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Der Doppelbaum

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Er begann, das Glück dieser Tage daran zu messen, ob das Mädchen wieder Gitarre spielen würde. Das Mädchen von nebenan, vom Nebenzimmer in diesem Bildungshaus einer Krankenkasse. Denn am ersten Abend, als er gerade dabei war, seine Koffer auszupacken, die Hosen über Bügel zu hängen, Hemden und Pullover in die Fächer zu stapeln, da stutzte er: Gitarrenklänge und eine leise, heisere Mädchenstimme in diesem Haus, in dem es nur um Gesetze, Abrechnungsmodalitäten, genehmigungsfähige und abzulehnende Leistungen ging, in dem er sogenannten Führungskräften Zeit-Management und Arbeitstechniken vermitteln sollte? Da schienen ihm diese Klänge aus anderen Sphären zu kommen.

Nicht stören - dachte er sich und lugte nur vorsichtig aus dem Fenster zum Nachbarbalkon, wo die eher wehmütige, meditative Melodie erklang. Da saß das Mädchen auf der Balkonbrüstung, schaute in die weite Landschaft oder auch nirgendwohin und zupfte ganz beiläufig an den Saiten seiner Gitarre. Beiläufig, so als ob die Weise eher zufällig, träumerisch dem Zusammenspiel ihrer Hände mit ihren Gedanken entsprang. Nicht stören ....

Sie sah eigentlich eher wie ein Bauernmädchen aus, oder wie eine Sennerin, mit ihrer wettergebräunten Gesichtshaut, ihren sonnengebleichten, lose herabhängenden Haaren, leuchtend blauen Augen unter buschigen Brauen, einer kecken Stupsnase über sehr ausgeprägten Lippen. Auf den zweiten Blick kam ihm der Typ „Schwedenmädel“ in den Sinn - einem Klischee, das durch viele Filme der 70er und 80er Jahre geprägt worden war. Nein, er verwarf dieses Bild gleich wieder; denn dem Mädchen mit der Gitarre fehlte jede erotische Ausstrahlung. Es erschien ihm vielmehr wie vom Schicksal gegerbt. Oder war es nur ihr Spiel, das diesen Eindruck erweckte?

Sie spielte nicht jeden Abend. Ein paar Tage darauf trafen sie im Flur zusammen. Sie schloss gerade die Tür auf, als er - seine Schritte etwas beschleunigend - ebenfalls vom Lift kam.

„Guten Abend, liebe Nachbarin, werden Sie heute Abend wieder Gitarre spielen?“

„Wieso? Stört es Sie?“

„Aber nein, überhaupt nicht, im Gegenteil. Es ist so wohltuend, Ihnen zuzuhören ...“

„... aber ich kann ja gar nicht richtig spielen. Ich fange ja erst an. Habe noch nie Unterricht gehabt, kenne keine Noten. Ist ja die Gitarre meiner Schwester. Ich glaube sogar, sie ist ziemlich verstimmt!“

„Oh doch, Sie können wohltuend spielen, haben offensichtlich ein Naturtalent für Harmonien. Was Sie da improvisieren, klingt eigentlich schöner, als wenn Sie irgendein bekanntes Lied anstimmen würden.“

Sie lächelte verlegen und schüttelte den Kopf. Kurz darauf standen sie auf dem Balkon. Er auf seinem, sie auf ihrem. Die Balkone waren allerdings nur durch eine eher angedeutete Holzwand von einander getrennt. Absichtlich; denn es waren verliebte Lehrgangsteilnehmer wohl beim Versuch, ihrer angebeteten Kollegin näherzukommen, bei Balkonklettereien abgestürzt. Daraufhin hatte man den Durchgang erleichtert. So schön können Lehrgänge sein.

„Wissen Sie, eigentlich kann doch jeder, der ein wenig Gefühl für Harmonie in sich spürt, musizieren. Es müssen ja nicht gleich virtuose Stücke entstehen. Das ist wie beim Malen. Viele Menschen sagen, sie könnten nicht malen. Wenn man ihnen aber einen mit Farbe getränkten Pinsel in die Hand gibt, ein Aquarellpapier in Wasser taucht und sie dann den ersten Strich wagen, sind sie fasziniert davon, wie die Farbe filigranhaft zerläuft, selber Muster bildet, sich zu einem Bild formt, das zu wunderbaren Phantasien Anlass gibt. Wenn ich eine Blume male, ist es eine Blume, eine Blume, eine Blume. Aber das freie, überraschende Spiel dieser Farbe öffnet einen ganzen Kosmos ...“

„Sie malen?“

„... so wie Sie Gitarre spielen. Und zu Ihrem Gitarrenspiel!“

„Darf ich das mal sehen?“

Das Mädchen stieg - es war barfuß - behände über die flache Holzblende.

„Übrigens - ich heiße Johanna. Und nicht „Sie“, sondern „Du“, bitte! Johanna. Das „Sie“ möchte ich unten lassen, im Lehrsaal, und in der Filiale, wo ich schaffe. Das „Sie“ ist so kalt und fremd!“

„... und ich Ansgar!“

„Nein, das geht nicht. Sie sind ja eine Lehrkraft oder Seminarleiter oder so was. Da fällt mir das „Du“ schwer. Sind Sie nicht sogar Psychologe? Vor denen muss man sich vorsehen,“ ergänzte sie mit einem verlegenen Lächeln.

Mit allerdings ziemlich unbefangener Neugier blätterte sie in seinem Skizzenblock, ehe ihr Blick auf einen kleinen Stapel von Kritzeleien fiel mit lauter Bäumen drauf.

„Was macht man denn damit?“

„Das verrate ich Ihnen, eh’ dir, erst, wenn du auch einen Baum, ein Haus, einen Weg und eine Schlange gemalt hast!“

„Das soll ich alles zeichnen? Ich soll einen Baum zeichnen? Was denn für einen? Irgendeinen bestimmten?“

„Nein, völlig frei. Am besten an gar nichts dabei denken. Gerade das, was aus der Hand fließt.“

Dabei schob er ihr ein Blatt rüber, zeichnete einen quadratischen Rahmen hinein und gab ihr einen Zeichenstift.

Johanna blickte eine kurze Weile nach oben, als ob sie intensiv nachdenken müsse. Dann wandte sie sich von ihm ab. „Nicht gucken!“ bat sie. Und zeichnete. Ziemlich hastig hörte man den Stift über das Papier schrappen. Dann zeigte sie ihm stolz ihr Bild.

Eine Baumwurzel, aber zwei kräftige Bäume, die aus einem schrägen Berghang herauswachsen. Ohne Blätter. Mit vielen Ästen und Zweigen. Darunter, am Fuß des Berges die Andeutung eines Hauses, krumm und schief. Eher ein Heuschober oder eine Bretterbude. Als Zugabe.

„Und eine Schlange auch? Igitt!“

„Wenn Menschen Bäume malen, oder besser gesagt, zeichnen, kritzeln, ganz spontan, verraten sie sehr viel über ihre Persönlichkeit!“

„Ach du lieber Gott! Wenn ich das gewusst hätte!“ Gleich wollte sie ihr Bild wieder an sich reißen.

„Nicht doch. Das ist doch sehr interessant. Sehr originell. Noch nie hat jemand so einen Doppelbaum gezeichnet.“

„Ist das schlimm?“

„Nein, schlimm ist es ganz und gar nicht. Es ist anders. Es verrät eine ganz ausgeprägte Persönlichkeit, eine vielseitige, eine sehr originelle. Eine, die bestätigt, was du eben gesagt hattest: Hier ist die Johanna, das DU - und dort ist die Krankenkassen-Sachbearbeiterin oder was du bist, das SIE.“

„Auszubildende ... Azubi ... mehr nicht! Nicht so hohe Tiere, wie Sie sie wahrscheinlich in Ihren Seminaren vor sich haben.“

Johanna reagierte auf einmal, als ob sie fremdelte. Als ob plötzlich Angst in ihr aufstieg.

„Ich möchte jetzt bitte gehen.“

„Habe ich dich verletzt, Johanna? Bist du traurig? Ist irgendetwas?“

„Nein, es ist nur .... Sie wissen soviel über mich. Das macht mir Angst.“ Hastig nahm sie ihr Baumbild an sich und verschwand grußlos über den Balkon.

An diesem Abend spielte sie nicht. Und auch an den nächsten Abenden nicht.

Morgens, im Frühstücksraum, setzte er sich zu ihr: „Was ist los? Wie geht es der Gitarre?“

„Eine Saite ist gesprungen!“

„Dann kaufen wir eine neue. Ich muss ohnehin heute Mittag in der Stadt was besorgen!“ Das war eine Lüge, aber was hätte er anders sagen sollen, ohne dass sie gleich hätte abwinken müssen.

Am Abend hörte er Johanna wieder spielen.

Für ihn war es der letzte glückliche Abend. Denn am nächsten Tag musste er abreisen.

„Bitte das Baumbild nicht vernichten! Vielleicht sehen wir uns ja noch mal. Irgendwann – wenn du magst – kannst du es ergänzen.“

„Wie meinen Sie das – ergänzen?“

„Nun, vielleicht führt durch diese Landschaft ein Weg? Und es gibt einen Hintergrund? Ich jedenfalls werde dein Bild nicht vergessen – und dich auch nicht!“

„Ach, das sagen Sie nur so. Das glaub’ ich Ihnen nicht!“

„Doch, ganz bestimmt. Und wann immer du mit mir Verbindung aufnehmen willst, hier ist meine Karte.“

„Gibt es eigentlich noch mehr solche Tests wie den mit dem Baum?“

„Es gibt viele. Tests, um etwas zu prüfen oder zu beweisen, sind es nicht, eher spiegelt sich darin die eigene Persönlichkeit. Manche sind sehr kompliziert. Da braucht man einen Tag zu und einen Computer zur Auswertung. Und es gibt einen, der mich selber immer wieder verwirrt. Ich pendle zwischen Ablehnung und Staunen, der geht mit Farben!“

„Kann ich den mal machen oder ist das auch kompliziert?“

Ansgar holte den Lüschertest aus der Tasche und legte die Farbkarten unter die Schreibtischlampe.

„Eigentlich sollte man die Karten unter Tageslicht anschauen. Farben verändern sich unter dem kalten Licht dieser Deckenbeleuchtung. Aber jetzt, unter der Tischlampe geht es ganz gut. Und es ist ja auch mehr ein lustiges Spiel.“

Johanna betrachtete die acht Karten lange. Es fiel ihr sichtlich schwer, die Lieblingsfarbe herauszufinden und die von ihr am wenigsten geschätzte.

„Wahrscheinlich mache ich wieder alles falsch!“

„Kann man nicht. Es gibt kein Falsch und kein Richtig. Überdies ist das von momentanen Stimmungen abhängig. Erst wenn man an mehreren Tagen und in Wochenabständen stets zu ähnlichen Reihen kommt, verfestigt sich ein Bild. Und häufig stimmt es. Das ist ja das Frappierende daran.“

Johanna wählte nach langem Zögern endlich Rot als Lieblingsfarbe. Schwarz kam ans Ende. Neben Rot kam Grau, dann Blau, Grün, Violett, Gelb, Braun und dann die schwarze Karte.

Will Hemmungen und Hindernisse abrupt durchbrechen und im impulsiven Begehren sich und die eigene Wirkung erleben. Will dabei die spannungsvollen Konflikte betäuben, gerät aber durch impulsive Handlungen in Risiken“, las Ansgar vor.

„Aufhören!“ Fast schrie sie. „Aufhören!“

„Warum? Ist es falsch?“

„Nein, nein, es ist so! Es ist einfach so. Und genau davor habe ich Angst!“

„Sicher ist in der nächsten Kombination eine mildernde Ergänzung:

Hat das Verlangen nach ruhiger und gefestigter Verbundenheit, um sich bestätigt, gewürdigt, geliebt und zufrieden zu fühlen.“

„So, jetzt wissen Sie ja alles von mir!“ Trotz klang aus ihrer Stimme, aber auch Verlegenheit. „Den Rest will ich gar nicht hören!“

Abrupt stand Johanna auf. Ihr Abschied glich einer Flucht. Noch ein letzten gequältes Lächeln und sie verschwand über den Balkon.

Johanna - das Mädchen Doppelbaum

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