Читать книгу Cyril oder die Spuren der Liebe - Werner Siegert - Страница 3
Grüß Gott !
ОглавлениеIch hatte nicht gedacht, dass es so schnell klappen würde. Heute erst war meine Anzeige in der Zeitung erschienen, ganz klein, unter "Vermischtes", und nun sollte es schon in einer knappen Stunde losgehen.
Aber am besten stelle ich mich erst einmal vor: Cyril Ronikoff. Sie tippen auf Russland oder Bulgarien? Nicht auf Kanada? Frankreich? Oder Österreich? Also, von dort überall kommen meine Vorfahren. Ich verlebte meine frühe Kindheit als Handgepäck, schaukelnd, bis ich irgendwo, in einem Auto, Flugzeug oder Zug abgestellt wurde. Eigentlich ist damit schon alles über mich gesagt. Mein Vater opferte sein Leben dem diplomatischen Dienst, meine Mutter dem Kisten- und Kofferpacken, dem Umziehen, dem Ein- und Ausschulen. Und meiner Edukation. Außerdem musste sie ständig mit anderen Münzen umgehen lernen und das Wichtigste in verschiedenen Sprachen einkaufen können, sofern ihr nicht eine Paola oder Carenne - an die beiden erinnere ich mich am allerliebsten - diese Alltäglichkeiten abnahm.
Das "Handgepäck" musste immer mit, blieb in allen Schulen Exot, lernte von all diesem gescheiten Kram nur Bruchstücke. Überall ergatterte ich ein Puzzlestück an Wissen und Erkenntnis, aber leider jeweils aus einem anderen Karton. Dass ich die Teile aus Indien, Singapur, Sydney, Washington und Wien dennoch einigermaßen zusammenzufügen lernte, verdanke ich meiner Mama. Sie war meine liebste Lehrerin. Zunächst, weil ich gar zu gern auf ihrem Schoß saß und meinen Kopf an ihren Busen schmiegte. Später habe ich mich ganz und gar in sie verliebt. Sie war das, was man ein rassiges Weib nennen mochte. Aus dem slawischen Völkerverschnitt war eine schwarzhaarige Schönheit erblüht, die ich mir früh zur Geliebten erkor, zumal sie in meinen Augen mit ewiger Jugend gesegnet schien. Mochten Paola und Carenne dem kaum Vierzehnjährigen unvergessliche Lektionen in wollüstigen Umarmungen gewähren und so den Biologieunterricht auf sehr angenehme Weise ersetzt haben, zwischen ihren Schenkeln und Brüsten übte ich Verrat, denn mein Sinnen und die Sinnlichkeit - mag man mich schelten und der Hölle überantworten - galt nur Mama.
Nun ja, das alles sind bereits zuviel der Worte über mich. Wen wundert es, dass aus dem früh verführten Herum-Zögling kein sonderlich normaler Bürger wurde, mit einem normalen Beruf und normalen Tageslauf. Unstet, wie ich Kindheit und Jugend verbrachte, blieben meine Exkursionen in das Erwerbsleben. Zwar geizte Fortuna nicht mit Erfolgen, doch lockte stets das Neue, das Andere. Routine strangulierte mich. In meinen "crazy forties", der Manneskrise in der Lebensmitte, erlag ich der Versuchung, Romanschriftsteller zu werden, ein höchst erfolgreicher, versteht sich. Und mein Erstling stapelte sich bald schon zu vielen hundert Zetteln, mühsam gebändigt durch Gummiringe und alte Briefumschläge.
Doch der Versuch, die Story zügig und aus einem Guss ins Reine zu tippen, war wochenlang gescheitert. Meine Bude war ganz allmählich, aber offensichtlich in den Allgemeinbesitz von Freunden und Freundesfreunden, dito Freundinnen und diskutierwütigen Kaffee-, Tee- und Whisky-Schmarotzern übergegangen. Die einzige Arbeit, die ich völlig ungestört verrichten konnte, war das Spülen des Geschirrs. Hätte ich nur mehr davon gehabt, so wäre es mir durch anhaltendes Geklapper vielleicht sogar gelungen, die Besucher zu vertreiben, jedenfalls jene, die es mit einem Restbestand von Gewissen nicht vereinbaren konnten, mir so lange zuzuschauen.
Da kam mir der Gedanke zu entfliehen. Per Inserat fragte ich in der ABENDZEITUNG, wer wohl einem Schriftsteller für die Dauer der Reinschrift eines Romans ein möglichst ruhiges Ferienhaus im Alpenvorland bei geringen Kosten vermieten würde.
Und schon am Vormittag meldete sich eine Frau unbestimmbaren Alters. Sie stutzte zwar bei "Cyril Ronikoff" und fragte dreimal zurück, doch als ich ihr versprach, auch den Rasen zu mähen, Laub zusammenzuharken und auf den Komposthaufen zu schichten, die erfrorenen Dahlien abzuschneiden und den Zaun zu reparieren, verlor sie ihre Angst, in die Hände des russischen Geheimdienstes zu fallen. Im übrigen müsse sie schon heute am Nachmittag hinausfahren, da passe es ihr gut, wenn ich mir das Häuschen gleich einmal ansehen könnte.
In aller Eile warf ich, was man so für vierzehn Tage, drei Wochen braucht, in einen Koffer. Besorgte Papier, eine Toner-Kassette, falls die alte schwächeln sollte, und packte meinen IT-Kram zusammen. Informierte eine Freundin, die aufgrund ihres unendlichen Mitteilungsdranges für rasche und weite Verbreitung sorgen würde, über eine plötzliche Reise und brachte ein paar Blumenstöcke zur Erholung in die Nachbarschaft.
Carola Pfänder hieß die Dame. Das Telefonbuch erwies sich als diskret. Zwar gab es viele Pfänders, aber keine Carola. Auch unter Fender oder Fänder suchte ich vergebens. So blieb alles offen. Ob sie Rechtsanwaltsgattin oder die Frau eines Diplomkaufmanns war, einem Tierarzt vermählt oder "nur so etwas" war, ich konnte es vorher nicht enträtseln. Aber pünktlich war sie - auf die Minute.
Frau Pfänder musterte mich mit unverhohlener, immerhin aber auch verständnisvoller Neugier. Hatte sie doch zumindest gegenüber meiner Telefonstimme den Mut bewiesen, diesem Ronikoff ihr Häuschen in den Voralpen anzubieten. Trotz oder gerade wegen ihrer schon auffällig schlichten Erscheinung konnte ich mir dieses Häuschen nicht als gammelige Bruchbude vorstellen, sondern blieb nach unserm ersten Händedruck bei meiner Traumvision "Chalet".
Carolas Stimme war viel sanfter, ausdrucksvoller, als ich sie vom Telefon her in Erinnerung behalten hatte. Ihr Alter schätzte ich auf Mitte bis Ende 40. Silberfäden in ihrem schlicht nach hinten gekämmten, langen dunklen Haar, kleine Falten und eine fast durchscheinende weiße Haut konnten gut und gern auch eine "jugendliche Fünfzigerin" verraten. Stirn und Nase verliehen ihrem Gesicht ein ausgeprägtes, interessantes Profil, von dem ich spontan auf Malerin oder Bildhauerin tippte. Sie trug nicht eine Spur von Make-up, einen schlichten, trachtengrünen Rock und einen hellgrauen, kaum gewölbten Pullover. Lebhafte, fast schwarze Augen trafen sich mit meinen Blicken.
Schon damals, in den ersten Sekunden unserer Begegnung, hätte ich ihr aus vollem Herzen sagen können: "Ich liebe Dich". Viele andere Frauen, die mir in meinem Leben begegnet waren, mussten lange oder gar vergebens auf diesen wahrscheinlich lang ersehnten Satz warten. Indes, ich liebte nur meine Mutter. Das Bild, das sich mir tief eingeprägt hatte, als sie - schöner denn je - schon Ende 30 an Krebs verstarb, verließ mich nie. Und der Verrat im Lotterbett Paolas, die gespielte Leidenschaft, mit der ich Carenne ihre hitzige Lust vergalt, diese Unaufrichtigkeit blieb seit je her mein Problem. Und nicht nur meins.
Carola lächelte, als sie meinen Hausstand besichtigte. Diese Mischung von Wohnkultur und Chaos, von dekorativer Strenge und hingeworfener Lässigkeit, so gestand sie mir später, habe in ihr spontan den Wunsch geweckt zu bleiben. Yin und Yang seien die ersten Worte gewesen, die sich auf ihrer Zunge formten.
So wurden wir uns auch schnell einig, nicht mit zwei Autos nach Inzell zu fahren, sondern meines zu nehmen, und ich würde sie nach Traunstein chauffieren, damit sie von dort per Zug zurück nach München reisen könne. Ihre "Ente" blieb derweil auf meinem Mietparkplatz zurück.
Fünfviertelstunden Fahrt durch einen goldenen September erschienen mir bereits wie eine Hochzeitsreise. Häufig schaute ich forschend zu meiner Beifahrerin hinüber. Was war es, was mich für diese Frau so einnahm? Ich hatte es nicht nötig, ältere Damen zu trösten. Carola erschien mir überdies als eine Frau jenseits jeder Andeutung dessen, was man Sexappeal zu nennen pflegt. Die langen Haare allenfalls, die sich noch gut zu Zöpfen flechten ließen, jetzt schlicht mit einem dunkelgrünen Samtband zusammengehalten, zierten sie mit einem äußerst weiblichen Attribut. Saß da ein Mutterabbild neben mir? Häufte mein Gehirn die ganzen Sympathien und die Liebe, die Zeit meines Lebens der Mama gehörten, auf diesen Typus Frau?
Frau Pfänder - ich musste mich geradezu zwingen, sie nicht mit Carola anzureden - erhielt zwischen Ramersdorf und dem Chiemsee eine moralisch integre Fassung meines Lebenslaufs. Natürlich galt die Neugier meinem Buch, doch äußerst schüchtern vorgebracht. Und die Enttäuschung war gar nicht zu überhören, als ich ihr gestehen musste, dass es mein Erstling sei und so kein Wunder, dass sie noch nie von einem Cyril Ronikoff ein Buch gefunden habe.
"Es brennt etwas auf meiner Seele", gestand ich ihr. "Mit diesem Buch, mit seinen Gestalten und Szenarien möchte ich zuallererst herausfinden, wie ich selbst zu dem geworden bin, was ich bin!"
"Und das wird andere interessieren? Ich will Sie nicht verletzen, aber wer ist schon Ronikoff? Ein Werbetexter, ein Journalist, ein Reiseleiter, ein Hobbytöpfer, oder was nicht noch - aber reicht das? In einer Zeit, in der jedes Jahr zigtausende neuer Bücher erscheinen?"
"Natürlich nicht. Doch selbst, wenn, was ich schreibe, nie gedruckt würde, ich müsste es tun. Die Zettel, Notizen, Skizzen, die ich da gebündelt habe, sie sind im Fieber entstanden, in der fiebrigen Suche nach .... ja, nach was? .... nach den Spuren der Liebe."
"Und so etwas soll heute gelesen werden? In dieser liebe-losen Zeit, noch schlimmer, in einer Zeit, in der kaum jemand wirklich zu lieben versucht? Zu lieben wagt? Nicht einmal sich selbst? Lieben, das übersetzt man doch heute mit Sex, mit Bett. Und da glauben sie, es gäbe genügend sensible Menschen, die mit Ihnen auf die Spurensuche nach etwas gehen, was sie nie kennengelernt haben?"
"Vielleicht gerade deshalb? Und wenn es nur .... nur die Spuren der Mutterliebe sind, die jemand in sich wiederfindet und ihnen folgend den Weg zu einem Nächsten findet!"
"Mutterliebe!" Sarkastisch, ja, fast zynisch wiederholte diese Frau das Wort, und weil sie dabei ihre Stimme nur ganz wenig hob, war die Verletzung nicht zu überhören, die sich hier in eine Mutterseele eingeätzt hatte.
Doch dabei blieb's. Je mehr ich Neugier zeigte, Fragen stellte, desto entschiedener verstummte sie und deckte Schweigen über offensichtlich schwere Jahre.
Wir hatten die Autobahn verlassen und steuerten auf eine Bergkulisse zu, die in der späten Nachmittagsonne prangte. Ein Feldweg nahm uns auf und wand sich - meine Neugier höhnend - über viele staubige Kilometer dahin. Zuletzt umfing uns noch der Wald, dann kam ein Bauernhof. Carola ließ mich anhalten. Gemeinsam betraten wir den niedrigen Flur des sicherlich mehr als zweihundert Jahre alten Wohnhauses. In der Küche trafen wir die alte Hanna, eine Bäuerin wie gemalt. Mit Gesichtszügen, die so zerfurcht waren, dass man ebenso hätte annehmen können, sie habe ein Leben lang geweint oder gelacht.
"Hanna", schrie ihr Carola fast ins Ohr, "der junge Mann hier wohnt für ein paar Tage in unserem Haus! Und seinen Namen kannst Du gar nicht sprechen: C-y-r-i-l ! Also, versorg ihn gut. Geht's gut so weit?"
Die Hanna nickte nur. An ihrer Schürze wischte sie die Hände ab. Sie hatte eine Wanne voller Äpfel zerschnitten. Dann schaute sie mir ganz fest ins Gesicht und trat so nah auf mich zu, als ob sie mich betasten wollte wie die Knusperhexe den Hänsel.
"Soo, soo!" war ihr ganzer Kommentar. "Is' ollweil guat, Carla!"
Und kicherte auch wie die Alte im Märchen. "Die Theres, die is nuffa mit'm Baby!"
Ich musste mich anstrengen, die Oma zu verstehen. "Nuffa" war eine Stiege höher. Carola ließ mir - ihrem Knigge auch in dieser bukolischen Umgebung treu - den Vortritt. Eine amüsante Fehleinschätzung, denn oben angekommen lugte die Theres aus der Tür, mit einer prallen, hellleuchtenden Rubensbrust und ihrem milchprustenden Hannes auf dem Arm. Beim Anblick eines fremden Mannsbildes entfuhr ihr ein schriller Schreckenslaut. Kreischend floh sie zurück in die Kammer. Carola drängte sich an mir vorbei und schob sich wie ein lebendiger Paravent zwischen Mutterglück und Voyeur. Wohlerzogen knarzte ich die Treppe wieder hinab und wartete, von einem jungen Kätzchen umschmeichelt, am Auto.
"Die Hanna kennt mich schon als Kind, kennt meinen Vater noch und meinen Mann! Hier auf dem Hof bekommen Sie alles, was man so braucht. Zweimal in der Woche fährt der Micha auf Inzell und bringt alles mit, was man ihm aufträgt", erklärte mir Carola nach der Baby-Inspektion.
Dann stiegen wir wieder in meinen Wagen und holperten den Feldweg weiter. Ganz plötzlich tauchte rechts, ein wenig abseitig hinter einer alten, vergreisten Fichtenhecke das "Häuschen" auf. Ein altes Jagdhaus oder war es ein Austragshäuserl gewesen, in das sich früher der Altbauer und seine Frau zurückgezogen hatten, wenn die Jungen den Hof übernahmen? Es stand längs zum Weg, der hier in einer Linkskehre im Wald verschwand. Unten dicke Steinmauern, oben - sichtbar neu - alles aus dunkelbraunem Holz, und zu meiner großen Freude ein Balkon über die ganze Frontseite, mit Blick weit ins Tal und zu den Bergen hinüber. Über dem Gartentor, üppig berankt mit Glyzinien, stand in kaum noch lesbarer Schrift "Grüß Gott!".
Ich kam mir vor wie in einem Heimatfilm. Verdammt einsam! zischelte mein Unterbewusstsein. Direkt zum Gruseln, mit dem schwarzen Wald dahinter und der schnellen Dämmerung über dem Land vor uns. Da war sie wieder, meine alte Angst, alleingelassen zu werden.
Carola musste meine Mimik richtig gedeutet haben, denn sie meinte nur "Aber Strom hat's!" und lächelte mich an.
Über einen kurzen Kiesweg liefen wir durch ein üppiges, herbstliches Blumenmeer auf die wettergezeichnete Tür zu.
Zwei Schlösser waren zu bezwingen. Carola zeigte mir die Schlüssel. Ein Sicherheitszylinder und ein altes, rostiges und quietschendes Türschloss, das einen schweren, zickzackbärtigen Schlüssel aufnahm. "Es ist wegen der vielen Diebstähle. Auch die Fenster haben wir hinter den Läden noch vergittern müssen. Und es gibt eine Alarmanlage zum Bauern hinüber."
Als die Tür endlich nachgab, schlug uns ein muffiger, kalter Geruch aus dem Flur entgegen.
"Da sind wir! Hoffentlich gefällt es Ihnen, Sie fühlen sich wohl und finden hier Ihre .... Spuren der Liebe!"