Читать книгу Johanna - das Mädchen Doppelbaum - Werner Siegert - Страница 4

Ein gefährliches Spiel?

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Wochen später. Das Telefon klingelt oder wie man dieses scheußliche Geräusch jetzt nennt. Zunächst versteht er die Stimme nicht. Es ist Johanna. Ihre Stimme klingt verzagt, heiser.

„Hier ist der doppelte Baum. Das Fräulein Doubletree, wie Sie mich scherzhaft genannt haben. Schade, dass Sie nicht wieder im Hause sind. Irgendwie hatte ich gehofft, dass Sie wieder hier sein würden. Zunächst mal möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich damals so grußlos davon gerannt bin. Ich war einfach fassungslos. Aber jetzt, glaube ich, brauche ich dringend Ihren Rat. Erst hatte ich tatsächlich Angst vor Ihnen; dass Sie mich mit Ihren Psychologenaugen durchschaut haben. Oder gar hypnotisieren. Dass ich irgendetwas male, womit ich was ganz, ganz Schlimmes verrate. Und dann die Sache mit den Farben. Aber dann habe ich mir gedacht: Johanna, du siehst Gespenster. Dieser Mann ist vielleicht der einzige Mensch, der dich versteht. Ich bin nämlich in Not. Ich hatte so gehofft, Sie wären da. Aber nun, wo Sie nicht hier sind, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Wann haben Sie denn wieder Seminare hier im Haus?“

Man kann einer Stimme anhören, ob die Dramatik gespielt oder echt ist. Da war keine Dramatik - und gerade das signalisierte ihm Gefahr im Verzuge. Resignation. Verzweiflung. Hatte er mit dem Baumbildchen eine Wunde aufgerissen? Der doppelte Baum, er hatte es ihr verschwiegen, war nicht zu bagatellisieren. Das war kein Zufall. Johanna gegen Johanna. Heute diese Johanna, morgen jene? Oder von Stunde zu Stunde die andere? Verunsicherung: Die Farben. Erst hatte Johanna allen Ernstes die schwarze Karte nach links legen wollen. Schwarz als Lieblingsfarbe!!! Das gab es noch nie. Er hatte nachgeschaut. Im Lüschertest steht für Schwarz und Grau als Lieblingsfarben:

Hält die Situation für hoffnungslos. Widersetzt sich den als widerwärtig empfundenen Umständen durch Widerwillen. Versucht, sich gegen die quälenden und deprimierenden Gefühle abzuschirmen.“

Dann, mit letzter Spontaneität, tauschte sie die schwarze gegen die rote Karte aus. Von ganz links nach ganz rechts und umgekehrt! Welche Zerrissenheit! Und jetzt der Notruf! Nein, der ist ganz sicher nicht gespielt.

Wer bin ich eigentlich? Wer bin ich wirklich? Ein schwieriger Prozess, sich selbst zu finden. Schon für einen normalen Menschen. Er erschrak. Hatte er gerade Johanna als anormal eingeordnet? Von einem „normalen Menschen“ unterschieden? Warum? Nur wegen der beiden Bäume? Wegen eines einfachen, flüchtigen prospektiven Tests? Wegen Schwarz gegen Rot? Was hatte er mit diesem Mädchen zu tun? Warum sollte, wollte er sich kümmern? Um das Mädchen mit der Gitarre? Helfersyndrom? Ein Flirt mit einer Auszubildenden? Verleugnete er am Ende vor sich selbst, dass er auf ein Abenteuer aus war? Nur Neugier? Ein psychologisches Experiment?

„Hören Sie noch? Sind Sie noch am Apparat?“

Wie von Ferne vernahm er seine Stimme, als ob ein anderer spräche: „Johanna, ich komme. Ich werde heute am Abend noch irgendwann eintreffen. Wann, kann ich noch nicht genau sagen. Vielleicht um sechs. Wir treffen uns am besten im Foyer!“

Den ganzen Tag über war er nicht bei der Sache. Immer wieder stockte er bei seiner Arbeit, glaubte, Gitarrenklänge zu hören. Viel früher, als er es eigentlich ermöglichen konnte, saß er am Steuer. Viel schneller, als er gewöhnlich fuhr, raste er auf der Autobahn nordwärts. 260 Kilometer weit für ein unbekanntes Mädchen. Für das Mädchen mit dem bäuerlichen Gesicht. Für das Mädchen mit der Gitarre. Für das Mädchen mit dem Doppelbaum. Für Johanna.

Noch während er sich - vergeblich - Gedanken machte, wie er vermeiden könne, im Bildungshaus aufzutauchen und eine Auszubildende abzuholen, oder gar mit in ihr Zimmer zu gehen, löste sich das Problem: Johanna kam ihm schon auf dem Weg zum Haus entgegen. Auch sie hatte es nicht abwarten können. Auch sie wollte nicht mit ihm gesehen werden. Hastig stieg sie in sein Auto. In einem Nachbarort kannte er ein sehr gemütliches Lokal in einem urigen Hotel, wo er schon häufig zu Gast war. Dort wollte er Johanna zum Essen einladen. Aber er musste sie fast nötigen, irgendeine Kleinigkeit zu sich zu nehmen.

„Hier können wir nicht sprechen! Können wir nicht woanders hinfahren?“ bat sie ihn. So parkte er schließlich an einem Waldrand.

War sie es, die ihn umarmte? Oder er, der sie umarmte? Wer die beiden beobachtet hätte, dem wäre sonnenklar geworden, dass hier eine Lolita ihrem Lover um den Hals gefallen war. Oder schlimmer noch - ein alter Mann sich mit einem jungen Girl vergnügen wollte.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.

„Schön, dass Sie gekommen sind. Ich kann es gar nicht glauben. Extra für mich? Für eine Verrückte? Sie kennen mich doch kaum. Oder nur zu gut – noch schlimmer! Was müssen Sie von mir denken? Wer bin ich denn für Sie? Jeden anderen müsste ich warnen, er möge sich keinerlei Hoffnungen machen. Kein Flirt. Kein Ranmachen oder wie ich es ausdrücken soll. Ich kenne Sie ja auch nicht. Aber Waldweg und so, Abgeschiedenheit, und dennoch habe ich nicht einen Funken Angst!“

„Vorsicht, Johanna! Mich ehrt dein Vertrauen. Aber du wagst sehr viel! So leicht sieht man es den Menschen nicht an, was sie wirklich im Schilde führen.“

„Was soll mir schon noch passieren? Mir? Es ist doch schon alles passiert, was passieren könnte!“

„Was ist passiert? Gesetzt, du willst es mir erzählen. Ich will keine Wunden aufreißen.“

„Der doppelte Baum – Sie erinnern sich, ich habe einfach Angst. Seit jenem Abend peinigt mich wachsende Angst. Sie müssen wissen, meine Mutter ist in der Psychiatrie. Schizophrene Schübe in immer kürzeren Abständen. Wenn ich sie besuche … manchmal erkennt sie mich und manchmal ich in ihr meine Mutter. Aber immer häufiger weist sie mich ab, brüllt sie mich an, sieht aus, wie eine andere Frau! Und dann zeichne ich bei Ihnen da oben - auch ich spontan - ohne mir viel dabei zu denken, einen doppelten Baum! Erst denke ich, es ist eine harmlose Spielerei, eine belanglose Kritzelei. Dann machen Sie solche Andeutungen, von wegen doppelter Persönlichkeit, zwei starke Charaktere. Und seither kriecht ein Verdacht durch mein Gehirn wie eine giftige Schlange. Ich auch? Ich auch schizophren? Wie meine Mutter?“

Sie begann zu weinen. Ohne Tränen. Schluchzend verkrampfte sich ihr Körper:

„Bitte, sagen Sie mir doch: Bin ich schizophren? Bin ich verrückt? Gehe ich den Weg meiner Schwester?“

Dem Mann wurde heiß und kalt. Das Bäumekritzeln, ein gefährliches Spiel? Das Bäumekritzeln lebensgefährlich? Eingriff in die menschliche Seele mit ein paar Strichen? War er zu weit gegangen? Hatte irgendjemand auf solche Gefahren verwiesen? In Bruchteilen von Sekunden durchwühlten Selbstvorwürfe sein Gehirn. Was hatte er damit angerichtet? Viele hundertmal hatten Seminarteilnehmer Bäume gekritzelt und selbst gedeutet. Um sich selbst besser zu erkennen; denn Umgang mit Zeit und Methodik ist tief veranlagt in ihrer Persönlichkeit. Für fast alle war es ein Spiel, am Abend, in der Weinstube, nach einem anstrengenden Tag mit weitaus seriöseren, differenzierteren Persönlichkeits-Analysen. Und jetzt das? Und dann noch die Sache mit Schwarz und Rot!

„Was ist mit deiner Schwester?“

„Sie ist tot. Selbstmord. Ich habe die Gitarre zerschmettert. Es war ja ihre. Sie erinnern sich, ine Saite war gesprungen. Das war, als redete sie mit mir. Die neue Saite sprang wieder. Es war, als schrie sie mich an, ich solle meine Finger von ihrer Gitarre lassen - wie früher. Ich wollte immer eine haben. Aber dafür war natürlich kein Geld da. Vater sitzt ja im Gefängnis ...“

Es war, als ob sich die Sonne, die glutrot in den Hügeln zu versinken begann, plötzlich verfinsterte. Der Mann krallte sich am Brett der Bank fest, auf der sie sich niedergelassen hatten. Er suchte selber Halt. Legte seinen Arm um das Mädchen. Wollte, dass sie nicht weiter spräche; denn er wusste bereits alles, was noch kommen würde. Dennoch hämmerten ihre Sätze auf ihn ein, jetzt nicht mehr zu stoppen. Jetzt musste alles raus:

„Er hat sich ja über uns hergemacht, als Mutter nicht mehr da war. Erst über meine Schwester und dann über mich. Und jetzt ein doppelter Baum!“

Nun kamen die Tränen, und es war gut, dass es keine Zeugen gab für dieses ungleiche Paar auf einer Bank neben einem Feldkreuz, das jemand mit einem Margeritenstrauß geschmückt hatte. Nach Sonnenuntergang. Für den Mann und das soviel jüngere Mädchen, dessen Körper von Krämpfen geschüttelt wurde. Eine Szene, die so gar nichts hatte von einer Lolita und ihrem Lover. Ihr Weinen, ihr Schluchzen hätte zu allerhand Missverständnissen Anlass geben können, wäre jemand des Weges gekommen und hätte gesehen, wie das Mädchen den Mann und der Mann das Mädchen umklammert hielt.

„Jetzt bist du ganz allein?“

Johanna nickte nur. Sprachlos, hoffnungslos. Angsterfüllt.

„Nein ... du bist nicht mehr allein, Johanna. Ich weiß nicht, wo du wohnst. Ich kenne deinen Nachnamen nicht. Aber ich lasse dich nicht allein ...“

Was er so dahin sagte, mehr um sich zu beruhigen, um seine Hilflosigkeit zu betäuben, um wenigstens irgendetwas zu sagen auf diesem Weg, über den sich eine schnelle Dunkelheit gebreitet hatte. Er hatte sein Jackett um sie gelegt. Um die fremde Tochter mit der gespaltenen Persönlichkeit. Was würde er denn tatsächlich für sie tun können? Außer schöne Worte zu sagen?

Im Auto kramte er nach einem Stift, um ihre Adresse zu notieren. Kirchbauer, Johanna Kirchbauer. Noch gemeldet in Bad Aibling. Jetzt für die Zeit ihrer Lehre in Manching. Ein Zimmer, möbliert. Vater für viele Jahre - wahrscheinlich noch vier, fünf Jahre - im Gefängnis. Die Mutter in der Anstalt, vermutlich für immer. Die Schwester auf dem Friedhofsteil für Selbstmörderinnen – in ungeweihter Erde.

Dabei musste er sie gleich wieder allein lassen. Dabei konnte er doch fast nichts ausrichten. Dabei konnte er nichts ungeschehen machen. Dabei konnte er sie nicht retten. Dabei hatte er durch sein Bäumchen-Spiel alles noch viel schlimmer gemacht. Selbst, wenn er gewollt hätte, er hätte sie nicht mitnehmen können, nicht mitnehmen dürfen. Johanna musste allein zurückbleiben. Was sonst? Mit der kranken Mutterseele allein.

Johanna. Als er sie auf dem Parkplatz vor dem Bildungshaus wieder absetzte, hätte er beinahe vergessen, dass er ihr Schokolade, einen kleinen Malblock und einen Aquarellfarbkasten mitgebracht hatte. Dann fiel sein Blick auf einen kleinen silbernen Ring, den er mal auf der Straße gefunden hatte, keinen Wertgegenstand. Der baumelte an einem Band unterm Rückspiegel. Wortlos nahm er ihn ab und schob ihn auf Johannas Ringfinger.

„Vielleicht“, sagte er zum Abschied zu Johanna, „vielleicht hast du ja die Gnade, in zwei verschiedenen Welten zu leben, die beide lebenswert sind. Du darfst dich nur nicht dagegen auflehnen! Und denke daran: Du bist nicht mehr allein. Wirklich nicht. Ehrenwort. Ich komme dich bald wieder besuchen. Sobald ich kann. Vielleicht fahre ich auch gar nicht mehr nachhause, sondern suche mir hier ein Hotel. Dann bin ich wenigstens nicht gar so weit weg von dir.“

Als er Johanna im Rückspiegel auf dem Parkplatz verschwinden sah, verließen ihn alle Kräfte. Auf einem Parkplatz versuchte er sich zu sammeln. Versuchte er, etwas abzuschütteln, was nicht mehr abzuschütteln war. Es gab nur zwei kleine Hotels im Ort. Aber kein Zimmer für ihn.

Johanna - das Mädchen Doppelbaum

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