Читать книгу Geh, wilder Knochenmann! - Werner Ryser - Страница 10
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ОглавлениеDer Kalte Markt, der in diesem Jahr auf den 2. November fiel, war der fünfte der sechs Langnauer Jahrmärkte. Aus der ganzen Umgebung strömten die Leute auf den Bärenplatz zwischen der Kirche, der Kramlaube und den beiden Tavernen. Bauern boten ihre Erzeugnisse an, aber auch Hafner, Lismer, Kessler und Scherenschleifer hatten ihre Stände aufgestellt.
Zwei Tage zuvor hatte man im Emmenthaler Blatt lesen können, dass die Gemeinde vier Heranwachsende im Rahmen einer öffentlichen Absteigerung jenen Familien übergeben werde, die für sie das geringste Kostgeld verlangten. Das Interesse unter den anwesenden Bauern war gross. Mit etwas Glück kam man nicht nur zu einem kleinen Nebeneinkommen; noch wichtiger war, dass man für Jahre eine Arbeitskraft erhielt, der man keinen Lohn bezahlen musste.
Eigentlich waren solche Mindeststeigerungen, in denen Kinder feilgeboten wurden, mit dem Armengesetz von 1847 verboten worden. In Langnau und manch anderen Gemeinden des Kantons kümmerte man sich nicht darum und führte eine Bettlergemeinde nach altem Brauch durch.
Die Menge drängte sich neugierig um die Kiste, auf welche die Unglücklichen, einer nach dem andern, steigen mussten. Der Gemeindeschreiber pries sie an wie ein Viehhändler. Anstellig seien sie, folgsam und gewohnt zu arbeiten, schrie er. Die ersten drei, ein Junge und zwei Mädchen, belasteten die Fürsorgekasse kaum. Sie gingen fast gratis weg, denn man konnte davon ausgehen, dass sie die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Kleider mehr als kompensieren würden. Als die Reihe an Simon Diepoldswiler kam, standen sie mit gesenkten Köpfen vor dem Löwen und warteten auf ihre neuen Meister, die das Geschäft in der Gaststube bei einem Schoppen Rotwein feierten.
Der Elfjährige stieg zögernd auf das Podest und bedeckte dann mit seinem rechten Arm die Augen, als könne er so den Gesichtern entrinnen, die ihn anstarrten. Die Bauern hatten ihn zuvor prüfend betastet, ihn in die Wangen und in seine nackten Beine gekniffen. Sie hatten die Muskeln seiner Oberarme gedrückt, und einer hatte sogar seine Zähne sehen wollen. Andere hatten auch das Bündel mit seinen Kleidern, die ihm Esther am Vorabend eingepackt hatte, durchstöbert, um zu sehen, ob er Dinge von Wert mitbringe. Ein paar hatten über ihn gelacht. Er sei ja nur eine halbe Portion, und es werde wohl ein Sündengeld kosten, ihn so weit aufzufüttern, dass er im Stall oder auf dem Feld zu gebrauchen sei.
Ein Verdingmarkt war ein Spektakel, das sich niemand entgehen lassen wollte. Kopf an Kopf standen die Gaffer. Sie feuerten die Bietenden an und quittierten die Behauptung des Gemeindeschreibers, aus Simon werde einmal ein tüchtiger Melker oder Karrer, der die Kosten, die man vorerst für ihn aufbringen müsse, schon bald abgearbeitet haben würde, mit hämischem Gelächter. Auch Kinder waren unter den Neugierigen, Kameraden aus der Dorfschule, die schadenfroh kommentierten, dass aus dem Sohn des reichen Auenhof-Bauern, der die Nase stets hoch getragen habe, ein Verdingbub geworden war. Einer, aus dem bestenfalls einmal ein Knecht würde, vielleicht aber auch ein Vagant, ein Schelm oder noch Schlimmeres.
Auch Jakob war da. Er hatte sich aus dem Pfarrhaus, wo er seit drei Tagen lebte, davongestohlen. Er hatte sich in die vorderste Reihe gedrängt, von wo er zu seinem Bruder hinaufstarrte. «Simon!», rief er laut.
Der Jüngere liess den Arm sinken. Ihre Blicke trafen sich. Seit er am Sonntagabend von Viktor Diepoldswiler aus dem Keller befreit worden war, hatte er mit niemandem mehr gesprochen. Selbst als Esther sich vor dem Schlafengehen an sein Bett setzte, hatte er sich abrupt gegen die Wand gedreht. Unverwandt schauten sich die Brüder an. Jakob, der Simons Verzweiflung und Einsamkeit spürte, liefen Tränen über die Wangen. Er ballte die Fäuste. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Es war der Pfarrer, der sich durch die Menge gedrängt hatte. «Du solltest nicht hier sein», sagte er leise. «Das ist nichts für Kinder.»
Ohne den Blick von Simon abzuwenden, zeigte Jakob auf den Bruder. «Er sollte nicht hier sein!». Er schrie es beinahe. «Kein Kind sollte auf diesem Podest stehen müssen.»
Lukas Amsoldinger schwieg. Er legte den Arm um die Schultern seines Pflegesohns und wurde mit ihm Zeuge, wie Simon Anton Reist zugeschlagen wurde, der im Gohlgraben einen Hof, Hollerbüelhus, besass. Sein Angebot, den Jungen für ein monatliches Kostgeld von fünfundzwanzig Franken zu sich zu nehmen, wurde von niemandem mehr unterboten.
Der Pfarrer, der das Schicksal von Verdingkindern bei den Emmentaler Bauern kannte, wusste, was Simon bevorstand. Anton Reist, der jetzt nach Recht und Gesetz dessen Pflegevater war, würde ihn bis zu seiner Volljährigkeit als Leibeigenen behandeln, als unbezahlten Knecht, aus dem es galt, einen möglichst hohen Profit zu schlagen. Und der Waisenvogt, Moritz Diepoldswiler, würde nichts dagegen unternehmen. Er und ein paar andere mächtige Grossbauern der Gemeinde hatten den Auenhof zu einem Spottpreis unter sich aufgeteilt. Das Geld war in die Fürsorgekasse einbezahlt worden.
Der Pfarrer hatte für Jakob, den er an Kindes statt zu erziehen und zu fördern gedachte, kein Geld verlangt. Esther würde für das, was sie zum Leben brauchte, als Magd dienen. So wurde die Gemeinde für die Versorgung der Geschwister Diepoldswiler lediglich mit fünfundzwanzig Franken pro Monat belastet. Das entsprach etwa dem Gegenwert von einem Sack Kartoffeln.
Auch Esther hatte zugeschaut. Als die Versteigerung begann, war sie vom Stand an der Marktstrasse, wo sie zusammen mit Lena Gemüse und Obst vom Auenhof verkaufte, davongelaufen. Sie war die Treppe zum Hügel hochgerannt, auf dem die Kirche stand. Ausser Atem hatte sie sich, halb versteckt vom Geäst einer grossen Trauerweide, auf das Mäuerchen gesetzt, das den Kirchhof umfriedete. Von dort beobachtete sie, wie unten auf dem Platz ihr kleiner Bruder feilgeboten wurde.
Als schliesslich Anton Reist den Zuschlag erhalten hatte, Simon mit hartem Griff am Arm nahm und zum Fuhrwerk führte, mit dem er nach Langnau gekommen war, glaubte sie, ihr Herz müsse brechen. Sie spürte, wie ihr Kinn zu zittern begann. Esther presste beide Fäuste vor den Mund, um nicht laut loszuschreien.
Inzwischen hatte Reist seinem Verdingbuben befohlen, auf den Leiterwagen zu steigen, vor den ein Pferd gespannt war. Simon sass mit angezogenen Beinen, um die er seine Arme geschlungen hatte, mit dem Rücken zu seinem Meister. Neben ihm lag das Bündelchen mit seinen Kleidern. Er schaute zurück zum Bärenplatz und zum Kirchenhügel, wo Esther auf dem Mäuerchen stand und mit beiden Armen winkte. Wollte sie ihn trösten? Simon rührte sich nicht. Er starrte die Schwester an, bis sie seinem Blick entschwand.