Читать книгу Das Ketzerweib - Werner Ryser - Страница 8
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ОглавлениеEin ungewohntes Geräusch liess sie hochschrecken. Vergeblich suchte ihr Arm Ueli, an dessen Brust sie eingeschlafen war. Kein frühes Morgenlicht drang wie sonst in ihr Zimmer. War es noch Nacht? Verwirrt starrte sie in die Düsternis, die sie umfing. Dann fiel es ihr wieder ein. Ueli, wenn er überhaupt noch lebte, schmachtete in Ketten auf einer Galeere auf dem weiten Meer und sie lag nicht im breiten Ehebett, sondern im Kerker auf Schloss Trachselwald. Sie konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Mit der Erinnerung an ihre Festnahme meldete sich auch wieder der Schmerz, der ihren Rücken durchflutete.
Das Geräusch, das sie geweckt hatte, stammte von der eisernen Klappe, mit der eine Luke in der Tür geöffnet wurde. Eine Hand war zu erkennen, die einen Krug und einen kleinen Laib Brot in die Öffnung stellte. «Nimm, trink und iss», sagte eine gleichgültige Frauenstimme. «Brot und Wasser ist alles, was Ketzer in den ersten sieben Tagen im Mörderchäschtli erhalten.» Das Licht erlosch. Anna hörte Schritte, die sich entfernten.
Mörderchäschtli. Das Wort lastete auf ihrer Seele. Mörderkasten nannte man im Tal die engen Verliese auf Schloss Trachselwald, in denen Verbrecher den Tag ihrer Hinrichtung erwarteten. Aber sie hatte niemanden umgebracht, hatte keinem Menschen etwas zuleide getan. Sie war hier, weil sie, genau gleich wie ihr Mann, zur Gemeinschaft der Täufer gehörte.
Die Frau, die ihr Brot und Wasser gebracht hatte, war Beth Wüthrich, das Weib des Büttels, der sie verprügelt und hierhergeschleppt hatte. Beth und Balz Wüthrich wurden im Tal verachtet. Niemand wollte mit ihnen zu tun haben. Sie hatten sich an die Obrigkeit verkauft. Ihr Handwerk galt als unehrlich. Und nun war sie, Anna Jacob, den beiden ausgeliefert. Auf Gedeih und Verderb.
«Die ersten sieben Tage», hatte die Frau gesagt. Die ersten sieben. Also würden weitere folgen. Sie nahm das Brot in die Hand, drückte es gegen die Nase, roch daran. «Unser täglich Brot gib uns heute», flüsterte sie und liess sich auf ihr Lager sinken.
Im Auenhof wusste man, was es bedeutete, täglich jenes Brot essen zu dürfen, für das man auf den Feldern arbeitete, die ein ferner Vorfahre dem Auenwald abgerungen hatte. Jedes Jahr im Frühling ging Anna, zusammen mit einer der beiden Mägde, ein paar Schritte Ueli hinterher, wenn er das Saatgut aus der Tasche holte, die er um die Schulter gehängt hatte, um es mit weit ausholenden, regelmässigen Bewegungen in den Acker zu streuen, der zuvor gepflügt und geeggt worden war. Die beiden Frauen rechten Erde über die Körner, um sie vor den gefrässigen Raben zu schützen, die krächzend über ihnen flatterten. In den folgenden Wochen machten sie sich nach der Art der Bauern Sorgen ums Wetter, bangten vor späten Frösten, hofften auf Regen oder Sonnenschein, je nachdem. Und wenn sie beim sonntäglichen Gang über die Felder die ersten Spitzen zartgrüner Halme entdeckten, die aus dem Erdreich brachen, blieben sie andächtig stehen. Ueli faltete dann die Hände und sandte einen stummen Dank hinauf zum pastellblauen Himmel, der sich über das weite Hügelland mit seinen Feldern und Wäldern und den verstreuten Höfen wölbte.
Im August, wenn die an der Sonne golden gewordenen Ähren hoch standen und sich unter ihrer schweren Last im Sommerwind beugten, kam der Tag, an dem Ueli Taunern und Tagelöhnern ausrichten liess, man werde am nächsten Tag mit der Ernte beginnen. Und so standen die Männer, einer neben dem anderen, mit ihren Sensen in der Morgenfrühe auf dem Feld. Ueli gab das Tempo vor. Das Eisen blitzte auf und das Korn sank zu Boden, wo es, von den Mägden zu Garben gebunden, darauf wartete, auf den Wagen geladen und in die Scheune gebracht zu werden.
Sobald der erste Schnee das Land zudeckte, war der Auenhof erfüllt vom Lärm der Dreschflegel, die, wie es Anna schien, den Takt zum grossen Lied von der Erde und ihren guten Gaben trommelten. Nichts sollte verloren gehen. Das reichlich bemessene Saatgut für das nächste Jahr wurde gelagert, das Stroh wurde im Stall dem Vieh unterlegt, das für das tägliche Brot bestimmte Korn wurde in grosse Säcke abgefüllt, mit denen man zur Mühle an der Ilfis fuhr, die Gottlieb Diepoldswiler gehörte, dem Bauern des benachbarten Lindenhofs.
Tage später mischte Anna, zusammen mit den Mägden, in grossen Schüsseln das Mehl mit Hefe, Salz und Wasser und knetete es zu einem Teig, aus dem das erste Brot vom Korn dieses Jahres gebacken wurde.
Noch immer hielt Anna Jacob in ihrem düsteren Verlies das harte Laiblein an die Nase gepresst. Sie brach ein Stück ab und kostete davon. Es war ein Roggenbrot aus lieblos gemahlenem Korn, das schlecht schmeckte. Der Müller hatte es nicht für nötig befunden, Krüsch und Mehl zu trennen. Anna hätte ein solch billiges Mehl zurückgewiesen. Aber vielleicht wollte es Beth Wüthrich nicht anders. Sie erhielt für die Verköstigung der Gefangenen einen festen Betrag. Alles, was übrig blieb, gehörte ihr.
Anna setzte sich auf ihr Lager. Ihr wurde bewusst: Sie würde in der nächsten Zeit hungern müssen. Auch nach den sieben Tagen, an denen sie auf eine Diät von Wasser und Brot gesetzt war. Was immer man ihr an Nahrung vorenthielt, bedeutete für die Wüthrichs zusätzliche Einnahmen.
Sie selber hätte sich geschämt, am Essen für die Knechte und Mägde zu sparen. Natürlich kannte man Zeiten, in denen die Ernte schlecht ausfiel. Aber dann gab es für alle weniger. Margrit Jacob hatte ihr stets eingeschärft, es schicke sich nicht, dass der Bauer und die Bäuerin bei Tisch besser gestellt seien als die Bediensteten.
Die gute Margrit. Sie war Annas Lehrmeisterin. Jeden Morgen, noch vor dem Frühstück, besprach sie mit der jungen Schwägerin, was zu tun sei in der Hofstatt, im Pflanzplätz und im Hühnerstall. Später, in der Küche, teilte Anna den beiden Mägden die Arbeit zu. «Jungfer Margrit wünscht», sagte sie oder: «Jungfer Margrit will.» Wenn etwas unklar war, hiess es: «Wartet einen Augenblick, ich will schnell Jungfer Margrit fragen.» War etwas unordentlich erledigt, zog sie die Brauen hoch: «Das wird Jungfer Margrit nicht gern hören, wenn ich es ihr erzähle.»
Anna fühlte sich den beiden gegenüber unsicher. Christine und Therese waren ein paar Jahre älter und, genau gleich wie sie, Töchter von Kleinbauern. Was sie unterschied: Sie hatten nicht das Glück gehabt, in einen grossen Hof zu heiraten und waren damit zu einem Leben als Dienstboten bestimmt. Sie nahmen die Anweisungen der jungen Meisterin entgegen, führten sie auch aus, brachten aber, ohne dass es dazu irgendwelcher Worte bedurft hätte, zum Ausdruck, dass sie sie nur wegen ihrer Stellung akzeptierten.
Als sich Anna darüber einmal bei Margrit beklagte, lachte sie die Ältere aus. «Wie sollen sie dich anerkennen, wenn du dich immer auf mich berufst.» Und tatsächlich, als Anna gelernt hatte, «Ich will» zu sagen und «Ich wünsche», als sie einmal Christine mit den Worten «Damit bin ich nicht zufrieden» tadelte und ihr zeigte, wie sie die Arbeit erledigt haben wollte, spürte sie zum ersten Mal, dass sie respektiert wurde.
Am Abend, wenn das Tagwerk getan und das Essen abgeräumt war, sass sie mit den Mägden in der Stube am Spinnrad oder am Webstuhl. Manchmal strickten die drei Frauen Strümpfe oder besserten die Kleider des Bauern und der Knechte aus. Wenn sie Christine und Therese dann in ihre Kammer schickte, ging sie mit Ueli hinauf zu Margrit. Für sie war es die beste Zeit des Tages.
Ueli, dem auffiel, dass seine junge Frau aus der Bibel nur einzelne Geschichten kannte und deren Sinn kaum begriff, bat seine Schwester, ihnen jeden Abend einen Abschnitt aus dem Markusevangelium vorzulesen. Anschliessend diskutierten sie über das Gehörte. An eine der Lesungen erinnerte sich Anna besonders gut. Es handelte sich um die Taufe Jesu durch Johannes Baptista. «Der Herr muss damals dreissig Jahre alt gewesen sein», sagte Ueli, als Margrit geendet hatte, und schaute sie, wie ihr schien, durchdringend an. Auch die Schwägerin, welche die Heilige Schrift auf den Beistelltisch gelegt hatte, musterte sie neugierig aus ihren grünen Augen. Anna glaubte zu spüren, dass die Geschwister von ihr eine Reaktion erwarteten.
«Dreissig Jahre alt», wiederholte ihr Mann, «er war also längst erwachsen.»
Das Wort «Erwachsenentaufe» fiel ihr ein. War Jesus bereits als Kind getauft worden? Sie wusste es nicht. Falls ja, weshalb hatte er sich ein zweites Mal taufen lassen? Aus Angst, sich damit blosszustellen, wagte sie es nicht, zu fragen. Vielleicht war ihr bei der Lesung etwas entgangen. Ihr Blick fiel auf die Bibel auf dem Tisch. Das mit Holzschnitten reich verzierte Titelblatt hatte sie stets fasziniert. Die Bilder erzählten die Geschichte von der Erschaffung der Welt bis hin zum Sündenfall. Auf einem weissen Feld in der Mitte war zu lesen: Die ganze Bibel der ursprüngliche Ebräischen und Griechischen wahrheyt nach auffs aller treüwlichest verteutschet. Und unten auf dem weissen Feld stand: Getruckt zu Zürich bey Christoffel Froschouer im Jahr als man zalt M.D.XXXI.
«Das ist die schönste Bibel, die ich je gesehen habe», sagte sie schliesslich, um das Schweigen zu brechen. «Zuhause in Ramsei haben wir eine andere. Der Prädikant von Sumiswald hat sie uns empfohlen.»
Margrit lächelte. «Das ist die Staatsbibel, die man auch im Unterricht verwendet. Sie wurde von Johannes Piscator, einem Professor an der Hohen Schule von Herborn, ins Deutsche übertragen. Seine Enkelin war mit einem Berner Ratsherrn verwandt. Die Gnädigen Herren lassen sie zum ausserordentlich günstigen Preis von zweiundzwanzig Batzen verkaufen. Wir ziehen allerdings die Froschauer-Bibel vor. Ulrich Zwingli selber hat sie, zusammen mit seinem Freund Leo Jud, übersetzt. Die Worte des Herrn sind hier genauer wiedergegeben.»
«Und nur darauf kommt es an, wenn wir die Frohe Botschaft richtig verstehen wollen», fügte Ueli hinzu. Wieder schauten die Geschwister Anna erwartungsvoll an. Dann lächelten sie sich zu. Es schien, als seien sie stillschweigend zum Schluss gekommen, es sei noch nicht an der Zeit, die Frau und Schwägerin in ein Geheimnis einzuweihen, von dem nur sie wussten. «Es ist Schlafenszeit», meinte Ueli schliesslich.
An diesem Abend lag Anna lange wach im Bett. Sie spürte, dass ihr Mann und seine Schwester ihr etwas Wichtiges vorenthielten, aber sie erriet nicht, um was es sich handelte.
Ein paar Tage später wollte Anna von Margrit wissen, wer dieser Froschauer gewesen sei, der ihre schöne Bibel gedruckt habe.
«Stoffel Froschauer?» Die Schwägerin lächelte. «Er war der erste Buchdrucker in Zürich und gehörte zum Freundeskreis Zwinglis. Berühmt geworden ist er nicht nur wegen der prachtvollen Ausgabe der Heiligen Schrift, die in seiner Offizin hergestellt worden ist, sondern auch, weil er und seine Gesellen am ersten Sonntag der Fastenzeit vor hundertsiebzig Jahren mit einem Wurstessen ganz bewusst das Fastengebot brachen.»
«War das denn so schlimm?» Anna, die wie ihre Eltern und Grosseltern in der reformierten Tradition erzogen worden war, hatte sich nie Gedanken über das vorösterliche Fasten gemacht.
«Ob das schlimm war?» Margrit schüttelte den Kopf über so viel Unkenntnis. «Das will ich meinen! Für diese Männer war es ein Akt der evangelischen Freiheit. Und ein Jahr später hob der Grosse Rat von Zürich, der Zwinglis Bibelauslegung übernommen hatte, alle Fasten-Gesetze auf. Die Würste von Froschauer gehören zur Geschichte unseres reformierten Glaubens.»
Jetzt im dunklen und engen Mörderchäschtli auf Schloss Trachselwald, mit einem einzigen Laiblein Roggenbrot und einem Krug Wasser, fiel Anna Jacob dieses Gespräch mit ihrer längst verstorbenen Schwägerin wieder ein. In den Jahren, die seither vergangen waren, hatte sie gelernt, die Bedeutung des Wurstessens zu verstehen, so wie sie gelernt hatte, dass der wahre Glaube nicht bei der Staatskirche, sondern allein bei den kleinen Täufergemeinden zu finden war, die im täglichen Leben das Wort Gottes erfüllten. Beschämt musste sie sich aber eingestehen, dass der Gedanke an das Essen in Froschauers Werkstatt das Bild von Würsten, Schinken und Speck heraufbeschwor, die zuhause im Räucherofen hingen. Ihre erste Schwangerschaft und die Hungerattacken, die zu stillen sie Ueli stets liebevoll gedrängt hatte, fielen ihr ein.
Schon kurz nach der Hochzeit blieb die Monatsblutung aus. Von ihrer Mutter wusste Anna, was das zu bedeuten hatte. An Pfingsten war sie sich sicher: Sie trug ein Kind im Bauch. Ueli, als sie sich ihm anvertraute, schloss sie in seine Arme. Er war bewegt. «Ein Kind», sagte er und seine Stimme zitterte ein wenig, «wir bekommen ein Kind!»
Auch Margrit strahlte. «Es wird weitergehen», meinte sie. «Eine neue Generation wird heranwachsen und einmal den Hof übernehmen. Hoffentlich bin ich bei der Geburt noch da.»
Dieses erste Jahr nach ihrer Heirat war für Anna eine glückliche Zeit. Ihr war, als würde sie im gleichen Mass in ihre Rolle als Bäuerin hineinwachsen, wie das Kindlein in ihrem Leib grösser wurde. Sie musste sich gegen die Fürsorglichkeit von Ueli wehren, der es nicht gerne sah, dass sie neben der Arbeit im Haus auch auf dem Feld mithalf. «Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit», lachte sie ihn aus, «meine Mutter hat jeweils bis zum letzten Tag geschuftet und ich und meine Geschwister haben dabei keinen Schaden genommen.»
An einem Augustabend, nachdem man tagsüber das Korn geschnitten und zu Garben gebunden hatte, sassen sie bei Margrit, die aus der Schrift vorlas. Anna schien ganz in Gedanken versunken. Sie lächelte.
«Was hast du?», fragte Ueli, der sie beobachtete.
Sie nahm seine Hand und legte sie auf die Wölbung ihres Bauches. Margrit liess die Bibel sinken. Ueli runzelte die Stirn. Dann ging ein Lachen über sein Gesicht. «Es bewegt sich», sagte er.
Auch die Schwägerin wollte das Kindlein spüren. «Siehe, da ich die Stimme deines Grusses hörte, hüpfte mit Freuden das Kind in meinem Leibe», zitierte sie aus dem Gedächtnis. «Lukasevangelium, Erstes Kapitel», fügte sie hinzu und nickte bedeutungsvoll.
«Welches Kind?», wollte Anna wissen.
«Johannes, der später den Herrn im Jordan taufte», erklärte Ueli, «auch unser Kind wird einmal Johannes heissen.»
«Und wenn es ein Mädchen ist?»
«Es wird ein Sohn sein.»
Es war ein Sohn. Am zweiten Weihnachtstag setzten die Wehen ein. Gegen Abend liess Ueli die Hebamme von Langnau, Gret Fridlin, holen. Sie war eine Witfrau, eine erfahrene Geburtshelferin, deren eigene Kinder längst erwachsen waren. Während die Abstände zwischen den Wehen kürzer wurden, sass sie neben Annas Bett. Sie trank einen Becher Hypocras, den ihr Ueli, der aus dem Schlafzimmer verbannt worden war, hatte bringen lassen, und erzählte von ihrer Vorgängerin, von der sie vor zwei Jahrzehnten in ihr Handwerk eingeführt worden war, und von der Frauengemeinde, vor der sie ihre Prüfung hatte ablegen müssen. Mit rätselhaftem Lächeln berichtete sie vom Schwur, sich aller Zauberei und abergläubischer Praktiken zu enthalten, den man ihr damals abverlangt hatte. Im Übrigen sei es ihr und ihresgleichen von der Obrigkeit untersagt, eine Frau zum Pressen zu drängen, um die Geburt zu beschleunigen. Ebenso dürfe sie weder Zangen, Eisen, Haken oder dergleichen verwenden, um das Kind herauszuziehen. Diese Vorschriften seien durchaus in Ordnung. Alles, was sie tun könne, sei durch geschickte Handgriffe oder das Umlagern der Kindbetterin zu versuchen, die Geburt günstig zu beeinflussen. Das andere überlasse man am besten der Natur.
Gret Fridlin in ihrer schwarzen Amtstracht und den roten Strümpfen war Anna etwas unheimlich.
Ob sie das Kind auch bis spätestens vierzehn Tage nach der Geburt taufen lassen werde, erkundigte sich die Frau zwischen zwei Wehen und sah sie prüfend an.
Anna wusste, dass die Hebammen gehalten waren, das geistliche Gericht zu unterstützen. Die sechs vom Landvogt ernannten Chorrichter hatten für einen sittlichen Lebenswandel in ihren Kirchgemeinden zu sorgen. Mit Geldbussen oder ein paar Tagen Haft bestraften sie Vergehen wie uneheliche Schwangerschaft, Ehestreit, Trunksucht, mangelnden Kirchenbesuch, Spiel, Tanz und Kleiderpracht. Besonders aber bestanden sie darauf, dass die neugeborenen Kindlein rechtzeitig getauft wurden.
«Natürlich werde man das Kleine taufen», sagte Anna, die bleich und erschöpft auf dem Bett lag.
Sie habe auch nichts anderes erwartet, brummte die Hebamme und wischte der jungen Frau mit einem feuchten Tuch den Schweiss von der Stirn. Sie sei überzeugt, dass die Jacobs nicht zu den Altevangelischen gehörten, die die Kindstaufe verweigerten und sich heimlich versammelten, um das Wort Gottes eigenmächtig auszulegen.
Draussen graute bereits der Morgen des 27. Dezembers, als Gret Fridlin Anna ein schreiendes Menschlein mit hochrotem Kopf in den Arm legte. «Es ist ein Bub», sagte sie und ging dann zur Tür. «Ein Bub!», rief sie.
Ueli, der die ganze Nacht gewartet hatte, kam mit grossen Schritten in die Kammer. Anna hielt ihm das Kind entgegen. Ganz vorsichtig nahm er es in seine grossen, abgearbeiteten Hände. Er senkte den Kopf. Tränen liefen über seine Wangen. «Ein Bub», flüsterte er, «ein Bub.»
«Wie soll er denn heissen?», erkundigte sich die Hebamme.
«Johannes», sagte der Bauer und schniefte.
«Das ist recht so», nickte sie, «heute ist der Namenstag des Evangelisten Johannes.»
Anna öffnete den Mund, um zu sagen, dass das Kind nach dem Täufer genannt werde, als sie sah, dass Ueli fast unmerklich den Kopf schüttelte und die Lippen zusammenpresste.