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Der Mann führte sie über den Schlosshof. Durch eine Tür im Bergfried kamen sie zu einer Treppe. Sie musste vor ihm hergehen. Im flackernden Licht der Fackel nahm sie düstere Mauerquader wahr. Im ersten Stockwerk erkannte sie zwei Türen aus schweren Eichenbalken. Der Eingang zu den gefürchteten Verliesen von Trachselwald. Eines von ihnen öffnete er. «Bück dich», brummte er und stiess Anna hinein. Dann nahm er ihr die Handfesseln ab und legte ihr stattdessen eine eiserne Schelle um das rechte Fussgelenk. Sie war mit einer schweren, in der Wand verankerten Kette verbunden. «Du bist nicht die Erste, die hier einsitzt», sagte er. Sollte das ein Trost sein? Er ging hinaus, schlug die Tür hinter sich zu. Anna hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte und ein Riegel vorgeschoben wurde. Dann Stille.

Es war stockdunkel. «Finster wie in einer Kuh», fiel ihr ein. Sie wusste nicht, weshalb sie sich ausgerechnet jetzt daran erinnerte, dass ihr Vater, der längst tot war, ab und zu diese Redewendung gebraucht hatte. Ihre Hände ertasteten Wände. Sie standen nah beieinander. Drei Schritte in die Länge. Drei Schritte in die Breite. Die Hälfte des Raums beanspruchte ein roh gezimmertes Lager. Darauf lag ein mit altem Stroh gefüllter Sack. Ihre Schlafstätte. Ein kleines vergittertes Fensterchen, kaum mehr als eine Luke.

Anna, deren Rücken von den Prügeln, die sie bezogen hatte, noch immer schmerzte, legte sich auf den Bauch. Sie barg ihren Kopf in der Ellenbeuge. Jetzt, wo sie allein war, gab sie sich ihrem Elend hin. Tränen flossen über ihre Wangen. «Lieber Gott, hilf mir», schluchzte sie. Immer wieder: «Lieber Gott, hilf mir.»

Und mit einem Mal war ihr, als sitze ihr Mann an ihrem Lager und halte ihre Hand, wie er es früher immer getan hatte, wenn sie traurig war oder verzagt. «Ueli», flüsterte sie. Ramsei, Palmsonntag, 11. April 1677. Die siebzehnjährige Anna Eggimann war früh aufgestanden. Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen. Heute sollte sie den Mann heiraten, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte: Ueli Jacob. Man hatte sie nicht gefragt, ob sie ihn wolle. Weshalb auch? Ein Mädchen konnte froh sein, wenn sie nicht ein Leben lang auf dem elterlichen Hof dem jüngsten Bruder als Magd dienen oder anderswo fremdes Brot essen musste.

Ueli Jacob gehörte der Auenhof, ein grosses Gut am Rand der Schwemmebene bei Langnau. «Du hast Glück», sagte ihre Mutter, die ihr das dunkle Haar zu einem Zopf flocht. «Du wirst Bäuerin.» Anna hatte die Festtagstracht schon am Abend zuvor bereitgelegt. Sie schlüpfte in den langen schwarzen Rock, der sich über dem Hüftpolster, dem, wie man ihn nannte, «Weiberspeck», bauschte und dann bis fast zu den Knöcheln fiel. Über das blendend weisse Hemd legte sie ein dunkelrotes Mieder. Ihre Mutter schnürte es so eng, dass Annas Taille noch schlanker erschien, als sie es ohnehin war. Dann setzte sie der Braut das weisse, mit Spitzen besetzte Häubchen vorsichtig auf den Kopf. Die Mutter zog aus ihrer Schürze eine Halskette aus schwerem, glänzendem Silber und gab sie der Tochter. «Dein Ueli soll sehen, dass seine Braut aus rechtem Haus kommt», sagte sie.

Anna hielt den Atem an. Sie hatte noch nie so etwas Wertvolles besessen. «Ist die wirklich für mich?», fragte sie schliesslich.

«Sie gehört dir nur auf Zeit, mein Kind. Schon meine Grossmutter und meine Mutter haben sie getragen. Auch du wirst sie deiner ältesten Tochter weitergeben, wenn sie sich einmal verheiratet.» Sie nahm ihr die Kette aus der Hand und legte sie Anna um den Hals.

Zwei Stunden später stieg die ganze Familie in den offenen Leiterwagen, der, wie die beiden Ackergäule, die ihn zogen, mit Blumen und Laub geschmückt war. Während sich die Braut auf den Kutschbock neben den Vater setzen durfte, nahmen die Mutter und die sechs Geschwister auf der Ladefläche Platz, wo man mit zwei Brettern eine behelfsmässige Sitzgelegenheit eingerichtet hatte.

Sie fuhren der Emme entlang flussaufwärts. Das Land mit seinen dunklen Tannenwäldern und seinen steilen Hügeln, auf deren Kuppen oft einsame Linden sich vom Horizont abheben, begrüsste den Frühling. Oben in den Bergen war der Schnee geschmolzen. Das Sonnenlicht brach sich im Wasser des Flusses, dessen Bett bis zum Rand gefüllt war. Er liebkoste die herunterhängenden Zweige der Weiden. Der Auenwald trug bereits sein hellgrünes Kleid und auf den Wiesen streckten die ersten Schlüsselblumen ihre gelben Köpfchen aus der Erde. Die Luft war erfüllt vom Gesang der Vögel. Am zartblauen Himmel, an dem zwei Bussarde ihre Kreise zogen, segelten hauchdünne Federwolken nach Osten. Schon von weitem hörte die Hochzeitsgesellschaft die Kirchenglocken, die zum Gottesdienst riefen. Hinten im Wagen stand die fünfzehnjährige Lisa auf. Vorsichtig hob sie das Spitzenhäubchen vom Kopf ihrer Schwester und setzte ihr einen Brautkranz aus weissen Narzissen, die sie am frühen Morgen gepflückt hatte, auf das braune Haar. Anna lächelte.

Sie war noch so jung, damals. Noch fast ein Mädchen. Ihr Mann, der sechsunddreissigjährige Ueli Jacob war mehr als doppelt so alt wie sie. Zum ersten Mal hatte sie ihn ein halbes Jahr vor ihrer Hochzeit gesehen. Auf dem Viehmarkt in Langnau, wo ihm ihr Vater eine Kuh abgekauft hatte. Anna hatte ihn dorthin begleitet. Nach dem Handel hatten sie gemeinsam mit Ueli den Abschluss bei einem Becher Wein in einer Taverne gefeiert. Sie erinnerte sich noch, wie sie den grossen, hageren Mann verstohlen betrachtet hatte. Er war eine eindrückliche Figur. Sein dunkles Haar, das von einigen grauen Strähnen durchsetzt war, hatte er aus der zerfurchten Stirn gestrichen. Seine tief liegenden Augen und die beiden scharfen Falten, die von der Nase schräg zu den Mundwinkeln liefen, verliehen seinem Gesicht einen melancholischen Zug. Ein sorgfältig gepflegter Bart umrundete Wangen und Kinn, liess aber seine Oberlippe frei. Er sprach langsam, dachte vor jedem Satz nach, geizte mit seinen Worten. Als er die heimlichen Blicke des Mädchens bemerkte, musterte er sie lange. Dann bat er den Vater, sie hinauszuschicken. Er habe noch etwas mit ihm unter vier Augen zu besprechen. Verwirrt war sie aufgestanden und hatte die Gaststube verlassen.

Auf dem Rückweg nach Ramsei hatte der Vater geschwiegen. Manchmal hatte er geseufzt. Es war Anna, welche die Kuh am Halfter führte, nicht gelungen herauszufinden, was ihn beschäftigte. Er hatte ihre Fragen abgewehrt.

Am Abend, nach dem Essen, hatte er die Mutter aufgefordert, ihn zu einem Gang über die Felder zu begleiten. Anna sah den beiden aus dem Stubenfenster nach. Sie ahnte, dass man über sie sprach. Als sie zurückkehrten, sagten ihr die Eltern, dass sie beschlossen hatten, sie mit Ueli Jacob zu verheiraten.

Sie begann zu weinen, ohne zu wissen, weshalb. «Er ist ein guter Mann», tröstete sie die Mutter, «ein angesehener Mann. Er besitzt einen grossen Hof und ist Gerichtsäss.»

Am zweiten Weihnachtstag kam Ueli Jacob nach Ramsei. Er brachte einen goldenen Ring mit. Zur Verlobung. Man legte den Hochzeitstermin auf den Palmsonntag im kommenden Frühjahr fest.

Die Kirche von Langnau, in der sie getraut wurden, war vor vier Jahren eingeweiht worden. Die Gnädigen Herren von Bern hatten einen Neubau nach den Plänen ihres Münsterbaumeisters, Abraham Dünz, angeordnet. Auf der Kanzel prangte das Wappen von Samuel Frisching, der früher einmal Landvogt in Trachselwald gewesen war und inzwischen die Schultheissenwürde von Bern erlangt hatte. Die Obrigkeit war allgegenwärtig im Emmental. Auch der Pfarrer war von ihr eingesetzt.

Als der Prädikant, Johann Jakob Feer, nach der Predigt die Trauung vollzog und den Bräutigam fragte, ob er Anna Eggimann als seine Ehefrau lieben und die Ehe mit ihr nach Gottes Gebot und Verheissung führen wolle, in guten und in bösen Tagen, bis der Tod sie beide scheide, betrachtete die junge Frau den Mann, mit dem sie künftig zusammenleben würde, aus den Augenwinkeln. Sie empfand anders als damals im Gasthaus, wo sie ihn nach dem Viehhandel zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte. Auch anders als bei der Verlobung, ihrer zweiten Begegnung. Jetzt wurde ihr bewusst, dass Ueli Jacob nicht nur als ihr Gatte, sondern auch als ihr Vormund jene Gewalt über sie haben würde, die bisher ihrem Vater zugestanden war.

Ueli schaute den Prädikanten konzentriert an. Seine Lippen bewegten sich, als spreche er die Worte nach, um sie sich besser einzuprägen. Auch er war festlich gekleidet. Über einem gefältelten weissen Hemd trug er eine schwarze Weste mit silbernen Knöpfen. Darunter eine weite Rheingrafenhose aus blau gefärbtem Leinen, die bis zu den Knien reichte. Die weissen, wollenen Strümpfe waren über den Waden mit roten Bändeln befestigt.

«Ja, mit Gottes Hilfe», sagte er jetzt.

«Und du, Anna Eggimann …», wandte sich Pfarrer Feer der jungen Frau zu und wiederholte die Trauformel.

Sie zögerte eine Sekunde. «Ja, mit Gottes Hilfe», sagte dann auch sie.

Als das frisch vermählte Paar an der Spitze der Hochzeitsgäste von der Kirche die Dorfstrasse hinunter zur Ilfisbrücke schritt, machte Ueli seine junge Frau auf ein grosses Bauernhaus aufmerksam, das inmitten eines Baumgartens am südlichen Rand der Schwemmebene lag. «Der Auenhof», sagte er, «dein neues Zuhause.»

Ein mächtiges, strohgedecktes Walmdach wölbte sich über Wohnteil, Stall, Speicher und Tenn. Anna staunte. Hier also sollte sie Bäuerin werden. «Wie viel Stück Vieh hast du?», wollte sie wissen.

«Dreissig Kühe, vier Pferde, ein Dutzend Schweine», zählte er auf, «natürlich Hühner und ein paar Gänse. Dazu genügend Weideland, um das Vieh durch den Winter zu füttern, und Äcker, auf denen wir Weizen, Roggen, Dinkel und Hafer pflanzen. Ausserdem einen Pflanzplätz, einen Obstgarten und ein Stück Wald.» Er schwieg. «Wir haben alle Hände voll zu tun», fügte er dann hinzu.

Es war mehr, viel mehr als ihre Eltern besassen. «Wer sind wir?», fragte sie vorsichtig.

«Hansjakob Tanner, der Grossknecht, er ist mein Vetter, ein Melker und ein Karrer, Tagelöhner, je nach Arbeitsanfall. Im Haus helfen Christine Bärtschi und Therese Müller, die beiden Mägde.»

Anna ging schweigend neben ihrem Mann her. Sie realisierte, dass Ueli Jacob viel reicher war als ihre Eltern. Sie selber hatte seit ihrer Kindheit mitgeholfen, im Haus und auf dem Feld, sie und ihre sechs Geschwister. Daheim gab es keine Knechte und Mägde. Sie wusste, was es hiess, zuzupacken. Aber es war stets die Mutter gewesen, die gesagt hatte, was zu tun sei. Jetzt würde sie selber einem grossen Haushalt vorstehen, einem viel grösseren als dem elterlichen. Sie würde vorausdenken müssen, planen, anderen die Arbeit zuweisen. Ob sie das konnte, fragte sie sich verzagt.

«Du brauchst keine Angst zu haben.» Hatte der Mann, dessen Frau sie nun war, ihre Gedanken erraten? Er nahm ihren Arm und drückte ihn beruhigend. «Du wirst an deiner Aufgabe wachsen. Ausserdem wird dich meine Schwester anlernen.»

Seine Schwester. Anna kramte in ihrem Gedächtnis. Irgendeinmal hatte sie von Uelis älterer Schwester gehört, die ihm den Haushalt führte. «Wo ist sie, deine Schwester?» Sie wandte sich um und musterte die Hochzeitsgäste.

«Sie kann an der Feier nicht teilnehmen. Sie ist krank», der Mann machte ein verschlossenes Gesicht, Anna wagte es nicht, weitere Fragen zu stellen.

Da es der frühen Jahreszeit zum Trotz aussergewöhnlich warm war, hatte man grosse Tische unter die breiten Kronen der beiden Linden vor dem Haus gestellt. Alles, was der Auenhof zu bieten hatte, stand für die Bewirtung der Gäste bereit: Fleischbrühe, Geräuchertes, Gesalzenes, Gesottenes und Gebratenes vom Schwein, von der Kuh und vom Kalb. Selbst Hähnchen, die im Emmental als «Herrenspeise» galten, hatten die Mägde aufgetischt. Verschiedene Platten mit Gemüse waren da, auch dampfender Hirse- und Haferbrei. Und natürlich Mengen von Chüechli, die in Butter schwimmend gebacken worden waren. Ferner grosse, duftende Brotringe aus Weissmehl. In Glaskaraffen blinkte roter Burgunderwein. Ueli Jacob schien entschlossen, ein Festmahl auszurichten, von dem man im ganzen Tal noch lange sprechen würde. «Nehmt Platz», rief er und machte eine einladende Geste, «und lasst es euch schmecken. Mich wollt ihr kurz entschuldigen.»

Er nahm Anna am Arm und führte sie ins Haus. «Ich will dich zuerst mit meiner Schwester Margrit bekannt machen.» Sie stiegen eine Treppe hoch. Ueli klopfte an eine Tür und schob seine junge Frau in die Kammer. «Ich warte unten auf dich», sagte er und liess sie allein.

«Komm näher», sagte eine Stimme, die, obwohl leise, seltsam eindringlich klang. Am offenen Fenster, aus dem man über die Auenlandschaft in ihrer Frühlingspracht sah, sass eine Frau in einem grossen, geschnitzten Stuhl. Sie mochte um die fünfzig Jahre alt sein und wirkte zart und zerbrechlich. Ihre weisse, von blauen Äderchen durchzogene Haut schien fast durchsichtig. Sie trug einen langen schwarzen Rock und über den schmalen Schultern eine gehäkelte, schwarze Stola, die vor ihrer Brust mit einer goldenen Brosche zusammengehalten wurde. Das graue, zu einem Knoten gebundene Haar war bedeckt von einer ebenfalls schwarzen Haube. Auf einem Beistelltisch neben ihrem Sessel lag die Heilige Schrift. Sie war aufgeschlagen.

«Nimm einen Stuhl, setz dich mir gegenüber und lass dich anschauen», sagte sie. Das klang freundlich, fast liebevoll.

Anna gehorchte. Erst jetzt fiel ihr auf, welch schöne Augen Margrit Jacob hatte, gross, grün, unergründlich.

Die Frau betrachtete sie schweigend. Um ihre blutleeren Lippen spielte ein Lächeln. «Du bist also meine Schwägerin», sagte sie endlich und streckte ihre Hand aus. Leicht wie ein Schmetterling berührte sie die Wangen der Jüngeren. «Und fast noch ein Kind.» Sie schwieg. «Hat dir Ueli gesagt, dass ich bald sterben werde?»

Anna schüttelte verwirrt den Kopf.

«Mein Herz will nicht mehr», sagte Margrit Jacob ruhig, «es schlägt nur noch langsam und es rast, wenn ich mich ein wenig anstrenge. Das Atmen fällt mir schwer. Ich kann kaum mehr diese Kammer verlassen. Das Treppensteigen ermüdet mich. Ein Leben lang habe ich für Ueli gesorgt. Er war mein kleiner Bruder. Er ist es immer noch», fügte sie lächelnd hinzu. «Jetzt bin ich nutzlos geworden. Ich kann in der Küche nicht mehr nach dem Rechten sehen. Ich bin froh, dass eine junge Frau gekommen ist, die meine Pflichten übernimmt.»

«Ich weiss nicht, ob ich das kann, ich bin nur die Tochter eines einfachen Kleinbauern.» Anna spürte, dass sie keine Angst haben musste, der Schwägerin ihr Herz zu öffnen. Sie erzählte ihr vom Waldhof in Ramsei, von den engen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen war, von den Sorgen ums tägliche Brot. «Ich bin doch viel zu jung und unerfahren. Wie soll ich dem Ueli eine gute Frau sein und den Mägden eine gerechte Meisterin?» Sie hatte die schmalen Hände Margrit Jacobs in die ihren genommen und hielt sich an ihnen fest wie eine Ertrinkende. Ihre Augen wurden feucht und mit einem Mal flossen Tränen über ihre Wangen. Sie barg ihr Gesicht in den Händen.

Margrit nahm ihr behutsam den Narzissenkranz vom Kopf und fuhr ihr durchs Haar. Immer wieder. Endlich sagte sie: «Das wird sich alles geben. Zunächst regierst du das Haus durch mich. Du wirst mein Auge sein, mein Ohr, mein Mund und meine Hände. Und mit der Zeit wirst du die Verantwortung allein tragen können.»

Anna rührte sich nicht. Aus der Hand der Schwägerin, die jetzt auf ihrem Kopf ruhte, strömte eine Kraft, die sie tröstete und mit Zuversicht erfüllte. Sie wünschte, sie könnte auf Zeit und Ewigkeit hier bleiben, bei dieser Frau, in deren Gegenwart sie sich geborgen fühlte.

Durchs offene Fenster drang das Lachen der Gäste. «Sie feiern deine Hochzeit, Kind», sagte Margrit lächelnd, «meinst du nicht, du solltest langsam hinuntergehen und dich zeigen?» Sie küsste Anna auf die Stirn. «So Gott will, werden wir noch viele schöne Stunden zusammen erleben.»

Die Leute an den langen Tafeln, die bereits den ersten Hunger gestillt hatten, begrüssten Anna mit fröhlichen Zurufen. Sie setzte sich neben Ueli, zögernd, als stünde ihr der Ehrenplatz nicht zu. Der Grossbauer sass still und ernst da. Er hatte noch kaum etwas von den Speisen berührt, die man ihm aufgetragen hatte. Auch aus dem Zinnbecher, der bis zum Rand mit Wein gefüllt war, schien er nichts getrunken zu haben. Ab und zu nippte er an einem Glas Wasser.

Anna aber ass und trank wie alle Gäste, die sich den Bauch vollschlugen, als müssten sie für die nächste Hungersnot, die bestimmt kommen würde, einen Vorrat anlegen. Inzwischen ruhte Uelis Blick, wenn er sich unbeobachtet fühlte, auf seiner jungen Frau, schweifte dann über die ausgelassene Gesellschaft und kehrte wieder zu Anna zurück.

Als am späteren Nachmittag eine Familie Fahrender ihre Instrumente auspackten, wurde die Stimmung ausgelassen. Ueli forderte seine Frau zum Brauttanz auf, um, wie das dem Brauch entsprach, ihre Bindung und Vereinigung zum Ausdruck zu bringen. Später wollte jedermann mit Anna tanzen: der Vater, ihre Brüder, die verschiedenen Verwandten und Bekannten. Der Tanz mit der Braut galt als etwas Besonderes, er brachte Glück. Annas Gesicht rötete sich, sie drehte sich ununterbrochen im Kreis, schaute immer wieder hinüber zu ihrem Mann, der dort sass und sie betrachtete. Wohlwollend? Zufrieden? Er lächelte ihr zu. Einmal schien ihr, als sehe sie Margrits Gesicht am Fenster im ersten Stock. Sie mochte sich täuschen.

Als es dunkel wurde, zündete man Fackeln an. Die Funken sprühten in den nächtlichen Himmel. Christine und Therese, die beiden Mägde, tischten erneut auf: noch mehr Speisen, noch mehr Getränke. Später gab es gedörrte Früchte und süsses Gebäck, bei dem man weder mit Honig noch Zimt und Zucker gespart hatte.

Gegen Mitternacht gab Ueli Jacob den Musikanten ein Zeichen, aufzuhören. Er stand auf, bedankte sich bei den Gästen. Nun wünsche er allen eine gute Heimkehr, fügte er hinzu. Von diesem zurückhaltenden Mann ging eine grosse Autorität aus. Man trank sein Glas leer und verabschiedete sich. Die Mägde räumten die Tische ab und nach kurzer Zeit lag der Auenhof still und verlassen da. Anna stand etwas verloren unter einer der grossen Linden und schaute ihren Eltern und Geschwistern nach, die sich im Leiterwagen Richtung Ramsei entfernten und sie in einer fremden Welt, in einem neuen Leben zurückliessen.

«Es ist Zeit, ins Bett zu gehen», sagte Ueli und berührte sie am Ellenbogen.

Zu Bett gehen. Den ganzen Tag über hatte sie versucht, diesen Gedanken zu verdrängen. Vergeblich. Die Mutter hatte ihr einmal erklärt, nach der Heirat werde sie im selben Bett schlafen wie ihr Mann. Er werde sie «erkennen». Und als sie fragte, was das bedeute, «erkennen», da hatte sie ihr gesagt, sie werde es dann schon sehen.

Wenn sie an einer Kirchweih gewesen war, in Sumiswald oder Langnau, so hatte sie einiges aufgeschnappt. Ein Mann stelle mit der Frau dasselbe an wie der Stier mit der Kuh, der Bock mit der Geiss, der Hahn mit der Henne und neun Monate später bringe sie dann einen Buben oder ein Mädchen zur Welt. Anna war ein Bauernkind. Sie wusste, was gemeint war, und reimte sich zusammen, dass das auch mit ihr geschehen würde. Eines Tages.

Und jetzt war dieser Tag gekommen. Ueli würde sie «erkennen». Im Bett, dort wo sie allein mit ihm war, ihm schutzlos preisgegeben.

Sie war sich gewohnt, ihr Lager zu teilen. Zuhause im Waldhof hatten sie und die jüngere Schwester Lisa im selben Bett geschlafen. Sie hatten dort flüsternd ihre Geheimnisse ausgetauscht. Hatten sich erzählt, wenn ihnen ein junger Bursche im Dorf oder auf dem Viehmarkt schöne Augen machte. Wenn sie Streit hatten, dann versuchten sie, Rücken an Rücken einzuschlafen, möglichst ohne einander zu berühren. Wenn aber eine die andere mit dem Hintern anstiess, einmal, zweimal, dann hatten sie sich kichernd wieder versöhnt. Das Bett war wie ein Nest, der Ort der grössten Intimität und Geborgenheit. Und dort sollte sie jetzt mit einem Mann liegen, den sie kaum kannte.

Ueli schob Anna sanft ins Haus. Er leuchtete ihr mit einer Kerze. Sie stiegen die Treppe hoch und neben der Kammer seiner Schwester Margrit öffnete er eine Tür. «Das ist unser Zimmer», sagte er. Eine bemalte Holzdecke, ein Kachelofen, ein riesiger Schrank, eine Truhe und ein grosses, breites Bett. «Das ist unser Zimmer», wiederholte er, «zieh dich aus und leg dich ins Bett. Ich muss nochmals hinunter.»

Spürte er ihre Angst, ihre Verwirrung? Kaum war er draussen, zog sie sich das Mieder aus, schlüpfte aus dem Rock, löschte die Kerze, die Ueli auf die Truhe gestellt hatte, und legte sich im Hemd zwischen die Decken.

Als er zurückkam, versteifte sie sich, presste die Beine zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hörte, wie er sich entkleidete, wie er niederkniete, flüsterte. Sie verstand nicht, was er sagte. Betete er? Dann stieg er ins Bett. Sie vermied jeden Körperkontakt mit ihm.

Sie lauschte auf seinen Atem, spürte, wie ihr Herz klopfte.

«Gib mir deine Hand», sagte er schliesslich. Zögernd tastete sie nach der seinen, die sich wie ein Dach, das Schutz und Schirm gibt, über die ihre legte. So lagen sie da: Hand in Hand. Anna entspannte sich. Er legte den Arm um ihre Schultern, zog sie an sich, zärtlich. «Du brauchst keine Angst zu haben», sagte er schliesslich, «ich werde nichts tun, wozu du nicht bereit bist. Wir haben Zeit, viel Zeit. Ein ganzes Leben lang.» Sie war erleichtert, rückte näher zu ihm, legte ihren Kopf auf seine Schulter. «Ein ganzes Leben lang», murmelte sie zufrieden. Dann schlief sie ein.

Das Ketzerweib

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