Читать книгу Das Ketzerweib - Werner Ryser - Страница 6
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ОглавлениеAm Abend des 28. April 1693, es war ein Dienstag, stieg die Täuferin Anna Jacob, die auf dem Auenhof am Rand der Schwemmebene westlich von Langnau lebte, hinauf auf die Dürsrüti. Ihr Weg führte sie an der Hüselmatte vorbei, wo Christine Bärtschi, die beim Chorrichter Bürki als Magd angestellt war, im Gemüsegarten mit einer Hacke die Erde lockerte. Bis vor sechs Jahren hatte sie auf dem Auenhof gedient und war dann im Unfrieden von Anna geschieden. Jetzt richtete sie sich auf und starrte der ehemaligen Meisterin nach.
Anna war unterwegs zu den Baumgartners, die oben am Waldrand ihren Hof bewirtschafteten. Rund zwei Dutzend Leute, eine Brüdergemeinde aus Bauern und Handwerkern mit ihren Frauen, ihren Knechten, Gesellen und Mägden versammelten sich dort in der grossen Stube um den Täuferlehrer Caspar Lüthi aus Längenbach. Lüthi hatte 1688 die damals achtundzwanzigjährige Anna getauft. Inzwischen war er alt geworden. Sein Haar, das über Stirn und Ohren fiel, und sein Bart waren weiss. Das Leben hatte zahlreiche Falten in sein Gesicht gegraben. Jung geblieben waren nur seine strahlend blauen Augen. Er öffnete eine grosse Bibel, die vor fast zweihundert Jahren in der Offizin Froschauer in Zürich gedruckt worden war. «Denn wer sein Leben will behalten, der wird’s verlieren», las er daraus vor, «und wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird’s behalten.» Die kleine Gemeinde von Altevangelischen schwieg bedrückt. Obrigkeit und Kirche kannten ihnen gegenüber keine Gnade. Dass sie, unter Berufung auf die Schrift, die Erwachsenentaufe praktizierten und den Kriegsdienst ebenso verweigerten wie den Treueeid auf die Gnädigen Herren, machte sie zu Staatsfeinden. Fast jeder von ihnen hatte Angehörige oder Bekannte, die ins Gefängnis geworfen, gefoltert, verbannt oder zu einer Galeerenstrafe verurteilt worden waren.
Schliesslich ergriff Lüthi erneut das Wort: «Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihrer», zitierte er Matthäus, der im 5. Kapitel seines Evangeliums die Seligpreisungen des Herrn schildert. Es entstand eine Diskussion. Fast alle äusserten sich. Ruhig und bedächtig die einen, erregt andere. Sie erzählten von ihrer Angst vor Verfolgung durch die Täuferjäger und davor, dass sie unter der Folter nicht standhaft bleiben und damit ihr ewiges Leben verspielen würden. Lüthi sprach ihnen Mut zu. Er schob sein weisses Haar aus der Stirne und zeigte allen sein Mal, den Berner Bären, den ihm der Henker im vergangenen Jahr auf die Haut gebrannt hatte.
«Ich bin verbannt worden», sagte er, «und wieder zurückgekommen. Als man mich fasste, wurde ich ausgepeitscht, gebrandmarkt und erneut aus dem Land gewiesen.» Er richtete sich auf und die Leute hatten das Gefühl, er wachse über sie hinaus. «Ich bin zum zweiten Mal zurückgekehrt. Wenn man mich verhaftet, werden sie mich wohl auf die Galeeren schicken. Aber der Herr spricht: Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.»
Mit leuchtenden Augen schaute Anna den alten Täufer an, der bereit war, das Martyrium auf sich zu nehmen. Auch die anderen schienen aus Lüthis Beispiel Mut zu schöpfen. Nach dem Wort des Evangelisten gab es nichts mehr zu sagen. Jemand stimmte ein Loblied an. Sie fassten sich an den Händen und sangen, so wie sie immer sangen, wenn sie sich gestärkt fühlten.
Später schlug der Alte vor, dass man zum Zeichen der brüderlichen Liebe und des Friedens gemeinsam das Brot breche, jenes ganz gewöhnliche Brot, das die Hausfrau am Morgen gebacken hatte, und dazu einen Becher Wein trinke. Alle wussten, dass es für die Staatskirche ein Sakrileg war, wenn ein Bauer oder ein einfacher Handwerker, wie es alle Täuferlehrer waren, das Abendmahl austeilte. Nach einem schlichten Gebet, in dem sie Gott um Standhaftigkeit anflehten, machte sich jeder und jede von ihnen auf den Heimweg. Auch Anna Jacob.
Es war schon spät. Anna zählte die Glockenschläge der Kirche von Langnau. Es waren sieben. Die Sonne versank am Horizont. Ihre letzten Strahlen vergoldeten die Kuppen der bewaldeten Hügel und tauchten die Felswände der Schrattenfluh in ein fahles Licht. Die Schwemmebene der Ilfis am Fuss der Dürsrüti lag im Schatten. In zahlreichen Nebenarmen und Bachläufen mäanderte der Fluss durch den Auenwald Richtung Nordwesten. Anna musste die Wildnis mit all ihren Wassern durchqueren, um zu ihrem Hof zu gelangen, der auf der anderen Seite der Ebene lag. Sie zog den Schal enger um ihre Schultern. Der schmale Pfad zwischen den Bäumen und den mehr als mannshohen Büschen war ihr nicht geheuer. Zumal jetzt im Dämmerlicht. Geschichten fielen ihr ein, alte Geschichten von den Seelen von Ertrunkenen, Selbstmördern und tot geborenen Kindlein, die als Irrlichter in den Erlenbrüchen spukten, um späte Wanderer vom Weg und in ihr Reich zu locken. Anna beschleunigte ihre Schritte. Hannes und Heini würden jetzt wohl dem Melker helfen, das Vieh zu versorgen, während die fünfzehnjährige Ursula die drei Jüngsten ins Bett brachte.
Als sie die Furt des Flusses überquerte, hörte sie aus der Ferne ein Horn und lautes Rufen. Sie wusste, was das bedeutete. Es gab in der Gegend ein ausgeklügeltes Alarmsystem, mit dem die Bevölkerung die Altevangelischen vor den im ganzen Land verhassten Täuferjägern warnte, wenn diese unterwegs waren. Sie blieb unschlüssig stehen. Zuhause in ihrer Schlafkammer gab es eine mit blossem Auge kaum erkennbare Scheinwand, hinter der sie sich bei Gefahr verbergen konnte. Aber möglicherweise waren die Leute des Landvogts bereits dort und warteten auf sie. Ihre sechs Kinder brauchten nichts zu fürchten. Sie waren alle nach der Geburt getauft worden und keines von ihnen hatte sich bisher für den Glauben der Mutter entschieden. Sie hatte sie auch nie dazu gedrängt. Täuferin oder Täufer wurde man nicht auf Wunsch der Eltern, sondern aus freiem Willen.
Noch immer stand Anna mit geschürztem Rock im Fluss, dessen Wasser ihre Beine bis zu den Knien umspülte. Sie konnte nicht ewig hier bleiben. So watete sie ans Ufer und kletterte über den mächtigen Stamm einer umgestürzten Silberweide, unter deren Geäst sie Schutz suchte. Sie würde wohl einige Stunden hier bleiben müssen, der Nacht und ihren Geräuschen preisgegeben. «Der Herr ist mein Hirte», murmelte sie, «mir wird nichts mangeln.» Sie kannte den 23. Psalm auswendig. Er war ihr immer tröstlich erschienen. «Er weidet mich auf einer grünen Aue», betete sie weiter. Dann hielt sie inne. Sie hörte jetzt Rufe, die vom Abhang der Dürsrüti her näher kamen. Auch Hundegebell war zu vernehmen. Vorsichtig erhob sie sich. Es war inzwischen dunkel geworden. Sie sah Fackeln, die sich Richtung Ebene bewegten. «Er erquicket meine Seele», flüsterte sie hastig und verbarg sich tief unter den Zweigen der Silberweide. «Er führet mich auf rechter Strasse um seines Namens willen.» Sie verstummte.
Die Täuferjäger waren in den Auenwald eingedrungen. Die Stimmen waren jetzt ganz nah. «Die Ketzerhure muss sich hier irgendwo verstecken», sagte einer, «so lange kann sie noch nicht unterwegs sein. Wir haben gesehen, wie sie den Hof der Baumgartners verliess.»
Anna wagte nicht, sich zu rühren. Sie hatten auf sie gewartet, oben auf der Dürsrüti. Aber woher wussten sie, dass sie an der Lesung teilgenommen hatte? Wer hatte sie verraten und weshalb?
«Hättest du besser aufgepasst», murrte der Zweite, «wären wir mit ihr bereits unterwegs ins Schloss. Ich kann nur hoffen, dass der Hund sie aufspürt.»
Jetzt hörte Anna das Hecheln des Tieres und nun wusste sie auch, wer ihr Verfolger war: Balz Wüthrich, der Büttel des Landvogts. Er folterte im Auftrag der Obrigkeit Gefangene, vollzog Körperstrafen und ging dem Berner Scharfrichter zur Hand, wenn es galt, einen Emmentaler zu köpfen, zu hängen oder zu rädern. Wo immer er in den Dörfern auftauchte, ging man ihm aus dem Weg und kreuzte heimlich die Finger. Er war durch und durch verdorben. Mütter warnten ihre ungehorsamen Kinder: «Der Wüthrich wird dich holen!» Annas Herz klopfte bis zum Hals. Täuferjäger! Und sie war das Wild. Am liebsten wäre sie davongerannt. Aber sie wusste: dann würde man sie hören und fangen. Ihre Lippen bewegten sich lautlos: «Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.»
«Lass den Hund los», hörte sie Wüthrich sagen, «vielleicht findet er ihre Spur. Sie muss diesen Pfad genommen haben.»
Und dann ging alles sehr schnell. Anna sah über sich einen riesigen Schatten. Das Geäst der Silberweide, unter dem sie sich verborgen hatte, brach krachend. Vor ihr stand der Hund. Er erschien ihr riesig. Er fletschte die Zähne und gab Laut. Anna erstarrte.
«Wir haben sie.» Das war Wüthrichs Kumpan. «Komm heraus, du Hexe, oder müssen wir dich holen?»
Anna erhob sich, kletterte über den Stamm der Weide und stand vor den beiden Männern.
«Deine Hände!» Das war Wüthrich. Er schloss ihre Gelenke in eiserne Fesseln und befestigte an der Kette, die die Schellen verband, einen Strick. «Komm! Wir haben keine Zeit, wir müssen verschwinden, bevor deine Leute versuchen, dir zu helfen.» Tatsächlich war es schon mehr als einmal vorgekommen, dass Freunde oder Verwandte Täufer, die bereits festgenommen worden waren, wieder befreit hatten.
In der verzweifelten Hoffnung, man würde sie hören, stiess Anna einen Schrei aus. Wüthrich gab ihr eine Maulschelle. «Sei still», zischte er. Sie wehrte sich, riss am Strick, an den sie gebunden war, trat mit den Füssen um sich. Während einer der beiden Häscher sie festhielt, stopfte ihr der andere sein schmutziges Halstuch in den Mund. Dann legten sie die Männer über den gestürzten Weidenstamm und verprügelten sie mit Ruten, die sie aus seinem Geäst geschnitten hatten. Mit ihren gefesselten Armen versuchte Anna ihren Kopf zu schützen. Vergeblich. Die Schläge prasselten auf sie ein. Das Tuch in ihrem Mund erstickte ihre Schreie.
«Hast du genug?», knurrte Wüthrich nach einer halben Ewigkeit. Sie nickte. Er stellte sie auf die Füsse und zerrte sie hinter sich her wie eine Kuh, die man zum Markt führt.
Es war ein langer und beschwerlicher Weg, den Anna Jacob in dieser Nacht zu gehen hatte. Sie war barfuss. Die Schuhe hatte sie ausgezogen, als sie die Furt überquerte, und dann unter der Silberweide abgelegt. Es war dunkel. Sie konnte den Pfad, der dem Lauf der Ilfis folgte, kaum erkennen. Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Als sie einmal hinfiel, gab ihr Wüthrichs Begleiter, den sie nicht kannte, einen Fusstritt. «Steh auf, du faules Luder», fauchte er, «du wirst noch lange genug liegen können.» Sie rappelte sich hoch. Ihre Häscher hatten es eilig. Keuchend stolperte sie hinter ihnen her. Sie kannte den Weg zum Schloss Trachselwald, dem Sitz des Landvogts. Sie war ihn oft gegangen. Allerdings nie bei Nacht und nie als Gefangene. Der Schweiss, der ihr von der Stirne rann, brannte in ihren Augen. Oder waren es Tränen?
Sie passierten die Stelle, wo die Ilfis in die Emme mündet. Eine Stunde später beschlossen die Männer, eine Rast einzulegen. Anna banden sie an einen Strauch. Sie hockte sich nieder und liess Wasser. Die beiden Häscher schauten ihr gleichgültig zu. «Lasst mich laufen», flehte sie. «Ich bezahle euch das Doppelte von dem, was ihr für mich bekommt.»
Die Männer lachten. «Du wirst bald kein Geld mehr haben», sagte Wüthrich. «Man wird dir dein Hab und Gut nehmen, wie allen, die sich gegen Gott und die Obrigkeit versündigen.» Er riss an ihrem Strick. «Komm, es geht weiter.»
Kalt und fern wölbte sich der Nachthimmel, an dem Myriaden von Sternen in ihrer funkelnden Pracht ihre Bahn zogen, unberührt vom Schicksal der Menschen unter ihnen, die für sie nicht mehr waren als Staub in Zeit und Raum. Kurz vor Ramsei wandten sich die Täuferjäger mit ihrer Gefangenen Richtung Norden. Die zwei Männer unterhielten sich halblaut miteinander. Anna nahm ihre Worte nicht wahr. Sie starrte in die Dunkelheit. Drüben, am Fusse des Ramseibergs lag der Waldhof, wo sie aufgewachsen war. Sie konnte die Konturen des Hauses erkennen. Der Hof wurde jetzt von ihrem jüngsten Bruder bewirtschaftet, der ihn, wie das im Bernbiet üblich war, geerbt hatte. Der Hund, der die drei nächtlichen Wanderer gehört haben musste, bellte ihnen nach. Sie hatten inzwischen das Tal der Grüene erreicht. Ein Käuzchen schrie. Anna nahm den Ruf des Totenvogels als schlechtes Omen. Sie war verzweifelt und erschöpft. Mit ihren blossen Füssen wurde jeder Schritt zur Qual. Die Eisenschellen hatten ihre Handgelenke wund gescheuert. Kurz nach Mitternacht wuchsen vor ihnen drohend Ringmauer, Palas und Bergfried von Schloss Trachselwald in die Höhe. Sie stiegen den Burghügel hinauf.
Ein Wächter öffnete ihnen das Tor und liess sie eintreten. Mit einer Fackel leuchtete er Anna ins Gesicht. Sie schloss die Augen. Wüthrich gab ihm den Strick, an den Anna gebunden war. «Bring sie ins Loch», befahl er.