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Kinderschänder
ОглавлениеEin Schandfleck - das sagten die einen. Andere wunderten sich nur über die Wildnis und darüber, in was für kleinen Häuschen Menschen wohnen können. Wieder andere suchten nach einem Namen, um dort anzufragen, ob sie das Grundstück kaufen könnten.
Bleiben wir beim Schandfleck. Ehemals war es der ganze Stolz eines Maurermeisters. Ein Fluchtort, eine Hoffnung.
1941 wurden große Flächen Fichten- und Kiefernwald gefällt. Man brauchte das Holz dringend für kriegswichtige Projekte. Wilhelm Schäfer war erschüttert, als er mit seiner Frau den beliebten Forstweg entlang wanderte. Sie suchten hier Erholung von der Stadtluft, vom Fliegeralarm, Entspannung auch vom unguten politischen Geschehen. Hier konnten sie miteinander offen reden, ohne Angst, belauscht zu werden. Nun waren viele Hektar Wald verschwunden. Ein amtlicher Zettel an einer schwarzen Tafel lud Interessenten ein, Grundstücke zu erwerben für Schrebergärten, zum Anbau von Gemüse und Anlage von Obstgärten zur Sicherung der Volksgesundheit. Der Preis: 10 RM/Quadratmeter. Mindestfläche 10 Hektar = 1000 Quadratmeter.
Wilhelm und Elfriede waren kurz entschlossen. Das war schon immer ihr Traum, hier draußen, südlich der Großstadt, in Waldesnähe und noch dazu fast am Ufer eines schnell dahin fließenden Flüsschens ein kleines Gartenhäuschen zu besitzen, sonntags hinauszufahren, ein bisschen zu graben, zu pflanzen, zu säen, aber auch im Liegestuhl die gute, würzige, harzgetränkte Waldluft und den ungetrübten Sonnenschein zu genießen, ohne den Lärm der Straße, an der sie in der Stadt wohnten. Immerhin mietfrei in einem vierstöckigen Renditehaus, das Vater Schäfer einst erbaut hatte.
Tausend Reichsmark, das war zwar viel; aber wenn man mietfrei wohnt, kann man Mark für Mark zurücklegen. Zuerst dachten sie an einen KdF-Wagen, einen Volkswagen, für den sie ansparen wollten. Wegen des Krieges aber verzögerte sich alles. Statt Personenwagen wurden jetzt Kübelwagen für die Front gebaut.
Wilhelm und Elfriede langten tief in die Tasche, legten alle ihre Ersparnisse zusammen, verkauften auch einige Papiere, die Vater Schäfer im Safe bei der Bank liegen hatte. Dann erwarben sie gleich zwei Parzellen zu je 100 Hektar. Später erschien ihnen das wie eine göttliche Eingebung.
Später - das war 1944 nach dem schrecklichen Bombenangriff, als der väterliche Besitz von einer Sprengbombe fast bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Es gab Hunderte von Toten. Auch im eigenen Haus, weil manche so leichtsinnig waren, nicht in den Luftschutzkeller zu gehen. Aber auch die, die im Keller waren, als das Haus schwankte und zusammenkrachte, als sich Schutt und Asche über den Keller legten, Staub und Qualm durch alle Ritzen hineingedrückt wurden und alle Ausgänge versperrt waren, erlitten lebensbedrohliche Vergiftungen und unauslöschliche Traumata, bis sie schließlich von Helfern aus der Nachbarschaft aus dem nachtschwarzen Verließ gerettet wurden. Damals war der Franz, ihr einziger Sohn, gerade mal 5 Jahre alt.
Wilhelm wurde trotz einer Schulterverletzung, die ihn vor dem Einsatz an der Front bewahrte, für den „Wiederaufbau“ dienstverpflichtet, obwohl an Wiederaufbau nicht zu denken war; nur an die Beseitigung von Schutt und die Absicherung von Straßen gegen herabstürzende Trümmer.
Wer ausgebombt war, konnte einen Antrag auf Errichtung eines Behelfsheimes stellen, sofern er ein entsprechendes Grundstück im Umland verfügte. Wer sich gleichzeitig bereit erklärte, in dieses Behelfsheim auch andere, ebenfalls ausgebombte Bürger vorübergehend aufzunehmen, konnte mit bevorzugter Zuteilung rechnen. Behelfsheime waren Baracken, die - auf LKW - angeliefert, innerhalb kurzer Zeit aufgebaut werden konnten - und, sofern entsprechende Anschlüsse zur Verfügung standen, auch mit Strom und Wasser versorgt wurden. Für den Strom konnten am Forstweg ziemlich schnell Leitungen gelegt werden. Mit dem Wasser musste man sich behelfen, was hieß, dass man es beim nächsten an die Leitungen und Kanalisation angeschlossenen Haus, hier in rund 1 km Entfernung holen musste. Für das Klo wurde ein Häuschen mit Herz im Garten aufgestellt.
Wilhelm und Elfriede bekamen ziemlich schnell eine Zuteilung; auch, weil Elfriede dringend eine Luftveränderung benötigte. Ihre Lunge hatte in der Bombennacht zu viele Schadstoffe aufgenommen, so dass sie ständig hüstelte. Nun zahlte sich aus, dass die beiden gleich zwei Parzellen gekauft hatten. Auf die eine kam das Behelfsheim, das sie zunächst mit einem Mieterehepaar teilten. Dann aber verkauften sie diesen Notbehelf plus Grundstück an ihre Mitbewohner, die allzu gern ihre Enkel aus der bombengefährdeten Stadt mit nach draußen nehmen wollten. Für den Erlös entstand nun ein richtiges kleines Häuschen auf dem anderen Grundstück, hübsch aus Stein, anderthalbstöckig, oben mit einem Holzbalkon vor dem Schlafzimmer. Unten mit einem für damalige Verhältnisse großen Wohnzimmer, einer Küche und einem Allerweltszimmer, in dem der Franz seine Schularbeiten, Elfriede ihre Nähereien und das Bügeln erledigen konnten. Alles war halb unterkellert. Als Maurermeister konnte Wilhelm viele Arbeiten selbst übernehmen. Überdies hatte er „Vitamin B“, also Beziehungen, wie er an das so knappe Baumaterial gelangen konnte. An jedem Wochenende wuchs der Bau. Bald war „Hebauf“, also Richtfest. Gefeiert wurde jedoch nur heimlich; denn man wollte nicht alles an die große Glocke hängen. Von den überflüssigen Balken und Brettern entstand noch ein Unterstand für die Fahrräder und einen Bollerwagen.
Elfriede starb kurz nach Kriegsende. Sie hatte sich von ihrem Leiden nie erholt. Franz ging noch kurz auf die Realschule, bis in der Nähe ein Friseursalon eröffnet wurde und ein Lehrling gesucht wurde. In die Fußstapfen seines Vaters wollte er nicht treten. Er wollte lieber was mit Menschen zu tun haben. Was er natürlich nie jemandem verriet: am liebsten mit Frauen, mit Mädchen; denn er beneidete sie um ihre langen Zöpfe, um die langen Haare. Seiner Freundin, der Tochter einer Zugehfrau, kämmte er mit zärtlicher Ausdauer das bis auf die Hüften herab fallende Blondhaar, ohne zu ziepen. Und die dabei ausgekämmten Haare warf er nicht einfach weg, sondern sammelte sie in einer alten Keksschachtel, die er sorgsam versteckt hielt. Bald lernte er, wie er ihr für Festtage einen schmucken bayerischen Ringzopf flechten und legen konnte.
Gisela erkor er dann auch zu seiner Frau; denn er hätte es nicht ertragen, dass jemand anderer jemals ihre Haare auch nur berühren würde. Leider blieb ihre Ehe kinderlos.
Der Forstweg verwandelte sich in den Aufbaujahren nach dem Krieg total. Zunächst wurden „die Sparten verlegt“, eine komische Bezeichnung für Wasser, Abwasser und Gas. Vorher war schon mal asphaltiert worden. Also musste man alles noch einmal wieder aufreißen. Diese Wunden zeigen sich bis heute. Auf ihnen bilden sich in jedem Winter Frostaufbrüche und Schlaglöcher, die im Frühjahr mit bröckeligem Teersplitt notdürftig repariert werden. Für die großen Bauzuliefer-LKW eine Leichtigkeit, sie zu zermahlen. Aus den Behelfsheimen wurden kleine Villen; einige von ihnen bald wieder abgerissen, wenn die gealterten Eigentümer ins Pflegeheim abgeschoben und die Nachkommen ihre repräsentativen Traumvillen erstehen ließen. Mit Pool, Sauna und Vierfach-Garagen.
Dazwischen nimmt sich jetzt, nach vielen Jahren, das Häuschen der Schäfers sehr, sehr armselig aus. Eben jener Schandfleck! Es ist unbewohnt. Auf der Frontseite hatte man großflächig Putz abgeschlagen. Die Mauern waren umgeben von Wildwuchs, einem halb verfaulten Zaun, einem inzwischen schiefen Radelunterstand, ohne Räder, mit allerlei Geraffel. Hinter dem Zaun sammeln sich leere Schnaps- und Bierflaschen, Scherben und Überbleibsel von Drogenpartys. Ein mutwillig zertrampelter Supermarkt-Einkaufswagen ragt aus dem fast meterhohen Gemisch von Unkraut und vergilbten Gras heraus. Aus den einst mit vom Mörtel abgeklopften Ziegelsteinen befestigten Weg, die Wilhelm und Franz aus Ruinengrundstücken auf dem Bollerwagen kilometerweit herangekarrt hatten, wächst Gras. Die Steine sind mit Moos überzogen. Der Holzbalkon dürfte äußerst baufällig sein. Das aber macht nichts; denn das Häuschen steht seit Monaten leer. Für alle Eigentümer der Prachtvillen ein Ärgernis; denn die darin wohnenden Marder zerbeißen ihnen in die Kabel in ihren prächtigen Limousinen und Geländewagen. Disteln und anderen Unkräuter verbreiten ihre Samen in die äußerst gepflegten Rasenteppiche vor den weißen Terrassen. Die Beschwerden stapeln sich im Rathaus.
Man wird vertröstet, der neue Eigentümer werde dort in Kürze einen Zweispänner errichten; nicht gerade zur Freude der Villenbesitzer.
Wie kam es, dass aus dem Traum-Häuschen der Schäfers ein Schandfleck wurde? Davon erzählt diese Geschichte!