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Viktor Diepoldswiler strahlte eine satte Zufriedenheit aus. Nach vollbrachtem Tagewerk sass er im Auenhof am Kopfende des Tisches. Zu seiner Linken hatten Lena, die Grossmagd, und Esther auf der einen Längsseite Platz genommen, der junge Dölf und der alte Baschi, die beiden Knechte, sassen ihnen gegenüber.

Er bewirtschaftete den Hof nun schon seit über einem Jahr. Später einmal, wenn sich sein Vater aufs Altenteil setzte, würde man ihn mit dem Lindenhof zusammenlegen, und er würde Besitzer eines der grössten Bauerngüter im Tal werden. An Ostern hatte er sich mit Marlis Bieri, der Tochter eines reichen Bauern aus Trubschachen, verlobt. An Weihnachten würde er heiraten. Er würde Nachkommen zeugen und Stammvater eines neuen Zweigs von Diepoldswilers werden.

Das Wetter schien es in diesem Frühjahr 1861 gut mit den Bauern zu meinen. Oben in den Voralpen hatte die Schneeschmelze früh eingesetzt, und nun liessen Sonnentage und warme Regengüsse das Getreide und die übrige Feldfrucht wachsen. Das Gras stand bereits kniehoch. Bald würde man mit der ersten Heuernte beginnen und etwas später das Vieh zur Sömmerung auf die Lüderenalp treiben.

Viktor dankte dem Herrgott für Speise und Trank und kam gleich auf den Mordfall zu sprechen, der in jenem Frühjahr im ganzen Emmental für Gesprächsstoff sorgte. Er fühlte sich dazu besonders berufen, hatte ihm doch sein Vater, der Geschworener am Assisengericht von Burgdorf war, das über das Verbrechen zu urteilen hatte, den Fall in allen Einzelheiten geschildert.

Andreas Schlatter, der Schafberg-Resli aus Signau, ein siebenundvierzigjähriger Hagestolz, war am 15. Februar auf seinem Hof erschlagen worden. Sein Untermieter, der Schuhmacher Jakob Wyssler, der mit seiner Familie auf dessen Hof lebte, meldete der Polizei, die Leiche des Bauern liege auf dem Boden des Tenns. Offenbar sei er von der Heubühne gestürzt. Die Ärzte wollten allerdings nicht an einen Unfall glauben, denn der Schädel des Toten war vollständig zertrümmert. Da man wusste, dass sie mit Schlatter heillos zerstritten waren, wurden Wyssler und sein Freund, Samuel Krähenbühl, der als Knecht beim benachbarten Bauern Jakob Stucki arbeitete, in Haft genommen. Während zweier Monate leugneten die beiden die Tat, bis sie zermürbt von den endlosen Verhören und dem Aufenthalt im Dämmerlicht der engen Gefängniszelle gestanden, dass sie den Mord gemeinsam mit Krähenbühls Meister und Wysslers Frau Verena geplant und begangen hatten.

Während er sich langsam, Bissen um Bissen, mit Milch und Mehl weichgekochtes Gemüse, Kartoffeln, Speck und dazwischen einen gedörrten Birnenschnitz in den Mund schob, kaute und hinunterschluckte, berichtete Viktor, weshalb und wie der Schafberg-Resli umgebracht worden war.

Ein paar Tage vor der Tat hatten Stucki und sein Knecht im Wald des Nachbarn eine Tanne gefällt und auf den eigenen Hof geschafft. Schlatter, dem der Holzfrevel nicht entgangen war, drohte mit einer Strafanzeige. Die beiden Sünder liessen sich von den Wysslers, die bei ihrem Vermieter hoch verschuldet waren, überzeugen, dass allen Beteiligten gedient wäre, wenn man den Geizkragen umbringen würde. Gegen das Versprechen, von der erhofften Beute zweihundert Franken zu bekommen, erklärte sich Samuel Krähenbühl bereit, die Tat auszuführen.

Am 15. Februar traf man sich in Wysslers Wohnung und trank sich Mut an. Dann gingen die drei Männer in den Stall, wo Krähenbühl Schlatter mit einer Eisenstange mehrmals auf den Kopf schlug. Als sich der Bauer blutüberströmt wieder aufrappelte, packten Stucki und Wyssler den Schwerverletzten, schleppten ihn hinauf auf die Heubühne und warfen ihn kopfüber hinunter auf den Boden des Tenns. Anschliessend durchsuchten sie Schlatters Wohnung, fanden aber nicht mehr als ein paar Franken.

«Als sie zurück ins Tenn kamen», schloss Viktor seinen Bericht, «bewegte sich der Totgeglaubte noch immer, worauf ihm Verena mit dem Schuhmacherhammer ihres Mannes das Lebenslicht endgültig ausblies.»

Das Gesinde schwieg beeindruckt, während sich der Meister Milch nachschenkte.

«Da haben sie den alten Mann einfach totgeschlagen wie einen räudigen Hund und zu allem Elend war es ein Weib, das ihm den Rest gegeben hat», sagte Dölf endlich. Es klang beinahe anerkennend, und so fügte er schnell hinzu: «Das hat er nicht verdient, der Schafberg-Resli. Ich hoffe, sie wird ihre gerechte Strafe erhalten.»

Esther fragte sich, ob Dölf, der sich viel auf seine Männlichkeit zugutetat, es nicht in Ordnung fand, dass Schlatter letztlich von Frauenhand hatte sterben müssen. «Die drei Männer haben sich ebenso schuldig gemacht wie Verena Wyssler», empörte sie sich.

Der Melker gab sich nicht geschlagen. «Ihr Mann, Stucki und Krähenbühl haben lediglich versucht, ihn umzubringen. Ermordet hat ihn das Weibervolk», trumpfte er auf. «Das ist doch vor dem Gesetz ein Unterschied, nicht wahr, Meister?»

Viktor mochte es, wenn ihn das Gesinde bei Differenzen nach seiner Meinung befragte. Das gab ihm das Gefühl, auch in Dingen jenseits der täglichen Arbeit auf dem Hof die letzte Instanz zu sein. Er lehnte sich im Stuhl zurück und legte die Stirn in Falten. «De jure mag das, was Dölf sagt, korrekt sein, de facto hat aber zweifellos Esther recht.» Er machte eine Pause und schielte zu seiner hübschen Base. Realisierte sie, dass ihm lateinische Begriffe wie de jure und de facto ganz natürlich über die Lippen flossen? Obwohl er bald heiraten würde, gefielen ihm die fraulichen Rundungen der inzwischen siebzehnjährigen Verwandten, die auch seine Jungmagd war. «Mein Vater meint, dass sie alle dieselbe Strafe bekommen werden.» Er fuhr mit der Kante der rechten Hand über seine Kehle.

«Rübe ab!», kommentierte Baschi, der Karrer, der sich bis dahin ausschliesslich dem Essen gewidmet hatte.

«Auge um Auge, Zahn um Zahn», bestätigte der Meister.

«Jesses», entsetzte sich Lena, «vier Leben für eines!»

«Die irdische Gerechtigkeit muss dem göttlichen Gesetz Genüge tun.» Viktor geriet ins Moralisieren. «Angefangen hat alles mit Gier und Neid. Die Wysslers, diese Hungerleider, wollten Schlatters Geld. Stucki und Krähenbühl stahlen ihm Holz. Jede böse Tat bringt eine neue hervor, und am Schluss stehen Mord und Totschlag.» Er schaute Esther bedeutungsvoll an. «Du sollst nicht stehlen, spricht der Herr.»

Sie erwiderte seinen Blick und fragte sich, ob der Vetter wusste, dass sie Woche für Woche einen Raubzug in die Speisekammer unternahm, um das, was sie entwendete, ihrem kleinen Bruder zuzustecken.

Geh, wilder Knochenmann!

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