Читать книгу Kinderschänder - Werner Siegert - Страница 6
Jutta
ОглавлениеFranz Schäfer war nervlich am Ende. Als er schon den halben Weg zur S-Bahn entlang gestolpert war, jeder, der ihn gesehen hätte, wäre sich sicher gewesen, einen Betrunkenen torkeln zu sehen, bog er links ab und tauchte kurz danach im tiefdunklen Wald unter. Erst hier traute er sich, sein Leid in die Welt zu schreien. Eine Bank, einst der Lieblingsplatz seiner Eltern, feucht und voller Moos, bot ihm Halt. Er begann zu heulen wie ein kleines Kind. Was hatte sein Leben noch für einen Sinn? Er hatte es zu nichts gebracht. Beruflich nicht. Nicht mal das Haus selbst erbaut. Seine Frau ins Unglück gestürzt. Und nun als Kinderschänder verfemt. Kraftlos rutschte er hinab ins nasse Gras. Willenlos. Wäre es doch leichter zu sterben! Zu erfrieren! Todkrank dahin gerafft zu werden.
Lange lag er dort. Die kalte Nässe kroch durch seinen Mantel, durch seine Kleidung, seine Schuhe. Oh wären es doch 20 Grad Kälte, dann käme der Tod schneller herbei, dachte er. Plötzlich spürte er etwas Warmes in seinem Gesicht, ein Hecheln drang an sein Ohr, dann ein Bellen, ein aufgeregtes Bellen, ein Stupsen, so, als wolle der Hund mit ihm reden. Da trat eine Frau auf ihn zu.
„Sind Sie verletzt? Oh Gott, wie sehen Sie denn aus? Wer hat Sie denn so zugerichtet?“
Der Hund begann heftig erregt um ihn herum zu tänzeln.
Franz Schäfer wagte kaum aufzublicken. Oh ja, mit einem Hund hätte er jetzt sprechen wollen; aber mit einem Menschen? Mit einer Frau? Er, der Kinderschänder?
„Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
„Nein, bitte, lassen Sie mich hier liegen. Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr!“
„Sagen Sie mal, sind Sie nicht der Herr Schäfer? Der Mann von der Mama Schäfer? Bei der wir oft in der großen Pause Limo getrunken haben?“
„Ja, Mama Schäfer .... sie ist krank auf den Tod. Und ich - geben Sie sich nicht mit mir ab, nicht mit einem Kinderschänder .... man hat mich verflucht .... ich ....“
Ihm versagte die Stimme.
„Oh Gott, sie werden doch jetzt nicht sterben, nicht sterben. Schnell, ich rufe einen Arzt. Ich rufe meinen Arzt. Oder den Notarzt!“ Sie fingerte in ihren Taschen, um das Handy zu finden.
„Nicht .... den Notarzt .... liebe Frau .... ich darf nicht hier sein .... Polizei nicht .... ich wohne nicht mehr hier .... ich darf hier nicht mehr wohnen .... ich bin verfemt, hören Sie, verfemt!“
„Dann nehme ich Sie jetzt mit zu mir nach Hause! Können Sie gehen? Aufstehen?“
Kräftig packte die Frau zu, bis er sitzen und sich an der morschen Bank abstützen konnte. Nach einer Pause richtete er sich auf. Aufgeregt umschwänzelte ihn der kleine Hund, als er Schritt für Schritt am Arm dieser fremden Frau durch die Nacht stapfte, bis sie zu einem größeren Mietshaus kamen, unweit vom Wald.
„Ich bin die Jutta Schrader! Vielleicht erinnern Sie sich noch an ein Mädchen mit langen Zöpfen - obwohl, Sie waren ja tagsüber nie zuhause. Ihre Frau, sie war wie eine Mutter zu uns, immer so besorgt!“
Als er sein mit grüner Moosschmiere verdrecktes Gesicht über seinem nassen, schmutzverklebten Mantel sah, erschrak er. Es war ein Gespenst, das ihm da aus dem Spiegel entgegenblickte.
„Ich muss hier weg! Muss nach Hause!“
„So können Sie nicht weg. Wo ist denn jetzt Ihr Zuhause?“
„Ich habe keines mehr. Weit weg - in einer billigen Pension ....“
„Jetzt mache ich uns erst einmal einen Tee. Sie müssen sich aufwärmen. Dann bringe ich Sie, auch wenn es weit ist .... warum dürfen Sie nicht hier sein?“
„Ich habe nur Haftverschonung. Muss Bedingungen einhalten. Darf nicht an meine bisherige Wohnstätte. Von mir gehe Gefahr für die Kinder aus, hat der Haftrichter gesagt!“
„Papperlapapp! Was ist denn das für ein bodenloser Blödsinn? Hat Sie jemand angezeigt?“
„Ja, es lägen mehrere Anzeigen gegen mich vor, wegen Kindesmissbrauchs!“
„Von wem? Wer soll Sie angezeigt haben?“
Mit einem Küchentuch wischte er sich das Moos aus dem Gesicht. Der kleine Hund hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt und knurrte leicht.
„Ich weiß es nicht. Das haben die mir nicht gesagt. Das würde ich schon früh genug erfahren!“
„Das ist ja bodenlos! Da müssen Sie sich einen guten Anwalt nehmen!“
„Ich habe einen; aber manchmal habe ich den Eindruck, der ist eher gegen mich! Kindesmissbrauch - da ist man geächtet. Da fasst einen auch ein Anwalt nur mit der Kohlenzange an!“
„Dann kündigen Sie ihm das Mandat auf! Ich kenne eine sehr gute Anwältin. Ich bin mit ihr befreundet. Wenn Sie wollen, spreche ich sie an. Morgen schon! Die kann wirklich was!“
„Oh je, mein Koffer! Ich muss schnell nochmal zu der Bank. Ich muss da meinen Koffer stehengelassen haben!“
Frau Schrader stellte den Herd ab, warf sich ihre Jacke über, half ihm in den schmierigen Mantel. Für den Hund war es das reine Vergnügen, noch einmal Gassi zu gehen. Gottlob fanden sie den Koffer unter der Bank. Franz begann neben dieser Frau wieder einen Funken Hoffnung zu schöpfen.
„Warum tun Sie das für mich?“
„Warum hat sich Ihre Frau damals so um uns gekümmert? Das war doch auch nicht selbstverständlich! Ich weiß noch, wie sie mir meine Zopfschleife neu gebunden hat. So was vergisst man nicht! - Und Sie haben keinen Verdacht?“
„Nein, ich habe wirklich keine Ahnung. Ich bin - Ehrenwort! - keinem der Kinder zu nahe gekommen. Ich habe nur versucht fortzusetzen, was meine Frau für die paar Kinder getan hat, bevor sie in die Klinik kam! Vielleicht steht ja irgendwas in einem der Briefe, die ich aus dem Kasten geholt habe.“
Franz durchsuchte den Packen feuchtes Papier. Ja, da waren ein paar Briefe von Leuten, die er nicht kannte. Rasch öffnete er einen, den Namen kannte er nicht, aber er war von jemandem, der in derselben Siedlung wohnte:
„Herr Schäfer, da Sie jetzt nicht mehr hier wohnen bleiben können, interessiere ich mich für Ihr Grundstück. Rufen Sie mich an, ich mache Ihnen ein gutes Angebot. Ich habe mir schon das Katasterblatt besorgt und den Grundbuchauszug. Es grüßt Erich Gschwandtner.“
Den Text hatte er halblaut vorgelesen.
„Das ist ja unerhört! Ich kenne diesen Typen. Ein widerlicher Kerl. Vielleicht weht ja daher der Wind! Die wollen Sie rausekeln! Die sind scharf auf das Grundstück! Wahnsinn!“
In einem anderen Umschlag war nur eine Geschäftskarte eines Maklers. Hinten drauf notiert: Sie werden bald professionelle Hilfe benötigen beim Verkauf Ihrer Immobilie.
„Klar, Herr Schäfer, Sie sind ja eigentlich ein ganz reicher Mann. Wieviel Quadratmeter hat das Grundstück?“
„Tausend!“
„Du meine Güte, das sind ja nach den heutigen Preisen vierhunderttausend Euro, die Sie mindestens erlösen könnten, falls Sie überhaupt verkaufen wollten. Aber an diese Typen würde ich nun gerade nicht verkaufen. Diese Briefe würde ich meiner Freundin der Anwältin, in die Hände drücken, und natürlich Anzeige gegen Unbekannt stellen wegen Rufmord, Verleumdung und Hausfriedensbruch!“
Jutta Schrader fuhr den Franz durch die finstere Nacht bis zu seiner Pension. Zugleich bot sie ihm an, jetzt laufend seinen Briefkasten zu leeren und dafür zu sorgen, dass das Häuschen nicht unbewohnt wirkt. Sie wollte die Blumen gießen. Die Läden schließen und öffnen, soweit es ihr zeitlich ausginge. Da sie ja ohnehin mit dem Hund spazierengehen müsse, könne sie auch diesen Weg nehmen.
Wortlos, aber unendlich dankbar, übergab er ihr die Hausschlüssel.
In der Pension fand Franz einen Zettel. Er war unter der Tür durchgeschoben worden:
„Bitte sofort in die Klinik kommen! Sobald Sie nach Hause kommen! Auch spät nachts!“