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Der Kinderschänder

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Als Franz mittags von der Arbeit kam, saßen die Kinder schon auf der Treppe. Mehr als sonst. Natürlich wollten sie wissen, wo Frau Schäfer ist. Und ob sie denn auch bleiben dürften, wenn Frau Schäfer nicht zuhause ist. Sie käme doch sicher bald wieder. Und gerade jetzt vor den Zeugnissen, da wäre es besonders wichtig für sie zu lernen.

Er ließ sie alle herein, und sie fanden sich wie von selbst zurecht. Jede und jeder nahm am großen Tisch Platz. Sie packten ihre Hefte und Bücher aus. Die Albanerin holte Gläser aus dem Schrank und schenkte allen aus einer Karaffe Wasser ein. Nur Lernen, vor allem das Rechnen, das fiel ihr unendlich schwer, weshalb sie schon zwei Klassen hatte wiederholen müssen. Im Sozialverhalten verdiente sie eine glatte Eins.

Also lernte er jetzt mit ihnen. Korrigierte ihre Fehler. Ergriff manchmal eine Hand, um sie auf das richtige Feld zu lenken. Und streichelte schon mal einen Kopf, wenn eine Rechenaufgabe korrekt gelöst war. Auch die langen schwarzen Haare von Yasemin.

Ach, sie brauchten so lange, und Franz war ungeduldig, wollte er doch zu seiner Frau in die Klinik fahren. Eine schier endlose Fahrerei, erst mit dem Rad zur S-Bahn, dann zweimal umsteigen. Also übergab er Yasemin den Schlüssel. Der Albanerin mit dem auch für ihn unaussprechlichen Namen sagte er, sie solle alles wieder in Ordnung bringen und auch für Ordnung sorgen. Alle versprachen, sich mustergültig zu verhalten und spätestens um halb drei das Haus zu verlassen, die Tür abzuschließen und den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen.

Aber was machen Kinder, wenn sie mal allein in einem Haus sind? Sie stöbern. Sie öffnen mal Türen, die ihnen bisher verschlossen waren. Also fanden sie auch den Friseurstuhl und alles, was sie sonst bei einem Friseur gewohnt waren: Scheren, Rasierapparate, Kämme, Spangen und Klemmen, Umhänge, Haarsprays und Duftwässer. Ach wie schön, nach den Schularbeiten mal Friseur spielen zu können. Sich im Stuhl höher pumpen zu lassen und wieder runter gelassen zu werden. Mal sich mit der Schere ein bisschen abzuschnippeln. Sich ein bisschen mit Düften besprühen. Da geht schon mal der Blick auf die Uhr verloren. Bis es klingelte. Bis die erste Mutter vor der Türe stand. Als dann alle Kinder schnell hinaus drängten und die kleine Treppe hinunter sprangen, fragte sie natürlich nach Frau Schäfer.

„Ja, die Frau Schäfer, die ist krank. Die ist in einem Krankenhaus!“

„Und Herr Schäfer hat uns geholfen! Der ist vielleicht nett! Da kriegt man immer eine Belohnung, wenn man was richtig gemacht hat!“

„Ja, und jetzt ist er schon eine Stunde weg, zu seiner Frau gefahren. Das dauert lange; denn die haben ja kein Auto!“

„Dann wart ihr ganz allein im Haus?“

„Ja, wir haben auch alles wieder in Ordnung gebracht. Alle Gläser gespült.“

„Und dann haben wir noch Friseur gespielt, weil der Herr Schäfer, der hat nämlich einen richtigen Friseurstuhl. Der ist nämlich Friseur.“

Yasemins Mutter hörte dies alles nicht gern. Ein Mann, noch dazu ein Ungläubiger? Mit ihrer Tochter in einem Raum?

„Hat er dich angefasst?“ wollte sie wissen?

„Ja, ein bisschen, weil ich meine Rechenaufgaben so gut und sauber gelöst hatte!“

So bahnte sich die Katastrophe an. Erst ganz sacht. Erst so, dass Yasemin nicht mehr kam. Dann kam auch die kleine Albanerin nicht mehr. Nur noch die Buben zum Fußballspielen. Aber niemand mehr zu den Schularbeiten. Franz, der sich nach seiner Arbeit besonders schnell nach Hause verabschiedete, um die Kinder zu betreuen, hatte schließlich niemanden mehr zu betreuen. Dafür brodelte die Gerüchteküche im Ort.

„Haben Sie schon gehört, der Herr Schäfer, das sind die, die gegenüber der Schule wohnen, in so einer kleinen verwahrlosten Bude, der hat sich an Schülerinnen vergriffen!“

„Er lockt sie mit Limo und Schokolade in sein Haus!“

„... ja, und seine Frau, die Arme, die hat ihn ja schon lange verlassen. Was der jetzt so allein treibt?“

„Ja, und heimlich betreibt er noch einen Friseursalon. Zuhause. Natürlich schwarz!“

„Es sind ja komische Leute, die da ein und aus gehen!“

„Die gehören hier eigentlich gar nicht hin. Schauen sie sich das armselige Häuschen an! Und statt Blumen nur Rasen. Nicht mal ein Auto sollen die haben!“

„Ja, es ist wirklich ein Schandfleck hier! Wie die sich das haben leisten können, hier zu wohnen! Bei den Grundstückspreisen.“

Als einige Tage später Franz Schäfer vom Krankenhaus kam und von der S-Bahn nach Hause radelte, wartete vor seinem Haus die Polizei.

„Herr Schäfer?“

„Ja, was ist? Hat mein Licht am Fahrrad nicht funktioniert?“

„Nun tun Sie doch nicht so unschuldig. Es liegen mehrere Anzeigen gegen Sie vor wegen Kindesmissbrauchs. Wir müssen Sie bitten, mit uns mitzukommen. Bitte holen Sie sich ein paar Sachen!“

„Aber das muss .... das ist eine Verleumdung, das sind Lügen, lauter Lügen! Ich habe nie einem Kind etwas zuleide getan!“

„Das sagen alle! Herr Schäfer, das festzustellen, wird eine Sache des Gerichtes sein. Bitte folgen Sie unseren Anweisungen!“

Die Beamten folgten ihm ins Haus und ließen ihn nicht aus den Augen. Franz zitterte am ganzen Körper. Er war noch erschöpft vom Besuch bei seiner Frau. Es ging ihr gar nicht gut. Sie war so bar jeglicher Hoffnung. Und jetzt das?

„Darf ich denn wenigstens morgen wie versprochen zu meiner Frau in die Klinik fahren? Ich muss ihr ein paar Sachen bringen!“

„Das wird wohl nicht möglich sein! So schnell lässt sich eine so schwerwiegende Anzeige nicht erledigen. Wir sind zwar nicht der Staatsanwalt. Aber auf ein paar Tage oder Wochen müssen Sie sich einstellen. Wer weiß - vielleicht auf Jahre!“

Franz Schäfer war nicht in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Er irrte in seiner Wohnung umher. Öffnete die Tür zur Nebenkammer.

„Ach, was haben wir denn hier? Einen nicht angemeldeten Friseursalon? Schwarzarbeit? Na, da kommt ja einiges zusammen!“

Mit Blaulicht fuhr der Isar-Wagen davon.

Eine Nachbarin hörte man sagen: „Na endlich ist das Pack weg! So eine Nachbarschaft, die kann man ja niemandem zumuten! Und der Lärm von den Kindern! Fußballspielen!“

Am nächsten Tag war die Nachricht im Ort rum: „Der Herr Schäfer ist wegen Kindesmissbrauchs in Haft! Endlich! Seine Frau hat sich das Leben genommen!“

„Da wird jetzt hoffentlich eines der letzten guten Grundstücke frei!“ jubelte ein Makler.

Beim ersten Haftprüfungstermin nach zwei Tagen wurde entschieden, dass Franz Schäfer bis auf weiteres in Untersuchungshaft zu belassen sei, weil der Beschuldigte seine Wohnstätte in unmittelbarer Nähe der durch ihn gefährdeten Kinder habe und somit eine Gefahr von ihm ausgehe.

Als es ihm endlich gelang, einen Anwalt zu finden, der ihn zu vertreten bereit war, wurde ihm eröffnet, die Haft könne vorübergehend ausgesetzt werden, wenn er seinen Wohnsitz in einen anderen Ort verlegen würde. Er müsse sich überdies verpflichten, sich nicht in der Nähe von Schulen oder Kindergärten aufzuhalten. Und er müsse sich alle zwei Tage bei einer Polizei-Dienststelle melden.

Franz suchte sich eine Pension in der Nähe des Sanatoriums, in dem seine Frau betreut wurde. So konnte er einen Grund vorweisen, weshalb er für eine gewisse Weile dort zu bleiben beabsichtige.

Seiner Frau erzählte er nichts von der Polizei, von seiner Verhaftung und den Vorwürfen. Er wollte sie nicht zusätzlich belasten. Der behandelnde Arzt eröffnete ihm überdies, dass die Kinderlosigkeit mit größter Wahrscheinlichkeit nicht an der Unfruchtbarkeit seiner Frau gelegen habe. Das habe man ihr gesagt, damit sie den seelischen Heilungsprozess nicht ständig durch neue Selbstvorwürfe vereitle.

Eines Abends aber, als es schon dunkel war, fuhr Franz zurück zu seinem Haus.

Als er aber des Häuschens ansichtig wurde, durchfuhr im Schrecken und Entsetzen: Jemand hatte quer über die ganze Vorderseite „Kinderschänder“ gesprüht. In derselben Sekunde wusste Franz Schäfer, dass er wohl nie wieder in das Haus seiner Eltern zurückkehren könne. Nie wieder! Nie! Nie! Es würde von nun an auf immer und ewig das Kinderschänderhaus sein. So lange es nicht von einem Bagger weggeräumt würde.

Franz war drauf und dran, umzukehren. Er war drauf und dran, durchzudrehen und schreiend in den Wald hineinzulaufen. Zu laufen, zu laufen, zu laufen - bis er nicht mehr laufen könne und zusammenbräche. Tot oder wie - das war ihm egal.

Dann besann er sich doch. Er wollte wenigstens noch ein paar liebgewordene Sachen bergen. die ihm wertvoll schienen, Fotoalben, Dokumente vom Haus, vom Grundstück, von den Banken. Noch das Wasser abstellen und die Heizung, alle Sicherungen rausdrehen. Den Inhalt des Kühlschrankes entleeren. Weniges mitnehmen, vieles in den Müll. Im Briefkasten fand er noch einen Haufen Papier, Briefe und Reklame zusammengequetscht und nass. Die Briefe nahm er an sich. Im Dunkeln konnte er nichts entziffern.

Dann lief er davon. Schaute sich noch einmal um und betete „Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann lass einen Blitzstrahl hinunterfahren. Zünde unser Häuschen an, damit sich niemand mehr daran vergreife. Aber kein Blitz fuhr hinunter. Das Haus, seine Kindheit und sein Glück verschwanden in der Finsternis.

Kinderschänder

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