Читать книгу Cyril oder die Spuren der Liebe - Werner Siegert - Страница 4
Es dämmert zweimal
ОглавлениеIch fand sie - die Spuren der Liebe. Doch wir beide ahnten damals noch nicht, auf welche Weise.
Schon dieser erste Eindruck! Als die aufgestoßenen Fensterläden spärliches Licht auf die Wände im Flur fallen ließen, nahm ich viel mehr auf, als mir zunächst bewusst wurde: Bilder über Bilder! Kleine, große, kunstvoll gerahmte Ölbilder neben einfach aufgespannter Leinwand. Gebirgsszenen, Waldstimmungen, Tierbilder, Pflanzen, einige Portraits, dazwischen auch nur halb ausgeführte Studien. Es gab schier keinen Platz mehr an der Wand, wo man noch ein Bild hätte unterbringen können.
Carola hatte wohl auf diese meine Verwunderung geradezu gewartet, hatte sie förmlich inszeniert. Als ob sie die Wirkung dieses Überraschungseffektes noch hätte steigern wollen, knipste sie in rascher Folge kleine Lampen an.
"Mein Vater war Kunstmaler, müssen Sie wissen. Professor an der Kunstakademie. Alte Münchner Schule. Und dies hier draußen war sein Tusculum, sein Paradies, sein Arkadien. Sein Ein und Alles - neben mir!"
Ich stand, das wurde mir blitzartig klar, im Entrée einer Kultstätte.
Welch' ein Leichtsinn, Menschenkenntnis wahrlich nicht zu nennen, einem inserierenden Möchtegernliteraten diesen Musentempel wochenlang (!) allein (!) zu überlassen! Ja, war denn diese Frau von allen guten Geistern verlassen? Dabei war die Galerie im Vestibül und an der steilen Treppe zum Obergeschoss nur die Ouvertüre. Carola führte mich wie ein Kustos durch die Räume zu ebener Erde.
Da war das große Wohnzimmer mit zwei breiten Fenstern, eingerahmt von Ranken glutroten wilden Weins. Sie wirkten mit dem Blick auf das Gebirge dahinter ebenfalls wie ein Gemälde in diesem Rund. Zwischen den Fenstern - noch verschlossen - eine Tür, oben zu einem kleinen Torbogen gerundet. Mit Eisenstangen von innen gesichert. Entsetzliche hochherrschaftliche Möbel! Mit ihren polierten Edelhölzern und kunstvollen Drechslerarbeiten eine Zierde für jede Schwabinger Professorenwohnung. Hier aber, in der alten Bauernstube, nur ein Alptraum aus Jugendstil und Klassizismus. Mottenkugeln halfen altem Plüsch zu überleben. Und über allem immer wieder Vaters Ölgemälde! Mochten sie nun Kunst oder Kitsch sein, sie erdrückten mich.
Hätte ich nicht den weiten Holzbalkon unter dem Giebel erspäht, als ich durch die Gartenpforte lugte, hier - in dieser musealen Gruft - hätte es für mich nur eines gegeben: F l u c h t ! Keine Zeile meines Buches hätte ich in diesem überfrachteten Salon zu Papier gebracht.
Mit geheuchelter Hochachtung nahm ich auch die Ölschinken im kleinen Doppelschlafzimmer zur Kenntnis. Bilder selbst in der Küche - und ein röhrender Hirsch im Klo. Nur das winzige Bad war verschont geblieben. Sehnsuchtsvoll steuerte ich die Stiege an, um diesem deplatzierten Großbürgermief zu entkommen. Agatha Christie hätte hier filmen können.
"Ja, dort oben wäre dann Ihr Reich!" Trostvolle Worte aus Carola Pfänders Mund.
Gottlob, des Vaters Plüsch und Palette hatten hier nur wenige Spuren hinterlassen. Die schrägen Wände setzten wohl weiteren Versuchen Grenzen, allzuviele der unverkauften (und unverkäuflichen?) Erbstücke anzubringen. Hastig half ich, Tür und Fensterläden zu öffnen, um das letzte Tageslicht - und vor allem Luft! - hineinzulassen. Oh, wie mich das versöhnte! Wie der Schock von mir wich! Als ob ich just aus einem Grab auferstanden war, so fühlte ich mich.
"Von hier oben haben Sie den allerschönsten Blick. Es ist mein Lieblingsplatz! Wir haben das ganze Obergeschoss völlig renovieren müssen. Ursprünglich war hier das Atelier meines Vaters. Die Wand zum Balkon total verglast und eine Art Wintergarten davor. Aber der Rost hatte das eiserne Gerippe angefressen, so dass wir es abreißen mussten."
Wie dankbar ich diesem Rost war! Nun war alles gut "alpin" gestaltet, mit solidem Holz. Auch die sanitären Anlagen hatten von der Modernisierung profitiert. Es gab eine moderne Dusche, einen Durchlauferhitzer und einen erleuchteten Spiegel ohne röhrenden Hirsch oder balzenden Auerhahn. Und noch eine kleine Kammer für die Wäsche und allerhand Kram.
"Sagt es Ihnen zu?"
"Hier oben ja!" lächelte ich zurück. "Unten fürchte ich mich!"
"Aber Sie können alles fest verriegeln!"
Carola verstand mich nicht.
Langsam schlenderten wir durch das Wohnzimmer hinaus in den Garten. Ich war überrascht, dass plötzlich wieder viel mehr Sonne über der Landschaft lag. Die langen Schatten - hatten sie nur von mir Besitz ergriffen, als sich der Geruch von Terpentin und Mottenkugeln auf mich herabsenkte?
Ich streichelte die zarten Cosmeen, nahm zärtlich eine halbverblühte Bauernrose in beide Hände, wie einen Mädchenkopf, und sog den letzten süßen Duft ein. Spinnenblumen reckten sich dem letzten Licht entgegen, die Samenschoten prall gefüllt. Und Dahlien! Eine solche Pracht - und keineswegs vom Frost dahingerafft. - Carola war vorausgegangen und hatte mich beobachtet.
"Sie lieben Blumen?"
"Ach ja, ich liebe die Blumen, die Gräser, die Tiere. Ich liebe einfach alles, was natürlich ist. Steine, alte Hölzer. Und Menschen, die ihre Natürlichkeit bewahren konnten. Kinder, zum Beispiel, sind mein Ein und Alles."
"Ist es Ihnen nicht aufgefallen, dass es wieder hell geworden ist?"
"Oh, ich dachte, das hätte etwas mit mir zu tun, mit meinem Gemüt oder so ....?"
"Nein, wir haben hier um diese Jahreszeit und im Frühling, wenn die Sonne abends schon oder noch recht tief steht, eine doppelte Dämmerung. Zuerst verschwindet die Sonne hinter diesem Berg dort. Aber dann kommt sie zwischen einem tiefen Taleinschnitt, den man von hier aus gar nicht sehen kann, für eine kurze Weile wieder hervor und taucht noch einmal alles in ein wunderbares Licht! Früher, als mein Vater noch lebte und ich klein war, setzten wir uns draußen in einen alten Schaukelstuhl, kuschelten uns in eine warme Decke und er erzählte mir immer neue Geschichten über die Sonne, warum sie noch einmal zurückkäme. Natürlich tat sie es in seinen Fabeln stets, um die kleine Carla noch einmal zu grüßen und ihr Gutenacht zu sagen. Danach musste ich dann unwiderruflich ins Bett."
"Und jetzt? Was fühlt Carola Pfänder jetzt, wenn es zum zweiten Male dämmert? - Sie müssen sagen, wann ich Sie nach Traunstein bringen soll."
"Ach nein, ich hab’s mir überlegt. Ich bleibe noch bis morgen. Dann habe ich den ganzen Sonntag für den Garten, für diese Wildnis hier. Und kann Ihnen auch was kochen!"
"Haben wir denn irgendetwas zum Kochen? Sonst lade ich Sie in eine Wirtschaft ein!"
"Aber nein, die Theres bringt uns nachher Brot und Eier, Milch und alles, was wir brauchen. Bier und Wein ist noch im kleinen Keller. Also, uns fehlt nichts! Und Pilze hat’s. Brombeeren hinten am Kompost und an der Hecke. Herr Ronikoff, hier kann man’s aushalten. Sie werden’s sehen!"
Ich holte meine Sachen aus dem Auto. Carola half mir, dies und jenes in Schubladen einzuräumen.
"Ihre Freundin?" fragte sie, als ich das Foto meiner Mutter auf den Tisch stellte, den ich mir als Arbeitsplatz und Schreibtisch ans Fenster gerückt hatte.
"Ja, meine Herzallerliebste ...."
Welche Wirkung hatten diese Worte auf Carola? Schelmisch schaute ich ihr in die Augen.
"Eine wunderschöne Frau! Und wo ist sie heute? Warum haben Sie sie nicht mitgebracht?"
"Sie ist tot. Es ist meine Mutter!"
"Oh .... verzeihen Sie!"
"Nein, ich muss Sie um Entschuldigung bitten. Schließlich war ich es, der Sie in die Irre geführt hat."
Carola nahm das Bild in ihre Hände. Sie schaute es nachdenklich an. Verglich wohl Mutters Züge mit den meinen.
"Sie war der einzige Fixpunkt in meinem Leben. Alles andere lief wie ein Film vor meinen Augen ab. Die Bilder wechselten in rascher Folge. Eine neue Stadt. Ein neues Haus. Neue Zimmer. Neue Gesichter. Neue Besucher. Neue Spielkameraden. Neue Wörter, eine neue Sprache. Anderes Essen. Aber eine war wie immer: Mama. Ihre Augen. Der Duft ihrer Haut, der zärtliche Kitzel ihrer Haare. Ihr Hals, um den ich meine Arme legen konnte. Sie war in meinem Leben das Auge des Hurrikans."
"Wunderbar, Sie so von Ihrer Mutter sprechen zu hören."
"So wie Sie von Ihrem Vater sprechen und ihm noch heute das Haus besorgen .... Wo ist Ihr Mann? Und gibt es Kinder?"
Abrupt und sehr energisch stellte sie das Bild auf den Tisch zurück. Sie schien verletzt.
"Mein Mann verließ mich früh. Ich möchte nicht darüber sprechen .... Es wäre mir sehr lieb, wenn wir ein striktes Abkommen schließen könnten: Sie lassen mich aus Ihren Grübeleien über die vermeintlichen Spuren der Liebe heraus. Ich bin nicht sehr ergiebig für die Psychologie. Und möchte Dinge nicht ausgraben, die ich längst beerdigt habe!"
Ein wenig zu geschäftig lief sie jetzt davon und bot mir keine Chance, auf das von ihr diktierte Abkommen überhaupt zu reagieren. Die kalte Abfuhr ließ mich ein wenig benommen zurück. Nachdenklich räumte ich den Koffer aus, schob Utensilien von hier nach dort und von dort nach hier. Man musste kein Psychologe sein, um das Knistern zu spüren, das in der Atmosphäre dieses Hauses lag. Ein Knistern, wie es sich in einem Staudamm hören lässt, der brüchig wird.
Mein kleines Uralt-Radio sog neue Stationen durch die abgebrochene Antenne, die nölige Hektik österreichischer Sportreporter, Hackbrett und Viergesang zum Feierabend, den maschinellen, seelenlosen Rumsbums irgendwelcher Rock-Sounds. Ich schob Chopins 1. Klavierkonzert in den Kassettenschacht und streckte mich auf meiner Liege aus, um die ersten Takte in mich einzusaugen. Und zu warten, bis Halina Stefanskaja die Perlenklänge des Klaviers darüber legte. Musik, aus der die Stimme meiner Mutter sprach. Und meine ungestillte, unstillbare Leidenschaft.
Mitten im zweiten Satz bemerkte ich, dass Carola lauschend in der Tür stand.
"Einen Rotwein zum Abendessen?"
Ich nickte nur, um die Elegie der Klänge nicht zu stören. Carola setzte sich, sie stützte ihren Kopf auf ihre Hände. Das Haar, das sie jetzt offen trug, fiel wie ein Witwenschleier über ihr Gesicht.
Der Abend hätte gut und gern zum dritten Mal Sonnenschein gebrauchen können. Doch er blieb frostig. Wir saßen über Eck am schweren Esstisch. Die Theres hatte Wurst, Eier, Käse, Butter und dunkles Landbrot vorbeigebracht. Und Milch - obwohl ich Milch nicht runter brachte. Ich hielt mich an den dunkelroten Trollinger. Ein guter Tropfen, der mein Gemüt so recht zu stärken vermochte gegenüber dem Ölgemälde einer föhngelben Voralpenlandschaft, die mich aus einem dicken schwarzen Bilderrahmen niederzudrücken versuchte.
"Wir haben uns noch nicht über die Kosten unterhalten ...."
"Welche Kosten?"
"Nun, für Wohnen und die Wäsche und was sonst noch so zusammenkommt!"
"Ach so, also nein, für Wohnen und so brauchen Sie mir natürlich nichts zu zahlen. Ich freue mich, Ihnen unser Paradies anbieten zu können, freue mich, dass diese Wände wieder einen Sinn bekommen. Den Sinn, den sie immer hatten: künstlerischem Schaffen Ruhe und Konzentration zu bieten. Und die Vorräte? Die ergänzen Sie einfach wieder. Die Wäsche macht die Theres. Geben Sie ihr ein paar Euro, dann ist sie glücklich und zufrieden."
"Wie kommt`s, dass Sie so ein Vertrauen zu mir haben? Ich bin doch ein Wildfremder für Sie. Ein Inserent. Ein unsteter Typ. Und dann wollen Sie mir diesen Tempel hier anvertrauen. Mit allen Ihren Schätzen?"
"Ich weiß es selber nicht. Nennen Sie’s einfach Zufall. Oder Fügung. Ich lese sonst höchst selten mal die Anzeigen unter "Verschiedenes", und dann eher, um mich daran zu vergnügen. Da grüßt irgend so ein Brummelbär seine Zuckermaus. Oder es sucht "Brahmskonzert, Block R, Reihe 5, Platz 3 die Pferdeschwanzdame von Platz 4." Ja, und da fand ich dann Ihren Notruf. Erst hab’ ich ihn überblättert. Dann ging er mir nicht mehr aus dem Sinn. Schließlich rief ich Sie an. Natürlich hätte ich mich durch die Stimme täuschen können. Unser Hirn kramt dann ja irgendwelche Ähnlichkeiten heraus, mit dem oder jenem und überträgt das auf den Unbekannten. Aber als ich Ihre Wohnung sah, da war ich mir ganz sicher: Ich kann Ihnen vertrauen. Und ...."
Sie stieß mit mir an und schaute mich mit ihren traurigen, schwarzen Augen an. Die Augenränder füllten sich mit Tränen.
„Und?" fragte ich. "Was war da noch?"
Sie tupfte sich die Augenwinkel mit der Serviette aus.
"Und? Ja, wie soll ich sagen: Ich vertraue Ihrer Mutter. Das Bild .... und wie Sie über Ihre Mutter sprachen. So spricht kein Mann, der hier nächste Woche das Haus ausräumt."
So sehr ich auch spürte, dass sich hinter diesen Sätzen eine Art Liebeserklärung verbarg, so sehr blieb ich gehemmt. Ihr Wunsch, das Tabu sozusagen, nicht über sie und ihre Familie zu sprechen, blockierte eigentlich jeden weiteren Satz. Mein Vorrat an Belanglosigkeiten, mit denen ich die Konversation hätte bestreiten können, war sehr beschränkt.
"Wer sind Sie nur?" Mit dieser Frage endete unser kleines Abendessen. Ich stellte sie, als ich schon im Aufstehen begriffen war. Und so, dass sie deutlich hören konnte, ich würde keine Antwort erwarten.
"Am besten rühren Sie nicht dran. Ihre Geschichte könnte jäh in Fetzen gehen. Spuren der Liebe - Gott erhalte Ihnen Ihre heile Welt!"
Meine Hilfe in der Küche lehnte sie mit einer Schroffheit ab, wie ich sie nun schon mehrmals hatte aufblitzen sehen. Fast so, als hätte ich eine Intimzone durchbrochen. Doch traf mich’s diesmal völlig unverhofft. Es war wie ein Schlag auf die Finger eines ungezogenen Knaben. So streng beschied sie mich, als hätte ich ihr einen zwielichtigen Antrag gemacht.
So zog ich mich denn wortlos in den Oberstock zurück und suchte mein Gleichgewicht wieder durch die Musik zu finden. Mit einem kleinen Stoß Notiz- und Manuskriptblättern kauerte ich mich auf die Liege.
Es war ein fiktiver Dialog zwischen Jasmin, einer früh gescheiterten "Beziehung", und mir. Ein Streitgespräch, ob es wohl gelingen könnte, Kinder so zu erziehen, dass sie ganz ungeprägt, unbeeinflusst von den Eltern ihren Weg ins Leben gehen könnten - was ich heftig verneinte.
"Du musst doch einmal diese Fesseln abwerfen. Du kannst doch nicht ständig diesen Trott, diesen Muff, diese Pseudolehren aus Religion und Ideologie, weitervermitteln wollen. Das ist doch zum Kotzen. Wenn du dich schon nicht freimachen konntest von diesen Spinnweben einer überkommenen Zeit, dann gib doch wenigstens Kindern diese Chance!"
Ich weiß noch, Jasmin hatte mir diese Sätze ins Gesicht gebrüllt. Das hätte nichts, aber auch gar nichts mit antiautoritärer Erziehung zu tun, sondern nur mit dem sorgfältigen Umgang Erwachsener mit der Freiheit des Kindes.
"Und wenn deine Kinder dich zur Bezugsperson erwählen? Wenn sie dich imitieren wollen? Gerade weil du so bist? Wie willst du’s ihnen verwehren?"
"Dann musst du sie anderen anvertrauen. So wie in einem Kibuz. In einem Kollektiv, wo sich die unterschiedlichen Persönlichkeiten gegeneinander aufheben ...."
Jasmin, was mochte aus ihr geworden sein? Aus meiner Freizügigkeit hatte sie irrtümlich geschlossen, ich sei auch wirklich der freie Gestalter meines Lebens. Und was machte sie? Sie tobte ihre ganze Auflehnung gegen die ihr anerzogene Bravheit in verwühlten Betten aus. Nicht unangenehm für einen Mann - wenigstens für eine Episode. Doch je schlimmer sie es trieb, ich warf sie schließlich raus, als sie Spaß an ihrer Nuttenrolle fand, desto stärker bewies sie nur, wie sehr sie sich im Zwang, auf Anti-Kurs zu gehen, versklavt hatte. Sie hatte sich verboten, so zu leben und zu lieben wie ihre Eltern. Spuren, Spuren ....
Würde ich dieses Thema je bewältigen können? Ich erinnerte mich plötzlich an ein Spiel, mit dem ich mich früher immer mal in eine Art Rauschzustand versetzt hatte: Wenn ich durch die Straßen lief, begann ich, auf alle Spiegelungen zu achten. Spiegelungen in Schaufenstern, auf Autos, in Wasserpfützen, auf Messingbeschlägen. Auf einmal stellte ich fest, dass alles um mich herum voller Spiegelungen war. Es dauerte nur wenige Minuten, dann war dieser herrlich verwirrende, verzauberte Zustand erreicht und ich sah nur noch Spiegelungen. Nichts anderes mehr. Spiegelungen, nichts als Spiegelungen, Reflexe, Glitzerlichter. Daran erinnerte ich mich jetzt: Ich sah nur noch Spuren, die Menschen in uns hinterließen, die uns geliebt haben - oder Menschen in uns zurückließen, die wir geliebt haben. Plötzlich war alles voll jener Spuren, und nichts gab es, das nicht von Liebe - oder ihrer teuflischen Spiegelung: von Hass - geprägt war. Konnte man sich je, wie Jasmin es verzweifelt versucht hatte, davon befreien?
Wie bei meinem heimlichen Spiegelspiel hatte ich Mühe, mein Denken wieder zu normalisieren. Diese Sensibilität zu dämpfen.
Da stand Carola in der Tür. Vielleicht hatte sie schon länger da gestanden, ohne dass ich sie bemerkt hatte.
"Ich wollte Sie um Verzeihung bitten." Ihre Stimme klang schwach und gequält.
"Sie wissen ja nicht, wann Sie an Dinge rühren, die Wunden in mir aufreißen. Ihre Hilfe in der Küche .... warum fragt mich einer so spät, so spät, so spät!" Carolas Stimme steigerte sich in ein Schreien, in diese verzweifelte Anklage.
"Warum erst ein Fremder?"
Kraftlos lehnte die Frau - sie wirkte jetzt tatsächlich alt und fahl - gegen den Türstock. Ganz leise murmelte sie jetzt vor sich hin, dass ich Mühe hatte, sie überhaupt zu verstehen:
"Ich wollte einfach nicht, dass sich auch nur der Keim dieses Gefühls in mir festsetzt. Ich habe Betonplatten darüber gewälzt. Habe mich im Frieren geübt. Kälte über mich gezogen. Bitte hassen Sie mich. Bleiben Sie kalt. Beleben Sie nicht Gefühle, die ich mir nun auch nicht mehr leisten kann."
Ich war aufgestanden. Auf Carola zugegangen. Hätte sie in den Arm nehmen wollen. Hätte ihr Gesicht in meine Hände genommen wie diese letzte Rose im Garten. Hätte sie gewärmt. Aber war es nicht genau das, was sie sich so leidenschaftlich verbat?
"Carola, Verzeihung, Frau Pfänder, wenn dies der Preis ist, um den Sie mir Ihr Chalet vermieten, dann fürchte ich, ihn nicht bezahlen zu können. Es sei denn, wir schafften es tatsächlich, uns aus dem Wege zu gehen, als seien wir nicht existent. Aber selbst, wenn Sie morgen nachhause fahren und erst in einigen Wochen wiederkommen, ich bin gewiss, diese wenigen Stunden, seit ich Sie zum ersten Mal sah, haben mehr in mir bewirkt als .... als, na ja, als irgendein Abenteuer mit einer heißen Frau."
"Ronikoff, ich bitte Sie. Bleiben Sie ein Irgendwer. Bleiben Sie neutral. Kalt. Überschreiten Sie die Grenze nicht. Ja, nicht einmal das Niemandsland. Aber ich glaube, für diese Warnung ist es schon zu spät."
Ihre Stimme war wieder laut geworden. Laut warf sie die Tür zu und lief die Treppe hinunter. Dann hörte ich, wie die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel und sie in raschen Schritten über den Kiesweg davonrannte.
Wie zerrissen sie war!
Und ich!
Sollte, musste ich ihr nicht folgen? Konnte ich sie allein in diese schwarze Nacht laufen lassen? Was, wenn sie sich etwas antäte?
Schnell warf ich meinen Mantel über und hastete hinaus. Horchte, ob ich irgendwelche Geräusche aufnehmen könnte, die mir hätten verraten können, wohin Carola gelaufen war. War sie im Garten? In den Wald gelaufen? Aber da gab es keine Chance für mich. Die Schwärze blieb lautlos. Nicht einmal ein Käuzchen schrie. Die Bäume standen stumm. Die Gräser waren erstarrt. Nur ganz in der Ferne hörte man das Summen von Autos.
So trat ich zurück ins Haus. Und setzte mich auf die Treppenstufen. Und lauschte. Lernte die Geräusche dieses Gemäuers zu erkennen. Das scheppernde Ein- und Abschalten des Kühlschranks. Das Tropfen eines Wasserhahns. Ein Knistern, das ich nicht zu orten vermochte. Ich sah eine Kerze und zündete sie an. Für Carola. Eine fromme Geste? Das Opfer für gute Heimkehr? Eher eine Verzweiflungstat. Und ein "Willkommen".
Irgendwann, das Licht war weit heruntergebrannt, wachte ich auf. Mein Rücken schmerzte. Eine Stunde oder anderthalb waren vergangen. Carola war noch nicht zurückgekehrt. Dabei hatte sie nicht einmal ihren Mantel übergezogen.
"Ich kann nicht nichtlieben!" sagte ich halblaut vor mich hin.
"Ich kann nicht nichtlieben!" Warum konnte ich das nicht? Nicht bei Carola. Und bei anderen Frauen? Hatte ich sie tatsächlich nicht geliebt - oder mich nicht getraut, sie zu lieben? Oder stellte sich diese Frage gar nicht?
Verzweifelt lief ich auf und ab. Holte mir meine Stablampe aus dem Auto. Ging damit durch den Garten. Leuchtete die Wege ab. Die Bank im Holzpavillon. Den Schuppen. Richtete den langen, hellen Strahl in die Richtung des Waldes. Natürlich vergeblich.
Endlich kam mir der Gedanke, sie könne zum Bauern gelaufen sein, zur Theres. Und dorthin machte ich mich auf den Weg, ihren Mantel über dem Arm. Sein Duft nach Frau, nach einer überaus gepflegten Frau, blieb mir nicht verborgen. Ein Fetisch wurde er für mich. Eine Schmusedecke. Er wärmte mich mehr als er je irgendwen gewärmt hatte. Ich legte meine Wange an das glatte Futter. Nur nichts aus den Taschen verlieren! Behutsam trug ich ihn .... trug ich sie .... wurde er in meinen Händen zu Carolas leichtgewichtigem Körper, als hätte ich ihn irgendwo aufgehoben, geborgen, um ihn in die rettende Wärme eines Hauses zu tragen. Doch war es nur ein Mantel! Nur ihr Mantel!
Es waren knapp 20 Minuten zu gehen. Der Weg trotz der Dunkelheit einigermaßen erkennbar. Ich kam mir wie im Märchen vor: Spärliches Licht aus drei kleinen Fenstern tauchte auf. Das Knusperhaus. Das Haus bei Schneeweißchen und Rosenrot. Das Haus der Sieben Zwerge. Das Räuberhaus bei den Bremer Stadtmusikanten. So kramte ich in meiner Erinnerung alle Märchen zusammen, die mir Mama erzählt hatte, und irgendwo gab es immer ein Haus in der Nacht. Einmal verhieß es Geborgenheit, ein anderes Mal Bedrohung. Nur, was konnte mir das gruseligste Szenario damals schon anhaben? Da war ja Mama. Die Erzählerin. Die Mitte. Das Auge des Hurrikans. Ihre Wärme. Stets begleitete sie mich wie ein immerwährender Schutzmantel. Und jetzt?
Die Hunde schlugen an. Liefen sie frei herum? Oder an einer Laufkette? Im Zwinger? Ihr Gebell wurde hektischer mit jedem meiner Schritte. Kleine Kläffer und ein dröhnender Bass.
Das Licht ging an. Ein Mann trat heraus. Erblickte mich. Etwas unsicher trat ich auf ihn zu. Seine Worte verstand ich nicht. Nicht einmal, ob sie mir oder den Hunden galten, die unsichtbar blieben.
"Ist vielleicht Frau Pfänder bei Ihnen? Guten Abend, ich bin der Ronikoff." Bot ihm die Hand. Aber er achtete nicht darauf. Hatte sich schon umgedreht.
"Die Carla? Vielleicht. Bei der Theres vielleicht. I' muass schaug'n. Woarten's amal. Kommen's nur rein, Herr Doktor." Eine gütige Stimme. Er stapfte in dicken, schweren Socken voraus. Öffnete die Tür zu einer lauten, geschwätzigen Stube.
"Theres, is d’Carla da? Der Herr Doktor suacht's!"
Der Herr Doktor. War ich schon eingeführt? Integriert? Ein unpassendes Wort in dieser Umgebung. Akzeptiert? Carola erschien in der Tür. Der Bauer verschwand im hinteren Flur. "Entschuldigen's mich, guat' Nacht!"
Mit ihren großen schwarzen Augen starrte sie mich an.
"Herr Ronikoff, sind Sie etwa in dieser Finsternis hierhergelaufen? Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Sie hätten ja telefonieren können. Neben dem Küchenschrank ist so ein Haustelefon. Da sind Sie gleich mit dem Bauern verbunden. Da brauchen Sie doch nicht extra hinüberzulaufen. Kommen’s herein."
"Ich bringe Ihnen Ihren Mantel. Ich hab' mir Sorgen um Sie gemacht. Sie werden gefroren haben."
Das helle Licht der Stube blendete mich. Theres war aufgestanden und bot mir einen Stuhl.
"Mögen’s ein Schnapserl?"
"Theres, schau nur, jetzt wird’ ich auf meine alten Tage verwöhnt. Bringt der mir doch den Mantel nach. Ja, Herr Ronikoff, das ist lieb, aber das hätt's nicht gebraucht. Ich bleib ja heut' Nacht sowieso bei der Theres. Bitte fassen Sie das nicht falsch auf. Ich störe Sie dann nicht. Und die Theres ist alleweil froh, wenn's jemand zum Reden hat."
Theres stellte mir einen Obstler hin, randvoll eingeschenkt.
"Hier, wärmen's Eana auf!"
Sie war eine stattliche, auf ihre Weise gut anzusehende Frau, von sehr weiblicher Statur. Das mit blonden Strähnen durchsetzte Haar, offenbar naturlockig, einfach nach hinten gekämmt, umgab den sehr lebendigen Kopf wie ein Strahlenkranz.
"Ja, Theres, was sagst’ jetzt dazu? Ich krieg’n Mantel gebracht! Bei der Nacht!"
"Tja Carla, da schaust. Es gibt noch Kavaliere. Aber bleib’n tust schon, gell?"
Da war es wieder, das jähe Umschlagen der Stimmung in Carolas Augen. Der plötzliche Grauschleier. Der harte, steinerne Blick.
"Herr Ronikoff kommt sehr gut alleine zurecht. Er braucht mich nicht!"
"So ist es dann wohl!" Wohlweislich hatte ich mich noch nicht gesetzt. Hatte nur den Mantel der Theres gegeben. Doppelte Kälte umfing mich auf einmal. Keine Schmusedecke mehr, und keine Nähe, keine Intimität.
Schnell kippte ich den Schnaps. Dankte. Und verabschiedete mich knapp von den beiden.
"Ich finde schon selbst hinaus! Gute Nacht!"
Rasch drehte ich mich um. Ließ mich auf keine weiteren Sätze ein. Floh in das Dunkel. In das Gekläff. In die Disharmonie. Fühlte mich ausgesetzt. Durch mich selbst.