollkommen in den lodernden Flammen verschwand. Dann erschien plötzlich der Gestiefelte Kater auf der Szene. Im Schlepptau hatte er Rumpelstilzchen mitgebracht. „Das hast du gut gemacht“, lobte er Hänsel, „die Alte ging mir mit ihrer ständigen Hexerei sowieso gewaltig auf den Sack. Sieh nur, dort oben in der Buche sitzt ihre vermaledeite Eule. Komm, Rumpelstilzchen, die holen wir uns auch noch.“
Kathie, die Eule, sah von ihrem Stuhl hinab auf den Waldboden und erschrak, als der Gestiefelte Kater mit seiner Pfote zu ihr herauf zeigte. Dann verschwanden die beiden.
„Ritze ratze, ritze ratze, mit der Säge kommt die Katze. Mit der schweren Motorsäge, dass der Baum am Boden läge“, schall es nur wenige Minuten später durch den Wald. Der Gestiefelte Kater und Rumpelstilzchen kehrten zurück.
Mehr als eine Stunde lang schlugen sich Nelli Bieber und Kathi Schreiber bereits mit ihren Wahnvorstellungen, Angstzuständen, Panikanfällen, Schwindelgefühlen, Bewusstseinsstörungen und Halluzinationen herum, als das tödliche Ereignis unaufhaltsam seinen Lauf nahm.
Kathie, die Eule, war von ihrem Ast heruntergehüpft, bevor die hohe Buche mit Getöse in sich zusammenbrach. Der Gestiefelte Kater stellte die Motorsäge ab und jubelte. Rumpelstilzchen führte vor lauter Freude einen Veitstanz auf. Kathie starrte mit großen Augen auf die beiden. Sie musste ihnen entkommen. Einfach davonfliegen. Panikartig riss sie die Balkontüre auf und schlug probehalber mit ihren mächtigen Schwingen. Dann hüpfte sie auf das Balkongeländer. Unter ihr gähnte der nächtliche Abgrund. Die Freiheit lag ihr friedlich zu Füßen. Als der Gestiefelte Kater und Rumpelstilzchen aus dem Wohnzimmer auf den Balkon gerannt kamen, breitete sie ihre Flügel aus und stieß sich ab. Sie flog, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Der Wind zerrte an ihrem Gefieder. Absolute Freiheit.
Sekunden später schlug Kathie Schreiber, mit dem Kopf voran, in das Dach eines Opel Zafira ein. Sie war sofort tot.
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Kommissar Ignatz Wiesenstetter war stinksauer und kurz vorm Explodieren. Für seine schlechte Laune gab es eine ganze Reihe verschiedener Gründe. Ihm gegenüber saß seine 14-jährige, pubertierende Tochter Tanja, welche ihn schon den ganzen Silvesterabend mit kotzigen Sprüchen anmachte, da er ihr verboten hatte auszugehen. Silvester wird mit der Familie gefeiert. Aus, basta!
Sein Sohn Benjamin gehörte mit seinen sechs Jahren eigentlich schon längst ins Bett, wollte aber unbedingt Mitternacht erleben und einen Böller abfeuern. Der Kleine war übermüdet, quängelte und hatte eine ganze Tüte Goldfischli auf dem Wohnzimmersofa zerbröselt.
Mao Zedong, der krummbeinige Rauhaardackel, hatte die Weißwürste, welche ihm Tanja verbotenerweise in seinen Fressnapf gelegt hatte, auf den beigen Veloursteppich gekotzt und furzte seitdem schlimmer als eine ganze Schar ausgewachsener Iltisse.
Ignatz Wiesenstetters Frau Katharina hatte ihn heute Morgen für einige Tage verlassen. Sie war mit ihren Kegeldamen zum Skifahren ins Zillertal entschwunden. „Gell, a boar Dooch kanni di scho mid die Kinner allaans lassn. Is ja eh nix los, bis die Schull widder ofängd.“
Last but not least konnte der Kommissar der Erlanger Mordkommission den Silvesterabend so gar nicht richtig genießen. Er hatte Bereitschaftsdienst und musste sich jeglichen Alkoholkonsum verkneifen. Nichtsdestoweniger, Ignatz Wiesenstetter machte auf gute Stimmung und hatte ein Bleigießen organisiert. Sehr zu seinem Leidwesen, wie er jetzt feststellen musste. Seine phantasielose, noch immer grantelnde Tochter sah in den gemeinsamen Ergebnissen des Bleigießens zwei erigierte und sechzehn geschrumpelte Penisse. Das alte Jahr neigte sich seinem Ende zu. Ignatz Wiesenstetter, ein Franke wie er im Buche steht, zählte die verbleibenden Sekunden rückwärts: „ …, feif, foor, srieh, duu, wonn, siero! Häbbi nju Jiehr, alle midanand!“ Er hob sein Glas mit Apfelschorle und prostete seinen Kindern zu. Bereitschaft ist Bereitschaft!
„Fagg, Alder, ned amol an Seggd gibds“, klagte Tanja und verdrehte die Augen. Draußen über Alterlangen stiegen Dutzende von Feuerwerkskörpern zischend in die Höhe und zauberten bunte Kleckse in den nächtlichen Himmel, bevor sie sich in der kalten Nachtluft glühend auflösten. Ignatz sah zur Terrassentür hinaus und zählte die gleisenden Explosionen.
Mao Zedong zog wegen des Lärms angstvoll jaulend den Schwanz ein, spurtete unter den runden Esstisch auf dem beigen Veloursteppich und kotzte dort die dritte und letzte Weißwurst aus sich heraus.
Benjamin hatte seit Stunden auf das Mitternachtläuten gewartet. Still und heimlich zauberte er einen roten Böller made in China vom Format einer großkalibrigen, kubanischen Zigarre hinter einem Sofakissen hervor und griff nach der Streichholzschachtel, die auf dem Couchtisch lag. Knisternd leckte die Flamme am roten Schwefelköpfchen des Streichholzes. Aus der Zündschnur des chinesischen Kanonenschlags Marke Atomblitz stieg zuerst feiner Rauch auf, dann folgte ein verdächtiges rötliches Glimmen. Schließlich nahm das Glimmen zu, und die Zündschnur begann kleine Funken zu versprühen. Vater Wiesenstetter, der noch immer die zerplatzenden Silvesterraketen zählte, reagierte im Unterbewusstsein.
„Bisd bleed, Benni? Doch ned im Wohnzimmer!“ Geistesgegenwärtig entriss er seinem Sohn den China-Böller und warf ihn in letzter Sekunde unkontrolliert durch die Terrassentür in den Garten hinaus. Sekundenbruchteile später zerlegte es draußen mit einem wahren Donnerschlag das Tomatengewächshaus. Traurig hingen die schwelenden Reste der grünen Plastikfolie von dem rostig kahlen Rohrgestänge herab. Tanja saß vor dem Fernseher und keckerte wie eine Herde tibetischer Bergziegen. „Affngeil, Subbi! Mi leggsd am Orsch!“ Butler James war eben das dritte Mal über den Kopf des Tigerfells gestolpert und schmiss sein Tablett nebst Gläsern und Sherry-Flasche gegen die Wand.
Zwanzig Minuten nach Mitternacht, der Hausherr war gerade damit beschäftigt, Mao Zedongs gekotzten Weißwurstbrei zum zweiten Mal aus dem Veloursteppich zu waschen, meldete sich das Diensttelefon. „Mier ham a Dode am Eurobakanal“, meldete sich Iris Siebenstiel, Ignatz Wiesenstetters Assistentin. „Bsuffn vom Balgon gschbrunga. Vom fuffzehndn Schdoggwerg. Kaa schener Anbligg. Kummsd du?“
„Bin in aaner vierdl Schund bei eich“, antwortete der Kommissar ärgerlich. „Su a Scheiß, ausgrechned in der Silvesdernachd. Is die Schburnsicherung scho do?“
„Sen underwegs. A Nachberin had die Dode gfunna. A weng a Schiggsn solls gwesen sei, die Selbsdmörderin, a rechder Rumzuuch hald.“
Tochter Tanja spie Gift und Galle, als ihr aufgetragen wurde, den kleinen Bruder zu Bett zu bringen. Das Ausgehverbot galt selbstverständlich auch noch nach Mitternacht. „Mann äi, kann der klaane Wixer ned allaans in sei Bedd geh? Heh, Alder wass solln dees? Iech will ins E-Werk. Do gehd edz die Bosd ab.“
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Kathie Schreiber blieb nicht das einzige Rauschgiftopfer in dieser Nacht. Als Kommissar Wiesenstetter total übermüdet um halb drei von seinem Einsatz am Europakanal wieder zuhause eintrudelte, war seine Tochter entschwunden. ‚Bin im E-Werk, Benni schläfd.‘, stand auf dem Zettel, der auf dem Esstisch lag. Ignatz Wiesenstetter sah nach seinem Sohn, verzichtete aufs Zähneputzen und wollte gerade müde in sein Bett steigen, als das Telefon erneut schepperte. „Wos isn edz scho widder?“, meldete er sich.
„Ignads, bisd nu wach?“, wollte Iris Siebenstiel wissen.
„Na, du schbrichsd grod midn Hailichn Geisd.“
„Ignadz, es dud mer leid, dassi di scho widder schdörn muss, abber mier ham scho widder a Dode. Desmol am Burchberg. A Siemens-Mänädscher had sei Fraa derschdochn.“
„Iech kumm“, knurrte der Kommissar ins Telefon, nachdem er sich die genaue Adresse notiert hatte.
Die Ermittlungen vor Ort ergaben sehr schnell, dass Professor Dr. Ottokar Hochleder, Topmanager des Siemens Sektors Energy, auf einem LSD-Trip war und vor den versammelten Silvestergästen seine Frau mit einem Brotmesser erstochen hatte. „Jack the Ripper war ein Heiliger! Alle Weiber gehören geschlachtet!“, rief er, bevor er sich auf seine Frau stürzte.
„Als seine Frau auf ihn zuging und ihn aufforderte: ‚Otti mach keinen Blödsinn, gib mir sofort das Messer!‘, stach er ihr wie ein Berserker die Klinge bis zum Griff in die Brust“, berichtete die Augenzeugin Kerstin Baumgartl, Professor Hochleders Sekretärin. „Ich denke mein Chef war dienstlich völlig überlastet. Seit Monaten übt der Vorstand Druck auf ihn aus. Sparen, sparen, sparen soll er und dabei ein Nettoergebnis von zwölf Prozent erzielen. Ich frage Sie, wie soll das denn gehen? Es würde mich nicht wundern, wenn mein Chef kurz vor einem Burn-Out stand. Liest man doch so oft, heutzutage. Kein Wunder, dass er offensichtlich zu Rauschgift griff, um seine Probleme für einen kurzen Moment hinter sich zu lassen. Also diese neue Führungsriege bei Siemens ist auch nicht das Gelbe vom Ei, sage ich Ihnen. Haben von Tuten und Blasen keine Ahnung. Schauen Sie sich doch diesen Österreicher an! Dieses Fremdgewächs! Und erst den schönen Aufsichtsratsvorsitzenden. Hat selbst genug Dreck am Stecken.“
Am Neujahrstag, früh um neun Uhr, fischte die Erlanger Berufsfeuerwehr eine Wasserleiche aus dem Rhein-Main-Donau-Kanal. Eindeutiger Suizid im LSD-Rausch. Das Fahrrad des Toten lehnte noch immer am Brückengeländer. Der 25-jährige Wolfram Geier, wohnhaft im Ortsteil Dechsendorf im Wildentenweg, war nach der Silvesterfete im Kulturzentrum E-Werk nach Hause geradelt. Als er die Kanalbrücke, kurz hinter dem Hochhaus Langer Johann überquerte, musste er von seinem Fahrrad abgestiegen und in das kalte Wasser gesprungen sein. Ein morgendlicher Jogger hatte die am Ufer treibende Leiche gefunden, welche sich im Wurzelgeflecht eines Rohrkolbenbüschels verfangen hatte.
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In der Schornbaumstraße 11, im Besprechungszimmer zwei, im dritten Stockwerk des Polizeipräsidiums hatten sich Polizeipräsident Karl Lagerfeld, gebürtiger Herzogenauracher, der mit dem berühmten, gleichnamigen Modezar so viel zu tun hatte, wie Nina Hagen mit Papst Benedikt, sowie Ignatz Wiesenstetter und Iris Siebenstiel versammelt. Anwesend war außerdem Bruno Tropfstein, Mitarbeiter von Jens Hagenkötter, dem Leiter des Rauschgiftdezernats, welcher noch durch Abwesenheit glänzte und auf den alle Anwesenden warteten. Kommissar Wiesenstetter konnte den Kollegen noch nie richtig leiden. Ein Preuße aus Oegenbostel, Gemeinde Wedemark, bei Hannover. Oegenbostel kannte in Franken keine alte Sau. Wie auch? Oegenbostel hat dreihundertachtundsechzig Einwohner, die meisten davon in der Nähe des Brelinger Berges wohnend. Dann gibt es noch eine Sandgrube und eine Freiwillige Feuerwehr. Das war’s. Jens Hagenkötter ist eingebildet, arrogant und verdammt gut aussehend. „Wu blabdder denn scho widder, der Hagnködder?“, Polizeipräsident Lagerfeld sah auf seine Armbanduhr.
„Dass Breißn nie bingdlich sei kenna“, setzte Ignatz Wiesenstetter ärgerlich hinzu.
„Tach die Dame, Tach die Herren!“ Jens Hagenkötter wirbelte durch die Tür. „Hoffe die Herrschaften hatten ein angenehmes Silvesterwochenende.“
„Kennd mer vielleichd die Dier zumachn, wemmer scho widder zu schbäd kummd?“, begrüßte ihn Ignatz Wiesenstetter unfreundlich.
„Sieh an, sieh an, der Herr Kolleche Wiesenstetter. Immer gut drauf!“ Jens Hagenkötter schlug mit Schwung die Tür zu, dass der Türstock schepperte.
„Meine Herren“, griff der Polizeipräsident ein, „iehr benehmd eich scho widder wie zwaa kambflusdige Geger, dena sis Hirn nausbloosn und in Orsch neigschdeggd ham. Edz is a Ruh mid dem Rumgebalz! Budder bei die Fisch! Edz wird bloß nu sachlich disgudierd! Habd iehr miech verschdandn?“
Im Verlauf des weiteren Gesprächs stellte sich heraus, dass es sich bei den bei Kathie Schreiber und Ottokar Hochleder gefundenen LSD-Beständen um Happy Dreams handelt, hergestellt in den Drogenküchen Hongkongs, wie Bruno Tropfstein ausführte. Prof. Hochleder bestätigte, dass er sich das LSD im Rahmen einer Dienstreise nach Hongkong, im Restaurant Flying Dragon, auf Kowloon besorgt hatte. Eine Blitzanfrage bei der Polizei in Hongkong ergab, dass das Flying Dragon ein bekannter Drogenumschlageplatz der chinesischen Triaden sei.
„Also, es schaud a su aus, dass do die kienesische Mafia ihre Finger im Schbiel had“, fasste Polizeipräsident Karl Lagerfeld die Besprechungsergebnisse zusammen. „Die Driaadn! Nix Gnaus wiss mer nunni, s’kennd abber su sei. Jedenfalls haßds edz: Ärml hoch und an die Ärwärd. Dees neie Joahr fängd ja scho gud o. Mier missn den Fall schnell aufglärn, weil die Öffendlichkeid machd scho Drugg. Die Nordbayrischn Nachrichdn schreiben ‚Siemens Manager ersticht Frau im LSD-Rausch‘. Der Frängische Dooch had berichded: ‚Voll gekifft flog sie durch die Nacht‘. Der bayrische Innenminisder, der Erlanger Schwullkubf, hoggd mer aa scho im Naggn. Schdündlich rufd der bei mier o und will Ergebnisse sehgn.“
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Zhou Minggang, der Inhaber des Chinarestaurants Moutai in der Gebbertstraße hatte Angst. Todesangst. Wenn er es sich recht überlegte, war er gestern Abend doch zu forsch aufgetreten, als kurz vor dreiundzwanzig Uhr zwei finstere Gestalten in sein Restaurant kamen. Es wäre vernünftiger gewesen, der Schutzgelderpressung nachzugeben, auch auf die Gefahr hin, dass sie ständig wiederkämen. Als Zhou Minggang den tätowierten Drachenkopf auf dem Unterarm eines der beiden erblickte, war ihm klar, wer ihn da besuchte: Geldeintreiber der Triaden. Die chinesische Mafia. Seit fünfzehn Jahren betrieb er nun sein Restaurant ohne Zwischenfall, und doch hatte er sich insgeheim immer vor diesem Tag gefürchtet. „Wenn die Leute in deinen Stall kommen, musst du spucken – Geld oder Blut“, hatte ihn sein Onkel Zhang immer gewarnt. Wie recht er hatte. Als nur noch wenige Gäste im Restaurant waren, winkte ihn einer der Männer zu sich. Der mit der Tätowierung und der hässlichen roten Narbe, welche sich von unterhalb seines linken Auges bis zum Ohrläppchen zog.
„Wir haben kein Wasser unter den Füßen“, raunzte er Minggang an und setzte gleich drohend hinzu: „Wenn du die Polizei einschaltest, bist du ein toter Mann.“ Dann holte er demonstrativ ein Stilett aus seiner Jackentasche und begann damit seine schmutzigen Fingernägel zu reinigen.
Zhou konnte sich im Nachhinein selbst nicht erklären, warum er plötzlich vollkommen ausrastete. Blitzschnell schlug er dem Tätowierten das Messer aus der Hand, welches auf den Boden kullerte. Der war gar nicht auf den überraschenden Angriff vorbereitet. Dem anderen klatschte Minggang die Schüssel mit dem heißen Reis mitten ins Gesicht. Geschwind hob er das am Boden liegende Messer auf, bedrohte damit nun seinerseits die beiden Gangster und schmiss sie unter wüsten Beschimpfungen aus seinem Lokal. „Wenn ihr euch hier nochmals blicken lasst, rufe ich die Polizei“, rief er ihnen wütend nach.
Das war gestern. Heute, als er sein Restaurant aufsperrte, lag ein blutiger, ausgerissener Hühnerkopf vor der Eingangstür. Kein gutes Zeichen. Eine eindeutige Warnung. Die würden wieder kommen. Ganz bestimmt. Und er würde zahlen. Zhou sah auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht. Es war schon spät. Zeit, das Restaurant zu schließen und Feierabend zu machen. Immer war er der Letzte. Seine Angestellten waren längst gegangen. Er hatte noch einen langen Nachhauseweg vor sich, aber mit dem Fahrrad würde er um diese Zeit die Strecke in fünfzehn Minuten schaffen. Er kannte die Route wie im Schlaf. Er sperrte das Lokal ab, trat hinaus in die Dunkelheit und packte sein Fahrrad. Es nieselte leicht, doch das störte Minggang nicht. Seine Fahrradbeleuchtung warf schummriges Licht auf den feuchten Radweg. Ruhig trat er in die Pedale und bog nach einer Weile links in die Sophienstraße ab. Im Siemens-Parkhaus standen noch ein paar vereinzelte Pkws herum. Als er zum Roten Platz einbiegen wollte, glitzerten hunderte von kleinen Glasscherben im Schein seiner Fahrradlampe. Zhou trat in die Bremse und stieg von seinem Fahrrad ab. Mit Leichtigkeit hob er seinen Drahtesel über das Hindernis hinweg. Gerade als er wieder aufsteigen wollte, traf ihn von hinten ein harten Schlag in den Nacken. Benommen stürzte er zu Boden. Vier Hände packten ihn fest an beiden Oberarmen und zerrten ihn in den dunklen Schatten des hohen Siemens-Bürogebäudes.
„Sieh an, wen haben wir denn da?“, drang eine chinesische Stimme flüsternd an sein rechtes Ohr.
„Den Bastard aus dem Moutai, der uns an die deutsche Polizei verpfeifen will“, antwortete eine zweite Stimme in der Nähe seines linken Ohrs.
„Du hast gestern einen unverzeihlichen Fehler begangen, Sohn einer dreckigen Hure. Du hast uns nämlich bis aufs Blut gedemütigt. So etwas vergessen wir nicht.“
„Wir nicht“, bestätigte die andere Stimme.
„So etwas bestrafen wir. Und zwar gründlich.“
Zhou Minggang durchfuhr das blanke Entsetzen. Sein Blut geriet in Wallung und das Adrenalin schoss durch seine Adern wie der ICE durch einen Gebirgstunnel. „Ich habe es mir überlegt“, versuchte er seine Haut zu retten, „ich zahle. Es tut mir leid, was gestern passiert ist. Ich habe unüberlegt gehandelt.“
„Zu spät mein Freund. Wir wollen dein Geld nicht mehr. Was du dir gestern erlaubt hast, macht man mit uns nicht, und wenn, dann nur ein einziges Mal im Leben. Du hast nämlich unseren guten Ruf mit den Füßen in den Dreck getreten. Darum fährst du jetzt zur Hölle, du Ausgeburt einer chinesischen Dorfschlampe.“
„Ja, zur Hölle“, wiederholte die Stimme an seinem linken Ohr.
„Wir wünschen dir eine gute Reise. Mach’s gut, mein Freund!“
„Ja, mach’s gut, oder auch nicht.“
Der Killer mit der Narbe holte zu einer blitzschnellen Bewegung aus. Ein stechender, heißer Schmerz durchfuhr Minggangs linke Brusthälfte. Dann traf ihn ein zweiter, mitten im Hals. Er spürte, wie sein Herzschlag das Blut in gleichmäßigen Fontänen pulsierend aus seiner Halsschlagader presste. Es fühlte sich warm an auf seiner Haut, und es roch zartbitter nach Eisen. Dann begannen seine Knie zu zittern, und es umfing ihn finstere Nacht.
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Der Anruf kam morgens um halb drei. Kommissar Wiesenstetter lag im Tiefschlaf und träumte von rostigen Nägeln, undichten Fahrradschläuchen, gekotzten Weißwürsten, roten China-Böllern und davon, dass Jens Hagenkötter seine Iris Siebenstiel in einem Heuschober pimperte, während sie mit ihm telefonierte.
„Scheff, iech drau mers gor ned soogn. Do hoggd a doder Kienees auf seim Fohrrood am Rodn Bladz, vorm Siemens-Hochhaus.“ … „Na, iech bin in kann Heuschober, und LSD habbi aa ned gnumma.“ … „Na, der Kienees aa ned. Der is derschochn worn.“ … „Na, der Hagnködder is aa ned in der Näh.“
Die Szene wirkte grotesk. Die Hochleistungsstrahler der Erlanger Kripo leuchteten jedes Detail gestochen scharf aus. Zhou Minggang saß auf seinem Fahrrad. Seine Arme waren mit Stricken an den schmächtigen Ahornhochstämmen festgebunden, die vor dem Bürogebäude gepflanzt waren. Das weiße Hemd war über und über mit seinem Blut besudelt, welches sich unter dem Fahrrad in einer dunklen Lache gesammelt hatte. Der Unterkiefer stand weit offen, als wollte Zhou Minggang erzählen, wer ihn so zugerichtet hatte. Aber selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, noch etwas zu sagen, er hätte sowieso kein Wort hervorgebracht. Er hatte keine Zunge mehr. Die steckte tief in seiner Kehle.
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Ignatz Wiesenstetter war fix und fertig, als er abends daheim ankam. Sein Sohn Benjamin kam ihm im Schlafanzug entgegen.
„Babbi, Mao Dzedong had auf deine Hausschuh gschissn. Tanja had gsachd: ‚Dees soll der Alde selber wegwischn, sen ja seine Hausschuh. Hädders ned daher gschdelld, hädd der Daggl ned draufghaggd‘.“
„Wo is Tanja, Benni?“
„Weg! Waß ned, wohie.”
Dann bereitete der Kommissar seinem Sohn die erste warme Mahlzeit an diesem Tag. Spaghetti Bolognese. Als er Benni ins Bett gebracht hatte, setzte er sich in die Küche, schenkte sich ein Kitzmann Edelpils ein und atmete erst einmal tief durch. Er nahm einen kräftigen Schluck und holte sich ein Blatt Papier aus der Küchenschublade. Verdammt, wo war sein wertvoller Montblanc-Kugelschreiber? Der lag immer hier, gleich neben dem Papierstoß. Tanja!? Hatte sie sich den Kugelschreiber schon wieder ausgeliehen und nicht zurückgebracht? Missmutig dackelte er in Tanjas Zimmer hoch. Dort sah es aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Widerwillig ignorierte er die Unordnung und machte sich auf die Suche nach seinem Montblanc. Er konnte ihn nirgends entdecken. Mit schlechtem Gewissen öffnete er eine Schreibtischschublade. Er wollte nicht in Tanjas Sachen herumstöbern. Dann stutzte er. Dieses kleine Fläschchen hatte er vor Kurzem schon einmal gesehen. Dann fiel es ihm wieder ein. Es war im Sideboard der toten Kathie Schreiber. Es war das Fläschchen, in dem sich das LSD befand. Seine Tochter hatte ebenfalls LSD zuhause. Kein Zweifel. Die beiden Glasbehälter sahen haargenau identisch aus. Das gab Zoff. Dieses Mal gab es keine Ausreden mehr. Dieses Mal wollte er eindeutige Antworten.
Es war halb zwei Uhr morgens, als Tanja den Schlüssel vorsichtig und leise in das Türschloss steckte. Ihr Vater brauchte nicht zu wissen, wann sie nach Hause kam. Geräuschlos öffnete sie die Haustür und trat in Socken in den dunklen Flur. Gerade wollte sie den Fuß auf die erste Stufe der Treppe nach oben stellen, als der Deckenstrahler hell aufleuchtete. Ihr Vater stand mit ernster Miene im Türrahmen zum Wohnzimmer. „Baba, edz hasd mi abber gscheid erschreggd. Bisd narrisch, um dera Zeid!“
Ignatz Wiesenstetter sprach kein Wort, packte sein Töchterchen unsanft am Oberarm und schleifte sie ins Wohnzimmer.
„Ka Word mehr“, drohte er mit finsterem Gesicht, „sonsd verlier iech mei Beherrschung.“ Er hielt ihr die kleine Flasche direkt unter die Nase. „Ieberleech dier gud, was du edz sagsd! Wuher kummd dees Fläschla? Vo wem hasd du dees grichd, und was is do drin?“
„He Alder, hasd du in meine Sachn rumgschdöberd? Dees haldi ja im Kubf ned aus! Seid wann gehdn diech o, was iech …“ Weiter kam sie nicht. Ihr Vater hieb mit der flachen Hand knallend auf den Couchtisch.
„Schnauze, Dochder!“, befahl er ihr. „Edz red iech! In dera Flaschn is LSD. Genau deesselbe Zeich is daffier verandwordlich, dass in der Silvesdernachd drei Menschn gschdorbn sen.” Tanja hatte ihren Vater noch nie so aufgebracht erlebt und so entschlossen. Sie schaltete einen Gang zurück.
„Baba, dees Fläschla gherd mier gor ned. Dees gherd der Marlies. Die had miech bloß gfraachd, ob iech dees fier sie aufhebn däd. Ihr Mudder schdöberd doch immer in iehre Sachn rum. Dees schdimmd. Iech schwörs. Dees is die Woahrheid. Die Marlies had dees Fläschla vo su an kieneesischn Dyb im E-Werg kaffd. Der had zu iehr gsachd, dass dees des besde LSD is, des jemals aufn Margd kumma is.“
„Lüch mi ned o!“
„Iech lüch ned. Desmol ned. Iech hab sugoar die Marlies mid meim Händy fodografierd, wies dees LSD vo dem Kieneesn kaffd had.“
„Du hasd die Marlies dabei fodografierd? Is do auf der Aufnahm der Kienees aa zu erkenna?“
„Iech glaab scho!“
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Iris Siebenstiel besuchte das Moutai mehrere Male am Tag und befragte die anwesenden Gäste, ob sie dem Lokal zufälligerweise auch am Silvesterabend einen Besuch abgestattet hatten. Am fünften Januar landete sie endlich einen Treffer. „Iech selber woar an dem Dooch zwoar ned do, abber mei Sohn. Mei Richard, mid seiner Fraa missns wissen“, berichtete die 80-jährige Juliane Körber. „Mei Richard had mer derzähld, dass mer do so gud essn kann. Drumm sen mier heid aa do. Gell Gredl? Woarsd dabei, wieers derzähld had.“
Gretl Paulich, Juliane Körbers beste Freundin und hochgradig dement, bestätigte die Aussage: „Ja und gud hads gschmeggd dees Schäuferla, hadder gsachd, der Richard. Budderwaach woars. Wemmer mid der Gabl hieghudzd is, is scho vo allaans runder gfalln, dees Fleisch. Bloß die Soß woar kald und dees Graud aa. Des näxde Mol gehmer zum Kieneesn.“
„Geh zu Gredl, was erzählsd edz widder fier an Schmarrn. Verwechselsd die Kidzmann-Schdubn midn Kieneesn. Mei Freindin herd nemmer so gud und vergissd immer alles“, entschuldigte sich Juliane Körber bei Iris Siebenstiel. „Is dees ned a Jammer, dass mer den Besidzer vo dera Wirdschafd do umbrachd had? Do herd si doch alles auf! In was fier aner Zeid leben mier denn?“
Iris Siebenstiel befragte Richard Körber, und der bestätigte, dass er den Streit zwischen zwei chinesischen Gästen und dem Inhaber des Restaurants mitbekommen habe. „Der eine der beiden hatte eine auffällige, rote Narbe auf der linken Backe“, berichtete er. Als die Polizistin ihm das Foto von Tanjas Mobiltelefon zeigte, rief Richard Körber ganz enthusiastisch aus: „Das sind die beiden! Die waren am Silvesterabend hier.“
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Jens Hagenkötter, der Bulle aus dem Rauschgiftdezernat, war mit seinen Leuten in der Szene unterwegs gewesen. Bei einem V-Mann wurde er ebenfalls fündig. „Dees mid der Narbn is der Messer-Liu“, bestätigte er dem Beamten, als er auf den Fotoabzug blickte. „Der is do bei uns in Erlang ganz nei im Gschäfd. Kummd aus Honkong. Der hinder ihm schdehd, is sei Kumbl, der Blabber-Wang. Der haßd su, weil er dem Messer-Liu immer alles nachblabberd. Die zwaa verkaafn an neia Schdoff. LSD. Dredn bloß bei greßere Veranschdaldunga auf, wu a Haufn junge Leid sen. Morgn habbi gherd, sollns widder im E-Werg sei. Do schbieln die Broken Frondjiers. A Hardrogg Bänd.“
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Karl Lagerfeld saß mit seinen Beamten erneut im Besprechungszimmer des Polizeipräsidiums. Es war der Dreikönigstag, der 6. Januar 2013. Jens Hagenkötter war schon wieder fünf Minuten überfällig gewesen. „Iech bin schdolz auf eich“, erklärte der Polizeipräsident, „iehr habd den Fall in Rekordzeid gelösd. Edz brauch mer die Verbrecher bloß nu im E-Werg fesdnehma. Iech erwarde eire Vorschläch, wie mier vorgehn. Hagnködder?“
Der Mann aus Oegenbostel räusperte sich. „Also ich schlage vor, wir erwarten sie mit einem großen Aufgebot, wenn sie das E-Werk betreten wollen, und verhaften sie an Ort und Stelle.“
Ignatz Wiesenstetter sah Karl Lagerfeld mit großen Augen zweifelnd an und tippte sich mit seinem rechten Zeigefinger mehrmals an die Stirn.
„Dees kennas vergessn, Hagnködder“, lehnte der Polizeipräsident den Vorschlag ab. „Die Gauner riechn die Bolizei zeha Kilomeder gechern Wind. Ignadz was maansd du?“
„Iech däd vorschlagn, mier haldn uns vom E-Werg fern und lassn die Gängsder unbehellichd nei in die warme Schdubn. Schbäder, su umma halba elfa rum, ruggn mier o und sichern alle Ausgäng ab. Dann brauch mer bloß nu zu wardn, bis vo selber rauskumma.“
„Bisd aa ned gscheider, Ignadz“, ließ sich Karl Lagerfeld vernehmen, „wenn mier uns mid großer Mannschafd vor dem E-Werg aufschdelln, ja dees schbrichd si doch aa drinna rum. Am End nehma die dord drinna nu Geisln und verlanga a Fluchdaudo. Nix gibds. Mier missn ieberraschend, hard und blidzschnell zuschloogn. Wie im Kinno. Drum gehd die Iris Siebnschdiel mid dem Bruno Drobfschdein als Liebesbaar gedarnd in dees E-Werg. Zum Danzn kwasi. Do drinna schaud iehr eich um“, richtete er seine Worte an die beiden Auserwählten, „ob die Däder ieberhabds do drinna sen. Mergd eich, ohne Uniform. Am besdn iehr ziehchd eich a Dieschördla o. Wenns drinna sen, gehd aaner vo eich aufs Gloo und rufd miech an. Iech schigg dann dees Sondereinsadzkommando nei. Die sen selbsdverschdändlich aa gedarnd. Als Schdammdischbrieder, und ham schwarze Huusn und rode Hemmerder o, mid der Aufschrifd Alde Schdinger. Su mach mers“, bestimmte der Polizeipräsident. Der Plan stand.
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Messer-Liu und Plapper-Wang beobachteten mit höchster Konzentration die zuckenden Leiber, welche sich zu From the gradle to the grave im Rhythmus der Musik auf der Tanzfläche bewegten. Sie hatten sich heute schick gemacht und trugen dunkle Boss-Anzüge. Tanja Wiesenstetter stand auf der anderen Seite der Tanzfläche. Sie hatte die beiden Dealer trotz ihrer schicken Outfits sofort wiedererkannt. Dann sah sie zum Eingang. War das nicht Iris Siebenstiel, die da die Treppe herunterkam? Mit Freund? Beide trugen pinkfarbene T-Shirts und musterten auffällig die Besucher des E-Werks. Als sie sich umdrehten, las Tanja den weißen Schriftzug auf den Rücken der beiden:
Die POZILEI
Dein Freund und Helfer
Die beiden Chinesen zogen sich dezent und unauffällig in Richtung Toiletten zurück. Während Tanja sich in eine Ecke verkroch und auf ihrem Mobiltelefon die Dienstnummer ihres Vaters eingab, verließen Iris Siebenstiel und Bruno Tropfstein das E-Werk wieder. Das Freizeichen ertönte, dann die Stimme ihres Vaters: „Tanja, wu schdeggsdn du scho widder?“
„Im E-Werg, Babba. Grod is die Iris Siebenschdiel mid iehrm Laver do rei kumma. Die ham si a weng umgschaud, und dann sens widder naus ganga. Babba, die zwaa Kieneesn, die der Marlies dees Elesdee verkaffd ham, sen aa do.“
„Wos sagsd du, die sen aa do drinna? Die Iris is grod rauskumma und had gsachd, dass die Gängsder ned gsehgn had. Um Himmls Willn, Tanja, verschdegg diech. Mier kumma gleich nei, midn Sondereinsadzkommando. Gleich bfeifn die Kugln.“
„Verschdeggn“ kam für Tanja überhaupt nicht in Frage. Sie griff in ihre Tasche und nahm den kleinen Behälter fest in ihre rechte Hand. Dann machte sie sich auf den Weg in Richtung Toiletten. Sie war innerlich total aufgewühlt. Messer-Liu und Plapper-Wang standen lässig an die Wand gelehnt. Tanja ging direkt auf die beiden zu. „Ei wond du bai Ellesdie“, richtete sie ihre Worte an Messer Liu. Der sah sie prüfend von oben herab an.
„Do you have money?“, wollte er wissen.
„Yes, money”, wiederholte Plapper-Wang.
„No“, antwortete Tanja, „badd Bebber-Sbräi!“ Blitzschnell riss sie ihre rechte Hand hoch und betätigte den Sprühknopf. Beide Chinesen erhielten eine volle Ladung mitten ins Gesicht. Sie husteten, spotzten und rieben sich schmerzvoll ihre Augen, als eine wilde Horde schwarz-rot Gekleideter, vom Stammtisch Alde Schdinger über sie herfiel.
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Der Herr des Hauses erschien an der Haustür. Er hatte sich eine rosarote Schürze umgebunden. In seiner Linken hielt er ein Geschirrtuch. Seine Rechte steckte in einem gelben Gummihandschuh.
„Ignadz mei Waggerla, bisd fleißich? Iech bin zurügg. Edz sen eire boar ruhichn Dooch aa scho widder vorbei. Gell, werd nix los gwesn sei bei eich? Habder eich wenigsdens verdroogn und aa a bissla ausgruhd? Dees kanni vo mier ned grod soogn. Ned amol ausschlafn habbi kenna. Jedn Dooch su frieh aufschdeh und naus auf die Bisdn, in den kaldn Schnee. No, do wiensch iech eich nu nachdrächlich a Häbbi Nju Jiehr. Neigrudschd seider beschdimmd alle rechd gmiedlich, deng iech mier.“ Mit diesen Worten drückte Katharina Wiesenstetter ihrem Mann links und rechts einen dicken Schmatz auf die Wangen.