Читать книгу Cyril oder die Spuren der Liebe - Werner Siegert - Страница 5

Poltergeister

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Dieser September bescherte uns einen zweiten Hochsommer. Als hätten sich die Kalendermacher um einen Monat geirrt. Morgens erwachten die Berge unter einem gleißenden Strahlenkranz. Mittags flimmerten die Äcker in der Sonnenhitze. Nur an den Abenden, schon vor der zweiten Dämmerung, griff der Herbst mit kalten Fingern nach den Träumern, die auf der Terrasse noch eine Weile ihre Seele wärmen wollten.

Ich arbeitete nachts, begann an aufgespannten Schnüren meine Zettel aufzuhängen wie die Wäsche eines Waisenhauses. Der Boden war schon übersät. Wo sich Kapitel roh zusammenfügen mochten, sah es aus, als würde ich Patiencen legen. So jene zu dem Thema "Eifersucht" des Sohnes, weil die Mutter anderen Männern zuviel Zeit, zuviel lustvollen, prallen Lachens schenkte. Nicht so dem eigenen Gemahl, der mir nie als Nebenbuhler erschienen war. Galane waren es, von denen einige, in jedem Land ein oder zwei, die Gunst Mamas zu erwecken wussten. Mich ärgerte noch heute so wie damals ihre hochnäsige Verführerpose und ihre Ignoranz. Wie konnten sie auch je ernstlich auf den Gedanken kommen, in mir die Nr. 1 der Geliebten meiner Mama zu achten?

Oh, wieviele Schmerzenstränen weinte ich, an wievielen unschuldigen Spielsachen, zersplitternden Gläsern oder Tellern ließ ich meine ohnmächtige Wut aus. Und heute - wo waren Spuren noch erkennbar? Ich stutzte: War nicht eine kleine Wut, ein Becher Eifersucht und Trotz an jenem Abend zu spüren gewesen, als Carola ihre Nacht bei der Theres und nicht in meiner Nähe verbrachte? Dieselbe Sucht, mir selbst Schmerzen zuzufügen, als ich ablehnte, im Jeep nachhause gefahren zu werden, und stattdessen noch einmal durchs Dunkel stolperte? Und war's nicht eine kleine Rache, als ich dann Carola das gemeinsame Frühstück verweigerte? Leidend, weil ich es nur gar zu gern in ihrer Nähe, von ihr serviert, eingenommen hätte? Meine masochistische Rachetour, die sicher mehr mich selbst als jene launische Vermieterin traf? Dann, als ich sie mittags an den Zug nach Traunstein brachte, war sie so sanft, so weich, so liebenswert. Beim Abschied auf dem Bahnsteig war es mir, als husche ein Schleier verweigerter Tränen über ihr Gesicht. Oder waren jene kleinen, glitzernden Perlen in den Augenwinkeln nur Spiegel meiner Phantasie?

Ich küsste - ganz spontan und viel zu lange - ihre Hand. Und sie überließ sie mir. Sie zog sie nicht zurück. Genoss die Wärme auf der kühlen, feinadrigen Haut.

"Vielleicht bis zum nächsten Wochenende!" rief sie mir aus dem abfahrenden Zuge zu.

"Ja, kommen Sie doch", schrie ich ihr nach und hoffte, den Lärm der Räder übertönen zu können.

Ist Carola vielleicht Mama - in einer neuen Gestalt? Ein gütiges Geschenk des Himmels? Eine Fee-Mama? Der späte Lohn für Mutterliebe? Du lieber Gott, nein, solche Liebe würdest DU nicht lohnen. Nicht ein Wunder inszenieren, um meine Inzestphantasien zu entgelten.

Sehr bald schon erwies sich, dass allein in einem solchen Haus zu sein, dieser von mir so oft herbei gewünschte paradiesische Zustand, auch Mare heraufbeschwor. Ängste. Ein Zusammenzucken, angespanntes Horchen, wenn Balken knackten, Dielen ächzten, als schliche jemand unten durch den Flur. Wieder und wieder stand mir der Atem still, gingen meine Sätze und Gedanken in Fetzen, wenn rasche Trippelschritte um das ganze Haus zu huschen schienen. Dann stand ich auf, öffnete die Tür zur Treppe einen Spalt und horchte minutenlang in die Finsternis. Einmal war es mir, als tolle eine verspielte Katze immer wieder von der einen Ecke des Zimmers in die andere, verfolge ein Papierknäuel und kratze mit steif ausgestreckten Pfoten an einem Tischbein. Dann wieder kam das Scharren vom Balkon. Fledermäuse?

Ich erwog, mir einen Hund aus irgendeinem Tierheim zu holen, einen Wächter und eine treue, aber nicht geschwätzige Seele in meiner Nähe. Die Geräusche erwuchsen sich zu einem wirklichen Problem. Auch wenn gar nichts mehr zu hören war, quälte mich die Stille, fühlte ich mich beobachtet, glaubte ich, der Spuk würde genau in jenem Moment wieder einsetzen, in dem ich den Mut fand, an meinen Schreibtisch zurückzukehren.

Waren es Mäuse? Ratten? Nachtgetier? Sollte ich Fallen besorgen? Der Theres meine Ängste anvertrauen? Mit Musik oder dem Geplärre von Bayern 3 alles übertönen? Besser doch nachts schlafen und arbeiten, wenn der lichte Tag die Ohren stumpfer macht, die Seele mutiger? Warum überhaupt die Ängste? Wer sollte mir schon nachstellen? Wer mich töten oder verschleppen wollen! Wer gerade jetzt einbrechen, der es nicht in jenen Nächten versucht hatte, als das Häuschen verlassen stand?

Warum war ich nicht frohgemut? Nicht gleichgültiger? Nicht gelassener? Warum vermutete ich hinter jedem Schatten eine Gefahr? Krallten sich auch hier wieder die Schatten meiner Kindheit an mir fest? Geborgenheit, wo hatte ich sie je erfahren, wenn nicht in den Armen von Mama?

Gemach, gemach, schalt ich mich, du musst nicht alles über deinen Mutterkomplex abbuchen. Junge, du bist doch sonst nicht flötend über Friedhöfe gegangen. Du warst doch sonst hart im Nehmen und hast nicht vor Fledermäusen gezittert. Sonst. Aber hier war eines anders: Zum ersten Mal, soweit ich mich zurück entsinnen konnte, tauchte ich aus meinem Aktionismus auf. Ich war ja ein Quirl. Betriebsamkeit hieß das Zaubermittel, mit dem ich mir - paradox genug - Ruhe vor mir selbst verschaffte.

Hier hatte es seine Kraft verloren. Jetzt rasten imaginäre Zaubertiere durch mein Gemüt und stressten meine Nervenbahnen. Hysterisch hätte ich das genannt - bei anderen. Meine Selbstanalyse kam mir vor, als versuchte ich, mich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Ich blieb und blieb drin stecken.

Oh, hätte doch endlich ein wirklicher Hund gebellt, wäre endlich eine Mäusemutter aufgetaucht und hätte mich zur Zwiesprache eingeladen wie weiland den Francois Villon. So stapfte ich schon die dritte Nacht auf und ab. Die Arbeit blieb Stückwerk. Schließlich beschloss ich, statt neurotisch Wache zu schieben, mir eine Flasche Bordeaux aus Carolas Beständen zu genehmigen. Ein probates Schlafmittel, das seine Wirkung nicht verfehlte. Es war schon lange Mitternacht vorbei, als ich die letzte Lampe löschte und die Decke über den Kopf zog. Ich mochte vielleicht zehn Minuten geschlafen haben, weggesackt in das schwarze Loch ersten Tiefschlafs, als ich von einem kräftigen Rumms empor gerissen wurde. Atemlos starrte ich in die Finsternis, tapste nach dem Lichtschalter. Zu eindeutig hatte ich das Poltern wahrgenommen, als dass ich von einem Alptraum hätte genarrt sein können. Und tatsächlich - da war es wieder, dieses rasche Hin- und Hergetrippel! Ganz nahe. Ja, es kam mir vor, als husche ein Tier direkt neben meinem Bett entlang, hinter der Wand in der Dachschräge.

Etwas taumelig griff ich nach meiner Stablampe und leuchtete die Holzverkleidung entlang. Da war eine kleine Tür. Ein Schlüsselloch. Verschlossen? Ja, so war’s. Jedoch, es zierte sich nicht lange. Schon der dritte Versuch, mit einem meiner Schlüssel den Riegel zu bewegen, war erfolgreich. Knarzend gaben die Scharniere nach.

Wie tollkühn musste mich der Alkohol gestimmt haben, dass ich nicht eine Sekunde daran dachte, was mir wohl widerfahren könnte, hätte mich der Poltergeist - vermutlich doch ein Marder oder eine Ratte - in die Hand gebissen oder wäre mir gar an die Gurgel gefahren. Gleich einer Waffe richtete ich den Strahl meiner Lampe in die Rumpelkammer. Anders hätte es Höhlenforschern nicht ergehen können, die sich plötzlich einem Urweltfund gegenübersahen, einem Chaos von unübersehbaren Schätzen, Gerümpel, Knochen, Vogelköpfen, Spinnweben, Papierfetzen, Fellresten. Die Schätze, wie hätte es in diesem Hause anders sein können: Ölgemälde, Rahmen, Leinwandrollen und große Bildermappen, schräg angelehnt an die Holzbalken. Eine lag halb aufgeklappt. Ihr Inhalt war zum Teil zerfressen und in kleinste Fetzen zerrissen. Wahrscheinlich wohnte weiter hinten, wohin mein Taschenlampenlaser nicht mehr dringen konnte, eine Mardermutter mit ihren Jungen in einem wahrhaft "kunst"vollen Nest. Im Augenblick verhielten sich die Untermieter aber mucksmäuschenstill. Kein rotglühendes Augenpaar reflektierte mein Lichtbündel. Vorn, gleich neben der Tür lag ein großer angefressener, prallgefüllter Briefumschlag. Ich konnte der Verlockung nicht widerstehen, ihn zu bergen, beschloss aber, jede weitere Höhlenexpedition auf den morgigen Tag zu verschieben. Um allen betroffenen Mitbewohnern eine kleine Vorwarnung zu geben, schloss ich die Tür mit einem vernehmlichen Krachen und sorgte dafür, dass sie auch wirklich verschlossen war.

Der Briefumschlag sollte mich die restliche Nacht kosten. Ich war - das Geständnis fällt mir nicht leicht - stets ein Voyeur gewesen. Vielleicht auch dies eine Spur der Liebe, denn natürlich ließ mich nie in Ruhe, was meine Ur-Geliebte mit den Männern trieb, die so quälend häufig ihre Nähe suchten. Damit sie mir den Einblick nicht wehrten, entfernte ich die Schlüssel aus den Türschlössern und warf sie irgendwo ins Feld. Zwar offenbarten meine bangen Blicke meist nur völlig normale Ess-, Trink- und Spielszenen - Bridge und Canasta waren in Diplomatenkreisen äußerst beliebt -, um so tiefer brannten sich Schlüssellochbilder in den kindlichen Seelenfilm ein, hatte jemand seine Arme um Mama gelegt oder sie gar geküsst. Die Orgien jener Zeit verbargen sich hinter dem harmlosen Wort "Pfänderspiele". Frivoles geschah hier unter dem Alibi der Pflege der Allgemeinbildung. Wer die Hauptstadt Mauretaniens nicht schnell genug zu nennen wusste, musste zur Strafe einen Schuh, ein Strumpfband oder (und das war eines dieser Seelenfotos, das unauslöschlich zu meinem inneren Bilderalbum gehörte!) die samtene Haarschleife, die das prachtvolle Haar von Mama zusammenhielt, als Pfand geben. Diese Samtschleife und die vielen Haarspangen durfte eben nur ich abnehmen und damit den Katarakt dieses herrlich duftenden, schwarzen Haares auslösen, das sich dann über Busen und Rücken ergoss. Losgelöstes Haar war für den kleinen Cyril das Signal für eine der schönsten Stunden des Tages, das Schmusen vor dem Zubettgehen. Hier aber, beim Pfänderspiel oder auch als Hergabe für Spielschulden, war die gelöste Samtschleife zum Symbol für die Hergabe der Geliebten geworden.

Und nun dieser angefressene, dicke, alte Briefumschlag, mit schwarzer Tinte und Sütterlinschrift an Professor Dr. Remigius Samtner, daselbst, adressiert, ohne weitere Angaben. Wenn er auch geöffnet war, ging er mich doch nichts an. Dennoch wusste ich schon längst, ob der gute Cyril oder der Lump die Oberhand behielte.

Es war der Lump. Behutsam schüttete er den Inhalt auf das Bett; so dass nichts durcheinander geriet und die Spionage nicht entdeckt werden konnte. Aber auch der Lump erschrak. Zu spät - er konnte nichts mehr ungeschehen - ungesehen machen. Vor ihm lagen pralle Mädchenfotos, mehr oder minder leicht geschürzt, auch Akte, meist in affektierten Posen. Malerfotos, wie man sie - angeblich ausschließlich - verwendete, um Frauen die Peinlichkeit oder Ausdauer des Modellstehens zu ersparen.

Einige Konterfeis, von sehr üppigen Damen, waren kunstvoll auf Passepartouts eines "Kunst- und Photo-Ateliers" aufgezogen, andere waren ganz offenbar Laienfotos in Chamois, mit einem eher schwülen Arrangement, überwiegend mit zwei sehr jungen Mädchen drauf, deren Gesichter immer wieder auftauchten. Beide hatten hier mal lange Zöpfe, dort den alpinen Ringzopf und dann wieder lang herunter fließendes Haar. Wallende Tücher dienten der Staffage mehr, als dass sie Schamhaftes verdeckten. Liegend, kniend, stehend, sich umarmend und stets mit Blick auf die Kamera, wirkten sie nicht nur steif und gezwungen. Dem heutigen Betrachter erschienen sie auf eine peinliche Art obszön. Der späten Nacht schrieb ich es zu, dass es sehr lange brauchte, bis es bei mir "klick" machte: Das eine Mädchen, dessen Bild hier häufiger als jedes andere Modell konterfeit war und auch in sehr verschiedenen Reifephasen seines beginnenden Frauseins, war ganz zweifellos Carola. Ihre schwarzen, tiefliegenden Augen verrieten sie. Ihre Gefährtin wirkte wohl ein wenig älter oder jedenfalls, wie soll man's vornehm sagen, trotz ihrer Mädchenhaftigkeit voller und gereifter.

Carola, wenn sie's war, mochte 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein. Ihre Brüste knabenhaft und klein, ihr Körperbau ein wenig knochig. Den Rückseiten der Fotos konnte ich zunächst keine näheren Angaben entnehmen, keine Namen, keine Daten. Nur ein kunstvolles "T" mit vielen Schnörkeln war irgendwann liebevoll oder gelangweilt auf eine Bajaderenszene gemalt worden, das die Größere allein zeigte, allein in üppiger junger Weiblichkeit. Auch andere, ältere Frauengestalten hatten für Remigius posiert; an Mannsbildern war dem Professor offensichtlich nicht gelegen.

Ich wollte meinen heißen Fund schon wieder sorgsam in die ramponierte Briefhülle zurück gleiten lassen, da fiel mir erstens auf, dass der Umschlag überhaupt nicht staubig war, so als sei er erst kürzlich - von Carola? - hier versteckt worden. Und zweitens fiel mein Augenmerk noch auf ein paar kleine 6 x 9-Photos, etwas vergilbt schon, mit gezähntem Rand, auf dem wohl das Häuschen in seiner alten Gestalt zu sehen war, oben mit der verglasten Terrasse. Aber auch hier wieder abgelichtetes Mädchenglück, Kinder, wie nebeneinander aufgestellt. Ein Datumstempel vom "Photohaus Stöger: 23. 9. 44".

Mit diesem aufreizenden Päckchen unter dem Kopfkissen schlief ich gegen 4 Uhr ein.

Cyril oder die Spuren der Liebe

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