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Wohin fliehen?

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Warten. Warten. Warten. Erbarmungsloses, nervenzehrendes Warten.

Küster hat schon sämtliche einigermaßen interessante Straßen des Städtchens durchwandert. Sein Handy zirpt. Zu aufgeregt zieht er es aus der Tasche. Drückt auf die falsche Taste. Zerstört die Verbindung.

Warten. Warten. Warten. Nun noch schlimmer. Zermürbend.

Der Anrufer meldet sich nicht nochmal. Schließlich setzt sich Küster auf eine Bank und wählt seinen Anrufbeantworter zuhause an.

Das Übliche. „Hallo Ansgar, wo treibst du dich denn rum ....“ - „Sehr geehrter Herr Dr. Küster, bitte haben Sie Verständnis ....“. Verständnis dafür, dass er aufgrund der Vorkommnisse in der Bildungsstätte keine Lehrgänge mehr abhalten soll. Die Kündigung. Brief folgt. Vorkommnisse! Vorkommnisse? Küster fühlt sich wie betäubt. Ist er jetzt ein Kinderschänder? Hat er sich an einer Schülerin vergriffen? Er will schon abbrechen, da - eine etwas herbe, schwache Stimme nennt unvermittelt eine Ziffer: 096548209. Schluss. Er hat nicht mitgeschrieben. Also nochmal alles zurücklaufen lassen. Mit welcher Tastenkombination? Er rennt ins Hotel, sucht die Gebrauchsanweisung.

Noch einmal alle Ansagen, noch einmal „aufgrund der Vorkommnisse ....“ und dann die Nummer 0 9 6 5 4 8 2 0 9. Eine Telefonnummer! Vom Handy aus anrufen? Nein, gewiss nicht. Wahrscheinlich wird er abgehört, wegen der „Vorkommnisse“, wegen des Verdachts auf sexuelle Übergriffe, auf Mord gar. Also raus zu einer Telefonzelle. Er schaut sich rechts und links um, ob ihn jemand beobachtet. Ob ihm jemand folgt. Er versucht zu schlendern, in Geschäftsauslagen hineinzusehen. In der Spiegelung nach Verfolgern zu suchen. Verfolgungswahn, Paranoia würde er es bei anderen nennen. Auf sich selbst bezogen - Vorsicht. Am Bahnhof schließlich findet er eine halbwegs intakte Telefonzelle.

Zitternd wählt er 0 9 6 5 4 8 2 0 9. Kein Besetztzeichen. Wer wird sich melden? Es war nicht Johannas Stimme. Aber eine Frauenstimme. Eine alte, schwache Stimme. Heiser.

„Ja bitte?“

„Hier spricht Küster. Haben Sie Ihre Nummer auf meinen Anrufbeantworter gesprochen?“

„Ja, Leitner hier. Sie kennen ein Fräulein Kirchbauer?“

„Ja, bitte, was ist mit ihr?“

„Sie schläft. Ich habe sie gefunden ...“

„Gefunden? Gefunden? Gute, liebe Frau, ich bitte Sie, wie geht es ihr? Wo ist sie?“

„Sie ist sehr schwach. Aber jetzt schläft sie. Wollen Sie kommen? Es ist weit. In der Nähe von Pleystein, nahe der tschechischen Grenze. Hinter Vohenstrauß. Feldhof Nummer 14. Wann werden Sie kommen können?“

„Ich versuche, in zwei Stunden bei Ihnen zu sein. Sagen Sie mir nur noch: Ist sie verletzt? Braucht sie etwas? Medikamente? Und noch etwas: Bitte rufen Sie niemanden sonst an. Niemanden, bitte. Auch nicht die Polizei. Und vorab vielen Dank, vielen Dank!“

„Nur ein paar Schrammen, Kratzer. Aber so erschöpft wie sie ist, so erschöpft!“ Die Stimme stockt, verliert die Kraft. Hörer aufgelegt.

Küsters Stimme zittert. Mit dem Handrücken wischt er sich Tränen aus den Augen. Jetzt ist es 17 Uhr. Er versucht, seine Eile zu verbergen. Betont lässig und langsam betritt er das Hotel. Im Zimmer bündelt er schnell ein paar Sachen. Alles getarnt in einem Aktenkoffer. Rasierer und so.

Wie sollte er mit der Polizei umgehen? Im Hotel hinterließ er nur, dass er eventuell am nächsten Morgen nicht zum Frühstück käme. Eine persönliche Einladung, bei einem Schulfreund aus früheren Tagen, könnte länger dauern. Und wahrscheinlich gäb’s auch was zu trinken. Da wolle er wegen des Fahrens vorsichtig sein.

Rasch noch vorbei am Polizeirevier in H.. Ob es Neues gäbe? Ob sich schon jemand um die Haar-Analyse gekümmert habe? („Nein, so schnell geht das nicht!“). Und: „Wir dürfen Ihnen gegenüber keine Auskünfte erteilen!“ (wegen der „Vorkommnisse“?).

„Ach, übrigens, eine Dame war hier und hat nach der Bildungsstätte gefragt. Sie solle den Koffer von Frau Kirchbauer abholen.“

„Na ja. Dazu kann ich Ihnen gar nichts sagen. Müsste ja eine Vollmacht haben und sich ausweisen können. Eine Angehörige?“

Schulternzucken.

„Ich melde mich morgen wieder!“

Küster drehte eine Täuschungsrunde, ehe er auf die Bundesstraße 14 kurvte und seine Anspannung aufs Gaspedal übertrug.

Nicht verletzt. Nur ein paar Kratzer. Erschöpft. Wie kam sie nach Pleystein? Wer hat sie noch gesehen? Wieviele Zeugen? Lastwagen über Lastwagen vor ihm. Kaum Überholmöglichkeiten. Nichts riskieren. Kaugummi aus dem Handschuhfach. Kauen beruhigt. Autoradio. Bayern 5.

Und hier noch eine Suchmeldung der Kriminalpolizei: Seit gestern wird vermisst Frau Johanna Kirchbauer. Frau Kirchbauer ist 20 Jahre alt, mittelblond, ca. 165 groß. Bekleidet mit Jeans und einer grauen oder weißen Bluse. Joggingschuhe wahrscheinlich des Fabrikats Nystar. Es wird vermutet, dass sie sich im Raum Waldhaus, Vohenstrauß aufhält. Sie ist möglicherweise verletzt. Sachdienliche Hinweise ...“

Nein, sachdienliche Hinweise würden sie von ihm nicht bekommen. Nun gerade nicht. Von wegen „Vorkommnisse“, Verdacht auf „sexuelle Nötigung“ oder gar heimtückischen Mord. Und Meldepflicht. Passeinzug. Kündigung. Demütigung. Und dann noch sachdienlich sein? Wenn nur die Frau Leitner still hält. Hoffentlich kein Radio hört. Wenn es nur keine Zeugen gegeben hat. Aber 20 Jahre alt? Johanna, erst 20? Er hatte sie auf 22 oder älter geschätzt. Aber natürlich, sie ist ja Lehrling. Abitur? Sicherlich nicht. Was wusste er von ihr? Weiße oder graue Bluse? Darauf hatte er nicht geachtet. Überhaupt nicht auf die Kleidung. Typisch Mann. Oder auch sonst? Könnte er sie beschreiben? War sie eigentlich schlank? Nein, schlank nicht, aber auch nicht - wie sagt man dazu? Nicht üppig. Nein, das erst recht nicht. Also normal. Trug sie nicht ein kurzes Jäckchen? Sie fror doch, als er mit ihr auf der Bank saß. Er hatte ihr doch seine Jacke noch übergehängt.

Eingekeilt zwischen überlangen LKWs, die offenbar alle in Richtung Waidhaus - Tschechien fahren würden. Ebenso viele auf der Gegenfahrbahn.

Hat das was zu bedeuten, dass er nicht schnell vorankommen konnte? War da eine höhere Macht im Spiel? Auf was ließ er sich da ein? Wegen eines fremden Mädchens! War er dabei, eine Torheit zu begehen? Hätte er nicht doch die Polizei benachrichtigen müssen? Statt auf eigene Faust zu handeln? Müsste man nicht doch auf ein Techtelmechtel schließen? Alter Mann giert nach jungen Mädchen? Aber er hatte ihr sein Ehrenwort gegeben. „Du bist nie mehr allein!“ hatte er ihr geschworen. Was gilt so ein Versprechen? Ist das eine Art Adoption? Oder nur Romantik?

Wieder zwei LKWs überholt. Da rast das Herz. Kommt man noch vorbei? Muss man einscheren? Taucht hinter der Kurve ein Raser auf?

Wie ist Johanna nach Pleystein gekommen? Diese lange Strecke? Wer hat sie mitgenommen? Warum konnte sie nicht früher aussteigen? Was hat sich in dem Auto abgespielt? Haarbüschel! Ein Kampf! Vergewaltigung? Ausgerechnet wieder Johanna! Einmal Opfer - immer Opfer?

Wie kommt die Frau Leitner an seine Telefonnummer? Die Visitenkarte! Natürlich. Also hatte Johanna sie gebeten, bei ihm anzurufen. Also doch der Ruf nach ihm, dem Ersatzvater.

Eigentlich müsste er eine Pause machen. Aber dann rauschen all diese LKWs wieder an ihm vorbei, die er mühsam überholt hatte. Also durchhalten. Irgendwann tanken. Das lässt sich nicht umgehen. Und nochmal anrufen, wie man zum Feldhof 14 kommt. Steht auf keiner Karte. Oh, diese Ortsdurchfahrten mit den vielen Ampeln! Sulzbach-Rosenberg. Stau. Immer mehr LKWs drängen aus Richtung Amberg auf die B 14. Tschechien - das neue Ruhrgebiet für die zu teure Bundesrepublik?

Noch 18 km bis Vohenstrauss. Bekannte Namen, aber nie Zeit zu verweilen. Dort Urlaub machen? Naturpark immerhin. Wahrscheinlich sehr preiswert. Gedanken, um andere Gedanken zu verdrängen. Er beginnt zu fiebern. Zeitlich. Die letzten Kilometer.

Hinter der großen Shellstation rechts ab, hatte Frau Leitner gesagt. Und: „Ja, sie schläft noch immer!“

Sollte er das Auto in diesem kleinen Ort draußen stehen lassen? Wo jeder jeden kennt? Was will der aus M dort, bei der alten Leitnerin?

Er kann in den Hof hineinfahren. Ein paar Hühner. Ein Hund bellt heiser und läuft schwanzwedelnd auf ihn zu. Ein Veteran mit grauen Lefzen.

Frau Leitner, in Schwarz, ein freundliches, blasses, schmales Gesicht. Geschätzte 70 Jahre alt oder älter. Gebückt. Von eines langen Lebens Arbeit. In der Stadt nennt man es Osteoporose.

„Kommen’s rein. Ich hab’ einen Tee gemacht. Das Mädel schläft immer noch. Seit Stunden.

Er kann es nicht erwarten. Schaut ins bäuerliche Schlafzimmer. Dort liegt sie. Wird unruhig. Wälzt sich. Er tastet nach ihrem Arm. Zärtlich.

„Johanna - ich bin’s!“

Sie blinzelt. Sucht mit Armen und Händen Halt. Sucht Orientierung in einem fremden Zimmer. Ungewohntes Licht. Eine vertraute Stimme. „Johanna - ich bin’s! Der Ansgar!“

Jetzt reißt sie die Augen auf. In ihrem Mund stocken alle Worte. Dann wie ein Schrei: „Doktor! Doktor! Doktor!“

Es reißt sie empor. Sie fliegt förmlich an seine Schulter, in seine Arme. Umklammert ihn fest und immer fester. Ihre Wange an seine kratzigen Abendstoppeln. „Doktor, Doktor, Doktor!“ Sie taumelt zurück. Rafft sich wieder auf. Klammert sich noch fester.

„Johanna, ja, ich bin’s und ich lasse dich nie mehr allein! Liebe Johanna, wie geht es dir? Wie ist alles passiert?“

„Oh, Doktor, es ist alles so fürchterlich. Ich habe jemanden umgebracht! Umgebracht! Erstochen, weißt du, ach, wissen Sie, erstochen, mit einem Schraubenzieher! Es ist so furchtbar! Ich bin eine Mörderin! Wäre ich doch nie wieder aufgewacht! Nur schlafen, schlafen und nie wieder aufwachen!“

Sie reckt sich auf. Das viel zu große Hemd rutscht ihr von den Schultern herab. Es kümmert sie nicht. Sie sucht nur eines: Halt in seinen Armen.

„Du bist keine Mörderin, Johanna! Du hast dich gewehrt. Du hast dich wehren müssen. Und so weit ich weiß, ist der Mann im Krankenhaus. Er hat überlebt. Wenn es der Mann war, den man neben dem Auto gefunden hat. Der dir Haare ausgerissen hat! Johanna, das ist Notwehr! Du bist keine Mörderin. Nie und nimmer!“

Sie richtet sich auf. Spürt ihre Blöße. Zieht das Hemd ein wenig nach oben. Hat für Scham keine Kraft. Fällt zurück in das dicke Kissen. Klammert sich fest an seine Hände. Kratzer, Schorf an der Stirn, Spuren am Hals. Küster beugt sich zu ihr und küsst sie auf die Stirn. „Alles wird gut!“ sagt er und findet im selben Moment, dass dieser schöne Satz wie eine Werbefloskel klingt. „Alles wird wieder gut! Du lebst! Und wir zwei, wir schaffen das schon!“

Schwach ist sie. Will aufstehen, aber sie schafft es nur bis zur Bettkante. Lächelt verlegen, weil das Männerhemd, das ihr die Leitnerin übergestreift hat, immer wieder nach unten rutscht.

„Ihre Sachen war’n ja schmutzig. Voller Blutflecken. Die Bluse, alle Knöpfe rausgerissen. Furchtbar hat sie ausgeschaut, furchtbar. Furchtbar als ich sie da im Vorraum zu unserer Friedhofskapelle gefunden hab. Da lag sie, auf den Steinen, ihren kleinen Rucksack als Kopfkissen. Wissen’s, seit mein Mann vor zwei Monaten gestorben ist, gehe ich morgens immer zu seinem Grab beten. Aber schon vorn, beim Wasserhahn habe ich gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt. Da lagen blutige Tempotaschentücher. Alles war nass. Um diese Zeit schon! Da ist sonst niemand auf dem Friedhof. Ich habe die Wasserspuren verfolgt. Und da lag sie, das arme Kind. Erst bekam ich einen furchtbaren Schreck und dachte, sie sei vielleicht tot. Ich hab’ sie vorsichtig angerührt. Kalt war sie. Vorsichtig hab’ ich sie nach oben gezogen. Sie war gar nicht ganz bei sich. Kaum stehen und gehen konnte sie. Ich hab’ sie gestützt und geschleppt. Sie war so steif und verkühlt. Mein Gott, hab’ ich mir gedacht, was hat man ihr angetan?“

Küster legte ihr wieder seine Jacke um - wie schon einmal.

„Ich hab’ noch ein paar Sachen von meiner Enkeltochter. Mal sehen, ob ihr was passt. Alles andere hab’ ich ja in die Waschmaschine gestopft und schon wieder zum Trocknen aufgehängt. Als wir hier waren, hab’ ich ihr ein Bad eingelassen, lauwarm. Sie hat alles mit sich machen lassen. Und überhaupt nicht gejammert. Sie war mir wie eine Tochter oder ein Enkelkind. So lieb. Aber ’gessen hat’s noch nix. Einen Tee hab’ ich ihr gemacht. Und eine Bouillon. Ein paar Löffel hat’s genommen. Dann wär sie mir beinahe vom Stuhl gefallen. Als sie dann schlief, habe ich in der Bluse oben, in so einem kleinen Tascherl, Ihre Karte gefunden. Sonst nichts. Als sie mal wach wurde, habe ich ihr die Karte gezeigt. Und sie hat genickt. Dann habe ich auf ihren Beantworter gesprochen, weil sie waren ja nicht da.“

Johanna saß in dem grob gewirkten Männerhemd und seiner Jacke auf seinem Schoß, hielt ihn umklammert und weinte still in sich hinein.

Johanna - das Mädchen Doppelbaum

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