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Spätsommer in Peking

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Als Helen die bunten Vorhänge mit viel Schwung und einem anfeuerndem “Guten Morgen, Zeit für die Schule!” zurückzog, zeigte sich Peking von seiner besten Seite. Stahlblau ohne Dunst oder Wolken hing der Himmel über den großen Häusern ihrer Straße. Die Blätter des Gingko vor dem Fenster wiegten sich sacht im Herbstwind. Der dicke Fahrer von gegenüber war dabei, die silberne Limousine abzureiben.

Paul blinzelte schläfrig gegen die goldenen Sonnenstrahlen, die ihn aus dem Bett scheuchen sollten. Heide zog sich ihr geblümtes Kissen über das Gesicht. Es war Montag und das gefiel Helen richtig gut. Gleich wären die Kinder in der Schule und Robert in seinem Büro und damit wäre sie nicht mehr für jedes Gezanke zuständig und für die nächsten fünf Stunden würde niemand von ihr Snacks oder Mittagessen erwarten.

Inzwischen waren schon zwei Jahre in Peking vergangen und sie waren immer noch da. Die Kinder hatten sich gut eingefunden, die Privatschule war fantastisch. Robert hatte ein neues wichtiges Projekt übertragen bekommen und so hatten sie noch für ein Jahr verlängert. Ihr altes Leben in Deutschland schien schon unwirklich weit weg.

Als dann eine knappe Stunde und einiges Gezeter später, “Mama, die Socken kratzen so schrecklich!”, “Mama, Paul hat meinen Rock versteckt!”, die Schuluniformen angezogen sowie die Zähne geputzt waren, und auch Heide ihre rosa Wasserflasche unter dem Sofa wiedergefunden hatte, konnte sie mit den Kindern in die Schule radeln.

Auf dem Weg zum großen Tor ihrer Wohnanlage trafen sie schon die nachbarlichen Schulkameraden mit ihren Muttis. In den wenigsten ausländischen Familien hier arbeiteten beide Eltern. Es war überaus aufwendig, schon alleine wegen des Visums, für beide Elternteile einen Job in China zu finden und so hatte es sich bei vielen ergeben, dass nur ein Partner arbeitete. Vor allem bei denen mit kleineren Kindern, blieben meistens die Frauen zu Hause. Die gelebte Idylle einer bayerischen Partei: Mama mit den Kindern daheim, während Papa hart für den Welthandel arbeitet. Und dass obwohl viele von den Frauen davor respektable Karrieren hatten.

An der Ampel warteten fünf geduldige Männer mit neongelben Helmen und Warnwesten auf die Grünphase. Deren Aufgabe war, alle sicher über die Fußgängerampel zu geleiten. Als sie das Aufgebot zum ersten Mal erblickte, hatte Helen gedacht, sie sieht nicht richtig. Aber nun wusste sie, dass ohne die Schülerlotsen die Schüler bestimmt bald Mangelware an der Schule wären. Eine rote Ampel hielt die wenigsten Autofahrer in den dicken Limousinen davon ab, sich noch schnell vor den Schulkindern über die Kreuzung zu drücken.

“Hallo Lisa! Wie war Dein Wochenende?” Ihre Kinder rollten mit den Augen. Das war das allerletzte, wenn die Mütter mit dem Quatschen anfingen. Kaum waren sie über der Straße, rannten die Kinder mit ihren Freunden schon mal los und sie ging mit Lisa gemächlich hinterher.

Lisa stand heute Morgen schon wieder wie aus dem Ei gepellt vor ihr. Die langen schwarzen Haare ordentlich geföhnt und sogar Make-up aufgelegt. Verlegen hielt Helen die Wasserflasche etwas höher, damit man wenigstens den Zahnpastafleck auf ihrem verwaschenen T-Shirt nicht sah.

Lisa hatte am Wochenende die erstaunlichste Menge an Aktivitäten erledigt. “Am Samstag nur das übliche mit den Kids: Tennis, Golf und Schwimmen. Wir haben endlich einen besseren Tutor für Chinesisch gefunden, der kann sogar gleichzeitig zum Klavierunterricht kommen. Da spielt der eine Klavier und die andere übt Mandarin und dann wird gewechselt. Weil es so schönes Wetter war, sind wir am Sonntag in die Duftberge gefahren und haben zusammen mit Horden von Chinesen ein Picknick im Freien gemacht. Am Freitag Abend haben wir uns mit Freunden in diesem neuen Tapas Restaurant in Sanlitun getroffen. Die haben uns noch Tickets für ein Zitherkonzert in der Botschaft. geschenkt. Das war nicht schön aber selten.” Lisa kicherte. “Und, was hast Du gemacht?”

Helen strich sich verlegen die Haare zurück: “So viel jedenfalls nicht! Robert war dieses Wochenende einmal zu Hause und hatte keinerlei Termine, noch nicht einmal einen klitzekleinen Empfang, da konnten wir es ruhig angehen lassen. Wir waren im Park und haben Drachen steigen lassen. Dann die unvermeidlichen Geburtstagspartys.”

Helen ging viel lieber raus ins Grüne. Diese Partys, wo man am Wochenende in Konferenzräume eines Hotels eingeladen wurde um sich mit schlabbrigen Fritten und pastellfarbenen Hüpfburgen zu vergnügen, deprimierten sie. Helen rollte mit den Augen.

Aber Lisa lachte nur und wechselte lieber das Thema: “Gehst Du nachher noch zum Elterncafé? Da gibt es einen Vortrag über Mathe und moderne Medien oder so.”

Erst vor kurzem hatte Helen im Wartezimmer beim Arzt in einer Zeitschrift für Frauen ihres Alters wieder so einen herrlich fachmännischen Artikel darüber gelesen, dass heute schon Grundschüler im Stress seien. Der zitierte Psychologe überraschte wohl niemanden, der Kinder hatte, mit seiner Analyse: “Heutzutage definieren sich Eltern viel stärker über ihre Kinder.”

Sie ließ einen Blick über die Anwesenden schweifen: wer hauptsächlich deshalb in Peking war, damit der Partner hier Karriere machte und weil die Schule der Kinder so hervorragend war, der durfte das alles dann auf keinen Fall schleifen lassen. Helen stellte sich vor, dass es bei Brieftaubenzüchtern ähnlich sein musste. Dort gewann man wahrscheinlich auch soziales Ansehen und fand seinen Sinn im Leben wenn die eigenen Tauben den Langstreckenflug gewannen. Bei diesem Thema würden bestimmt alle gebannt zuhören, wie man noch besser auf die vorderen Plätze kam!

Lisa wollte Helen gleich mitschleppen, aber Helen drückte sich: “Den habe ich letztes Jahr angehört. War echt interessant.” fügte sie höflich hinzu. “Ich wollte einiges erledigen, bevor schon wieder die Oktoberferien anfangen und man zu gar nichts kommt. Was macht Ihr denn in den Ferien? Bali? Korea? Vietnam? Mauritius?” Helen hatte vollends den Überblick verloren, wohin in der nächsten Woche alle fuhren.

“Wir bleiben hier. Freunde von uns kommen ein paar Tage auf Besuch und da wollen wir mit denen rumfahren. Du weißt schon. Das übliche Programm: Verbotene Stadt, Sommerpalast, Himmelstempel und so. Bist Du nicht auch da? Wenn der Besuch wieder weg ist, könnten doch wir zusammen einen Ausflug machen. Wenn man mit mehreren geht, brechen die Kinder vielleicht auch nicht schon auf den ersten hundert Metern zusammen, sondern laufen tatsächlich den ganzen Weg.”

“Ein hervorragender Plan, Lisa!” Helen war gleich mit dabei. Sie liebte Ausflüge. Und mit Lisa allemal, die war immer so organisiert. “Klar, Mittwoch? Keine Wanderung ohne Picknick, ich bringe echte Landjäger vom deutschen Metzger mit ok? Heide und Paul werden sich freuen, wenn sie nicht alleine wandern müssen.” Das war eine glatte Lüge, Heide und Paul freuten sich nie, wenn sie wandern gehen sollten. Wenn sie erst einmal unterwegs waren, gefiel es ihnen dennoch meistens. Aber am besten würde sie es ihnen am Mittwoch erst beim Frühstück beichten. Dann könnten sie sich gar nicht mehr schnell genug erkälten, um sich vor der Wanderung zu drücken.

“Kommen Sam und Abby denn auch mit?” fragte Helen noch vorsichtshalber. Abbys Sohn war mit Paul in einer Klasse. Beste Freunde waren die zwei nicht. Da sollte man besser einen Weg ohne steile Abhänge wählen…

“Nein, die wollen in den Süden fahren. Außerdem weiß ich doch, dass Du dann die ganze Zeit an Paul dran bist, weil die Jungs sich ohne Ende streiten.” Sie fügte fröhlich hinzu: “Wir wollen doch alle Spaß haben beim Ausflug!”

Lisa war einfach immer gut gelaunt. Fast unheimlich. Ob das vom vielen Yoga kam? Helen hellte sich lieber mit Zucker die Stimmung auf. Tagsüber natürlich nur als Schokolade, abends dann aber gerne im vergorenen Zustand…

Noch als sie darüber nachdachte, kam prompt Abby dazu: “Hallo Ihr Zwei! Sag mal Lisa, gehst Du heute denn zum Yoga…?”. Jetzt war klar der Zeitpunkt gekommen, sich schnell zu verabschieden. Sonst würden die beiden sie am Ende wieder mal fragen ob sie nicht mitkommen will!

Abby war auch eine von den ehrgeizigen und dynamischen Eltern, da konnte man schnell ins Fettnäpfchen treten mit Kommentaren wie: “Findet ihr es nicht auch total albern, dass manche Eltern nun Französisch als Lehrsprache im Kunstunterricht wollen?” Denn das konnte dann leicht ein Vorschlag von genau so einer rasanten Mutter sein. Helen war an einem Montag Morgen noch nicht diplomatisch genug für solch diffizile soziale Interaktion.

Als sie eben zum großen roten Schultor rauswollte, fiel ihr auf, dass sie immer noch Heides Wasserflasche in der Hand hielt. Sie ging noch einmal zurück zum Klassenzimmer ihrer Tochter. Bei ihrem zweiten Anlauf, die Schule zu verlassen, musste sie noch geschickt einem Schwarm gestylter Mütter ausweichen, die geschäftig zum Elterncafé unterwegs waren. Man konnte locker den ganzen Tag an der Schule verbringen. Es gab immer eine Beschäftigung für Eltern. Sie hatte letztes Jahr bei der Elternvertretung in der Schule mitgemacht und sie hätte in der ganzen aufgewendeten Zeit auch einen ordentlichen Job machen können. Es war total erstaunlich, wie kompliziert einfache Sachen werden konnten, wenn alle Beteiligten sonst nichts zu tun hatten. Und ehe man sich versah, waren die Jahre vergangen und man hatte nichts anderes als Kinder, Einkaufen und Familie gemacht.

Entschlossen radelte Helen nach Hause. Die Sonne wärmte sie ganz wunderbar am Rücken. In ihrem Garten blühten die Rosen und sogar eine letzte Sonnenblume hielt sich noch tapfer. Jetzt war der schönste Teil des Tages. Alle aus dem Haus, ganz in Ruhe am Fenster zum Garten sitzen, einen Kaffee trinken und ihre Gedanken sammeln.

Obwohl ständig irgendwas los war an der Schule und in der Nachbarschaft, war das immer so Kleinkram, der einen beschäftigte aber nicht ausfüllte. Lieber stöberte Helen im Internet und in Zeitschriften nach Tipps für interessante und neue Orte. Sie liebte Neueröffnungen, Ausstellungen oder Seminaren, die sie in die Stadt führen würden. So etwas wie Peking musste man erforschen. In dieser Stadt änderte sich ständig so viel; wenn man in einem Geschäft etwas kaufen wollte, sollte man das besser sofort tun. Oft verschwanden Läden einfach ohne Ankündigung. Einmal hatte sie ihr Seidenkleid in der Reinigung drei Wochen lang vergessen. Als sie es dann endlich abholen wollte, gab es das Haus mitsamt Reinigung einfach nicht mehr. Nichts musste so bleiben, wie es war.

Ihr machte es Spaß, den Wandel zu verfolgen. Soviel konnte man gar nicht essen, wie es coole neue Restaurants und Cafés gab. Hier draußen im Vorort war immer alles gleich und auch wenn ständig Leute dazu und wegzogen: es war eine kleine Insel von reichen Ausländern. Hier passierte einfach nie etwas. Und auftretende Nichtigkeiten wurden in aller Breite zwischen Bushaltestelle, deutschem Bäcker und Fitnessraum ausgetauscht. Wenn man es sportlich nahm, war es wie ‘Stille Post’ für Fortgeschrittene. Das war zwar bisweilen amüsant, konnte sie aber nicht ausfüllen.

Wie wenig konnte Helen zu dem Zeitpunkt ahnen, dass diese Ruhe bald ein überraschendes Ende nehmen würde!

Am späten Vormittag fuhr Helen nach Sanlitun. Natürlich fuhr sie nicht selbst. Es war einfach unmöglich, einen Parkplatz zu finden, sondern Herr Lin fuhr sie. Von der Firma hatte Robert ein großzügiges Gehaltspaket, das auch die Privatschule, Villa, Krankenversicherung und sogar die unvermeidlichen Luftfilter umfasste. Derartig sorgenfrei musste man sich dann einfach andere Probleme schaffen...

Schon lange traf sie sich jeden Montag mit Ruth zu Mittag. Ihre Männer waren Arbeitskollegen gewesen, deshalb hatte ihnen Ruth, die schon lange in Asien lebte, beim Umzug mit praktischen Tipps viel geholfen. Da Ruths Kinder schon aus dem Haus waren, hatte sie viel Zeit gehabt und sie waren sich sehr sympathisch gewesen. Als dann plötzlich Ruths Mann Carl starb, hat Helen ihr Beistand geleistet und daraus sind ihre wöchentlichen Treffen gewachsen.

Oft lachte Helen mit Ruth über die skurrilen Gesprächen an der Haltestelle zum Schulbus, oder über die Eifersüchteleien unter den Nachbarn. Hier musste sie sich nicht immer wohlanständig geben.

Helen hat schon immer gerne Leute beobachtet. Aber auch wenn Peking 20 Millionen Einwohner hatte - in ihrer gegenwärtigen Lebenswelt war es wie auf dem Dorf und da sollte man mal lieber nicht zu laut spotten. Jeder kannte jeden und über irgendeine Ecke wurde alles immer weiter getratscht.

Ruth saß schon im Restaurant und betrachtete die schwere Karte mit den vielversprechenden Fotos von den zu erwerbenden Teigtäschchen, Nudelsuppen oder dem kalten Quallensalat. Es war voll.

Mitten im Botschaftsviertel hörte man viele Sprachen. Bei den stark geschminkten Damen mit sehr blonder Mähne und übergroßen Lederhandtaschen tippten sie auf Russisch, die schwarzen Anzüge und korrekten Schlips verrieten die japanischen Geschäftsleute.

Auch ein paar Touristen waren hier mit Turnschuhen, bunten T-Shirts und ihrem Geld im Bauchbeutel. Ihre lauten Stimmen befanden alles für “Fantastisch!”, “So aufregend!” und “Verblüffend”.

Helen und Ruth schauten sich nur an und mussten schmunzeln. Das Befreiende an Peking war, dass die Kleiderordnung völlig aufgehoben war. Bei Markenartikeln wusste man ohnehin nicht, ob die echt waren oder gefälscht. Pinke Stiefeletten zum Cocktailkleidchen waren zum Mittagessen genauso normal wie Strass-besetzte Jogginghosen.

Über ihnen hing ein Fischschwarm aus Porzellan und die Bedienungen trugen adrette blaue Uniformen mit kleinen Schiffchenmützen mit dem Schriftzug des Restaurants. Schnell wurde Helen auch ein heißes Handtuch gereicht, mit dem sie den Staub der Straße loswerden konnte.

Nach den üblichen Begrüßungen rückte Ruth sich die Lesebrille zurecht, strich sich ihre Baumwollbluse gerade und verkündete: “Helen, Herzchen, ich befolge Deinen Rat und öffne mich der Welt. Diese neue Kollegin von mir, Sonya, die hat mich dazu überredet, mit ihr über die Feiertage erst nach Singapur und dann auf eine Insel dort ums Eck zu fahren. So kann ich mich noch einmal so richtig schön aufwärmen, bevor der kalte Winter kommt! Du weißt ja, wenn man so wie ich älter wird” Sie lachte.

Helen wusste wirklich nicht, warum Ruth sie 'Herzchen' nannte, aber es gefiel ihr, dass sie offensichtlich noch jemand für jung und niedlich hielt. Das war Balsam für ihre Seele, wenn einen bereits die Kinder fragten: “Mama, hast Du eigentlich schon gelebt, als es die Dinosaurier gab?”

“Das ist ja schön, Ruth! So lange habe ich schon gesagt, Du sollst Dir mal was gönnen und auf andere Gedanken kommen. Ich bin ja so neidisch! Und wir werden Dich natürlich vermissen, wenn wir Dich beim Ausflug nicht dabei haben. Mach nur recht viele Fotos und sag mir, ob wir da mit den Kindern auch mal hinsollten!”

Normalerweise verließen alle Ausländer an der Schule die Stadt sofort am ersten Ferientag und kamen dann zwei Tage nach Schulbeginn wieder zurück. “Wir haben das dieses Mal ja nicht besonders gut hinbekommen mit den Buchungen über die Feiertage. Nun wollen wir hoffen, dass es ein goldener Oktober wird und wir uns im Umland von Peking vergnügen können. Dafür sollten wir mindestens im Winter in die Schweiz jetten sonst können sich die Kinder in der Schule nicht mehr blicken lassen.”

Ruth zuckte mit den Schulter: “Ich weiß auch nicht genau, wieso ich ausgerechnet zur Hauptsaison fahre aber es war einfach so nett von Sonya mich zu fragen. Und sie hat wirklich ein gutes Angebot gefunden.” Sie kicherte: “Ich bin auch top modern und wohne in Singapur in einem privaten Loft. Auf der Insel gibt es irgendwo ein Ferienressort, was von sich behauptet, unglaublich Öko zu sein. Ich werde Dir berichten. Falls sich Deine Kinder schämen, dass sie nicht weg waren in den Ferien, kann ich ihnen meine Fotos zum Angeben leihen…”

Ruth fotografierte gerne und lobte auch Heide und Paul, wenn die ihr gute Fotos schickten. Die neueste App musste Ruth natürlich auch immer haben. “Ruth, ich hoffe, ich bin auch noch so flott und immer auf dem letzten Stand wie Du, selbst wenn die Kinder aus dem Haus sind!” Dann musste sie das der Wahrheit halber korrigieren: “Oder ich will wenigstens jetzt schon mal in die Richtung anfangen…”

Wie immer hatten sie ein sehr vergnügliches Mittagessen. Nur allzu schnell war ihre gemeinsame Zeit wieder vorbei. “Nächste Woche sehen wir uns nicht. Aber dann in zwei Wochen wieder hier an gleichem Ort zur gleichen Zeit!”

Helen hatte beschlossen, etwas an ihrem Leben zu ändern. Früher hatte sie noch ihren Kopf bei der Arbeit eingesetzt, aber vor kurzem ertappte sie sich dabei, wie sie mit einer Freundin über die Tücken von Einlegesohlen viel zu lange philosophierte. Da musste sie sich schämen. Es gab ja wirklich größere Probleme auf der Welt! Schließlich hatte sie nicht studiert und jahrelang gearbeitet, nur um dann ausschließlich den Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.

Nachdem sie am Mittwoch die Kinder in die Schule gebracht hatte, setzte sie sich hin. Sie schaute sich um: der Esstisch war maßgefertigt mit reichlich Platz für Besuch von Freunden. Die Bilder an der Wand hatte ein Mensch auf dem Blumenmarkt nach ihren Farbwünschen gemalt. Das Haus war so viel größer als ihre Wohnung in Deutschland, dass ihre Möbel zu Anfang darin ganz verloren ausgesehen hatten. Möbelkaufen in China war nichts für Entscheidungsschwache. Alles war verhandelbar. Was würde wohl der deutsche Möbelhändler sagen, wenn man ankam und sagte: 'Ich möchte so einen Schrank, aber in einer anderen Farbe, mit zwei Schubladen mehr, eine Handbreit schmaler und etwas billiger. Geht das in drei Wochen?'

Helen machte sich schon Sorgen um ihre Integrationsfähigkeit, wenn es mal zurück in die Heimat ging. Ein Grund mehr, wenigstens beruflich auf dem Laufenden zu bleiben!

Helen rückte den Stuhl entschlossen zurecht und nahm sich Bewerbungsratgeber und Heft zur Hand. Sie hatte noch nicht ganz den Stift auf dem Papier, da hörte sie schon die Tür gehen und Liao Ayi polterte rein. Groß und kräftig gebaut, trug sie in sich das Erbe der Nomadenstämme aus dem Norden. Ihr breiter, voller Mund lachte gerne und sie wusste immer sehr viele Sachen zu erzählen.

Helen glaubte, dass es vor allem ihre redselige Ayi gewesen war, die ihr so bei ihrem Sprachstudium geholfen hatte. Der Haushalt hatte Helen schon immer geschreckt, deshalb hat sie sich gleich bei einer Sprachschule eingeschrieben. Ihre Ayi sprach nur wenig Englisch und das reichte ihr auf keinen Fall Helen all die vielen Dinge zu erzählen, die sie erlebt und gehört hatte. Da musste Helen fleißig lernen, um ihren Berichten folgen zu können.

Helen hätte manchmal lieber eine schweigsame Ayi gehabt, aber Lisa beharrte: “Das ist doch richtig gut für Dich! Sonst kannst Du gar nicht üben und lernst es nicht ordentlich. Dann bist Du eine von denen, die nur die Zahlen sagen und immer paranoid davon ausgehen, dass sich alle Anderen auf chinesisch über sie lustig machen.” Helen musste ihr Recht geben.

“Guten Morgen Taitai! Sind schon alle aus dem Haus? Sind die Kinder gesund?” Liao Ayi schien heute besonders gut aufgelegt zu sein. Helen legte resigniert den Schreiber zur Seite und machte sich auf das Briefing gefasst.

“…und dann kam schon wieder mein Vermieter zu mir. Das ist ein alter Kerl, der macht mich verrückt. Wenn der kommt, dann redet und redet der! Ich musste ja noch jede Menge Dinge erledigen. Die Feiertage kommen bald und da wollte ich ein paar Geschenke kaufen, wenn ich nach Hause fahre. Aber der ging einfach nicht weg. Da musste ich freundlich bleiben und ihm Tee einschenken. Du meine Güte, ich werde doch nicht wieder umziehen müssen?”

Liao Ayi hatte eine lange unglückliche Geschichte mit Vermietern hinter sich und musste ständig umziehen. Sie kam aus dem Norden, war kein offizieller Einwohner Peking und daraus ergaben sich jede Menge Komplikationen. Zwar wurde in der ganzen Stadt so rasant gebaut, dass ein Ameisenhaufen dagegen wie ein verschlafenes Nest aussah. Aber exklusive Wohnungen warfen so hübsche Renditen ab, da wurde der billige Wohnraum knapp. Auch der Vermieter ihrer Ayi überlegte nun schon länger, sein Haus aufzumotzen oder noch ein Stockwerk aufzusetzen. Natürlich wusste Helen genauestens über ihn und seine Baupläne Bescheid. Der alte Kerl war wahrscheinlich nur einsam, aber jedenfalls kam er wohl ständig bei der Ayi vorbei und beschwerte sich über ihren Roller vor dem Haus oder die Schuhe im Treppenhaus. Helen fand es irgendwie beruhigend, dass die Leute überall auf der Welt sich über die gleichen Kleinkram stritten.

Ihre Ayi wollte über die Oktoberferien, die auch “Goldene Woche” hieß, weil ganz China frei machte, nach Hause fahren. Dort hatte sie ein hübsches Haus gebaut: “Sogar mit Zentralheizung, da haben die Nachbarn gestaunt!”. Weil sie kein regulärer Einwohner Pekings war, sondern nur zugezogen, hatte auch ihr Sohn keine Registrierung in der Hauptstadt. Deshalb musste er in der alten Heimat zur Schule gehen und lebte dort mit seinen Großeltern. Kam sie nach Hause, war es Zeit sich dort bei Freunden und Familie zu bedanken. Mit ihren paar hundert Euro Monatseinkommen war sie auf dem Dorf ein Krösus. Liao Ayi schimpfte auch schon über all die Verwandte, die dann bei ihr herumhocken würden und zum Essen eingeladen werden wollten. Helen musste lachen: “Ach komm, Du freust Dich doch, dass alle gerne zu Dir kommen!”

Liao Ayi grinste verschmitzt. “Wenigstens kann ich dann mal wieder all die leckeren Dinge kochen, die Deine Kinder hier nicht essen wollen.” Dann fiel ihr ein: “Taitai, hast Du schon gehört, Cora sucht eine neue Ayi? Die Nachbarin meiner Freundin hat sich dort vorgestellt. Arbeitet nicht Wang Ayi immer noch dort? Haben die beiden sich jetzt endgültig verkracht?”

Helen vermutete eher einen Anflug von Preisdrückerei: Locker entsprach der Preis für den bequemen Oktoberurlaub dem Jahresgehalt einer Ayi. Dennoch wurde unter den Leuten verblüffend viel Zeit damit verbracht, die Gehälter für Ayis zu vergleichen. In China war es Ehrensache, billig einzukaufen. Nur neu zugezogene Schäfchen ließen sich auf dem Seidenmarkt übers Ohr hauen. Bald lernte man, dass alle über einen lachten, wenn man zu viel bezahlte. Und von seiner Ayi ausgelacht werden, wollte man erst recht nicht. Cora hatte wirklich recht großzügig bezahlt. Wollte sie nun an dieser Stelle einen Zehner sparen?

Helen beruhigte ihre Ayi: “Vielleicht schaut sie sich nur mal um? Cora hat eine Schwäche für günstige Gelegenheiten... Wenn sie wirklich suchen würde, dann hätte ich das sicher gehört oder es wäre über den Gruppenchat gegangen.”

Cora lebte gegenüber. Sie war keine enge Freundin von Helen und Helen wollte es auch nicht so weit kommen lassen. Cora hatte eine spitze Zunge und sie konnte ganz schön niederträchtig sein, wenn man dem Gerede Glauben schenken durfte. Da hielt sie lieber Abstand.

Liao Ayi sprach dann noch kurz über die Preisentwicklung beim Gemüse dann war ihre Mandarin-Übungsstunde vorbei und sie konnte endlich ihre Jobsuche planen.

Bleicher Jasmin

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