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Der tiefe Schlaf

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Auf ihrem brandneuen, schnittigen Elektroroller sorgte sich Wang Ayi, ob sie es wohl pünktlich schaffen würde. Es war die zweitletzte Ampel vor dem Villenkomplex. Sie fühlte die Tasche ihrer neuen silbergrauen Daunenjacke mit dem weichen Pelzkragen: ihren Ausweis hatte sie dabei.

Obwohl sie schon lange in der Anlage arbeitete, wurde sie häufig bei der Einfahrt kontrolliert. Die Sicherheitsbeamten wechselten ständig und die, die sie eigentlich schon längst vom Sehen kannten, freuten sich, wenn sie Autorität ausspielen konnten. Schon manches Mal hatte es Streit am Eingang zwischen einer Ayi und einer Wache gegeben. Die Wachen mussten den ganzen Tag in Hitze oder Kälte draußen stehen, aber an dieser einen Stelle hatten sie endlich auch mal ein bisschen was zu sagen. Das wollten sie sich nicht nehmen lassen: “Na, haben wir denn unseren Dienstausweis dabei? Lass mal schön sehen!” Nie würden sie sich trauen, einen westlich aussehenden Ausländer oder einen Chinesen in einer schwarzen Limousine so forsch zu behandeln. Jedoch, wenn einer auf seinem klapprigen Dreirad kam um Pakete auszuliefern oder Pappkartons einzusammeln, dann konnten man den herrlich aufhalten. Viele Ayis straften die Wachleute mit Verachtung, wenn sie in den großen Villen arbeiteten und die auf der Straße ihre Runden drehten. Deshalb konnte im Gegenzug hier am Eingang im Namen der Sicherheit genüsslich Ausgleich geschaffen werden.

Zwei halbe Stellen waren manchmal ganz schön schwer zu organisieren. Und heute ging wirklich zu viel schief! Bei ihrer morgendlichen Stelle dauerte es oft ein bisschen länger. Ihre morgendliche Arbeitgeberin wollte auf keinen Fall das Geld für eine ganztägige Ayi ausgeben, obwohl sie sich das locker leisten konnte. Stattdessen versuchte sie, in die vier Stunden Arbeitszeit möglichst viele Aufgaben zu quetschen. Wang Ayi musste sich höllisch sputen, damit sie alles fertig bekam und rechtzeitig bei ihrer nächsten Taitai ankam. Heute hatte wieder mal das Baby in letzter Sekunde seinen Brei auf den Boden geworfen. Da musste noch mal der Mop rausgeholt werden. Wenn der Laster vor ihr nicht bald mal aus dem Weg fuhr, würde sie doch noch fünf Minuten zu spät kommen.

Am besten wäre für sie eine Vollzeitstelle aber nun hatte sie eben nur zwei halbe Stellen. Sie brauchte das Geld dringend von beiden Jobs, ganz besonders jetzt, wo sie sich eine größere Unterkunft gemietet hatte. In ihrem neuen Zuhause hatte sie nun eine kleine Kochstelle und einen eigenen Wasseranschluss im Zimmer. Ihr Mann wollte noch Platten auf den Betonboden legen und wenn es sich ergab, konnten es sich nach und nach etwas ausbauen. Vielleicht ergab sich noch eine Möglichkeit für warmes Wasser im Winter!

Insgesamt waren die westlichen Taitais schwer zu begreifen. Was machten fünf Minuten aus, wenn die eh den ganzen Tag zu Hause waren? Überhaupt hatte sie schon oft mit den anderen Ayis darüber gelacht, wie genau besonders die deutschen Taitais alles nahmen. Die hatten schon alleine tausend Vorschriften für das Einräumen vom Kühlschrank. Man lernte mehr über die Leute, als man manchmal wissen wollte, wenn man ihre schmutzige Wäsche wusch und den Müll leerte. Die Taitai vom Nachmittag war auch so eine ganz Komplizierte!

Wang Ayi arbeitete eigentlich gerne für westliche Ausländer. Die zahlten gutmütig mehr und verlangten viel weniger als die lokalen Arbeitgeber. Sie hatten ihr auch gleich den Code für das Türschloss gegeben, dass sie auch im Haus arbeiten konnte, wenn keiner da war. Wang Ayi gratulierte sich dazu, dass sie recht gut Englisch gelernt hatte. Und sie hatte sich auch gut eingehört in das eigentümliche Englisch der Deutschen. Denn die hatten oft einen starken Akzent. Auf der positiven Seite kannten die selbst auch nicht so viele komplizierte Wörter, da konnte man sich gut verständigen. Das alles hatte ihr zu einem recht komfortablen Leben verholfen. Cora konnte einen manchmal mit ihren spitzen Kommentaren und peniblen Anforderungen in den Wahnsinn treiben, aber davon wollte sie sich nicht abschrecken lassen.

Endlich wurde die Ampel grün und sie konnte blitzschnell vor dem anfahrenden Gegenverkehr links rüber kreuzen. Noch ein bisschen in der Gegenfahrbahn und sie war schon da. Vier Minuten nach ein Uhr stand sie vor dem mächtigen schmiedeeisernen Tor der Anlage. Als Cora das letzte Mal gemeckert hatte, war sie auch nur ein Viertelstündchen zu spät gewesen. Ah, endlich lief heute mal eine Sache gut. Die gelangweilte Wache hat sie einfach nur durchgelassen. Sie war nicht wirklich zu spät!

Zweimal rechts und dann war sie schon in der Straße mit den Häusern Nummer 336 bis 368. Die Zahl vier klingt auf Chinesisch wie tot und da wollte natürlich keiner wohnen. Das führte dazu, dass sie in Haus Nummer 338 arbeite, das neben 350 stand. Bis auf die Hausnummern sahen die Häuser fast alle gleich aus. Trotz des Namens “Jasmin-Garten” hatte der Architekt wohl an Italien gedacht. Die Häuser waren in rot, ockerfarben oder gelb gehalten, die Betonfassaden waren verschönert mit kleinen Erkern, aufgemalten Fensterläden und einem kleinen Portiko. Verwitterte Säulengänge und ausladende Brunnen zierten die Grünflächen. Die Villen waren mit ihren drei Stockwerken plus Keller riesig. Da gab es ganz schön was zu putzen.

In einer kargen Ebene gelegen, gab es in Peking eigentlich immer viel Wind, der Staub und Erde mit sich brachte. Traditionell waren alle Häuser hier grau gestrichen. Da konnte es viele Jahre hinwehen und die Farbe harmonierte ideal mit ihrem Staubbelag. Das war mit den ockerfarbenen Wänden ganz anders. Über allem hing schnell ein grauer Schleier, aber dank dem unermüdlichen Einsatz einem großen Heer von Ayis waren sogar die Briefkästen und die Mülltonnen staubfrei.

Wang Ayi atmete erleichtert aus, als sie gerade noch rechtzeitig vor der erst letzte Woche gewienerten Glasfront anhielt. Sie winkte der Nachbarin von gegenüber zu, die an den Blumen vor ihrem Haus werkelte. Wieso die immer in so alten Klamotten herumlief und nicht den Gärtner das Unkraut zupfen ließ? Hatte die so eine faule Ayi? Peinlich war das! Manchmal waren Ausländer nicht leicht zu begreifen. Ihre Taitai war zwar anstrengend, aber immerhin beschämte sie nicht durch dreckige Klamotten oder indem sie auf der Straße niedrige Arbeiten erledigte.

Während sie ihre hohen Schuhe vor der Türe auszog, malte sich Wang Ayi aus, wie schön sie sich auf ein nagelneues Sofa setzen würde, wenn sie das Geld einer Taitai hätte. Dann würde sie den ganzen Tag keinen Finger heben, einen großen Fernseher würde sie dann haben und nie mehr kochen. Und dann würde sie den Fahrer bestellen und mit der glänzenden Kreditkarte Kleider im letzten Schrei einkaufen und anschließend zur Maniküre stolzieren.

Dieser Tagtraum wurde unterbrochen, denn beim Reinkommen stellte Wang Ayi überrascht fest, dass Licht brannte, Musik spielte und die schweren Gardinen im Wohnzimmer zugezogen waren. Noch mehr wunderte sie sich, dass die Taitai ihr nicht antwortete, obwohl sie deutlich ihre rotlackierten Füße auf dem Sofa sah. Vielleicht war sie eingeschlafen? Hatte sie womöglich schon am frühen Morgen zu viel getrunken?! Ihre Freundin aus Haus 386 spottete manches Mal über ihre Taitai, die schon morgens gerne einen Schluck trank. Cora war sonst eigentlich nicht so. Aber erleichtert dachte Wang Ayi, dass nun gar nicht aufgefallen war, dass sie ein winzig kleines bisschen zu spät war. Jetzt besser nicht diesen glücklichen Umstand ruinieren und sie bloß nicht wecken!

Nachdem sie sich ein Glas Wasser genommen und den Staub der Straße aus dem runden Gesicht gestrichen hatte, lief sie auf Zehenspitzen rüber, um zu schauen, ob Cora wirklich fest schlief oder ob sie lieber schon mal ein Glas mit Kopfschmerztabletten bringen sollte.

Auf dem Glastisch neben dem Weinglas und den Zeitschriften läutete plötzlich das Telefon. Wang Ayi zuckte zusammen. Das Klingeln klang irgendwie anklagender als sonst. Unsicher ging Wang Ayi ans Telefon. Es war aber wieder nur so ein automatisches Band, was einem eine Versicherung verkaufen wollte. Die Sache mit ihrer Taitai gefiel ihr nicht. Die war doch um die Zeit immer beim Yoga. Nun lag sie auf dem Sofa und ließ sich nicht vom lauten Telefon wecken? Sie wird doch nicht so schlimm betrunken sein? Wang Ayi brauchte Beistand.

Vielleicht hat die deutsche Nachbarin ja eine Idee, was los sein könnte? Die war doch gerade noch am Blumenbeet gewesen. Etwas in Sorge öffnete Wang Ayi noch einmal die Haustür. Mit etwas Mitleid registrierte sie, dass die Frau von gegenüber nun tatsächlich voller Staub und Erde war. Denn genau in dem Augenblick erhob sich die und wollte zurück ins Haus. Sie unterdrückte ihren Missfallen und rief mit ihrer freundlichsten Stimme hinüber. „Oh, das Blumenbeet sieht jetzt aber hübsch aus. Sag mal, kannst Du vielleicht mal ganz kurz gucken kommen?“

Helen war sehr zufrieden. Ihre kleine Ansammlung Blumen trotzte Wind, Trockenheit und umherfliegenden Fußbällen. Alles war so grau und staubig, die meisten Nachbarn hatten ihren Vorgarten einfach zubetoniert. Die haben die Garagen in ein extra Zimmer umgebaut und stellten dann ihre riesigen Autos lieber vor ihrem Haus ab. Es wunderte sie immer wieder, dass der Gingko dort noch leben konnte. Es erfüllte sie mit einer kleinen Genugtuung, dass sie eine kleine bunte Oase des Widerstandes vor ihrem Haus pflegte. Sie goss noch einmal großzügig und klopfte sich die Erde von den Händen. Sie wollte lieber schnell ins Haus. Heute war wieder so ein Tag mit schlechter Luft. Das machte sie im Herbst besonders missmutig, denn es erinnerte sie daran, wie schlimm im Winter der Smog werden würde.

Plötzlich rief ihr Wang Ayi zu. Wang Ayi klein und kräftig. Ihre kurzen dicken Haare umrahmten ein rundes, flaches Gesicht. Über ihrem kräftigen Oberkörper spannte sich ein Pullover mit reichlich Strass in der Form eines angebissenen Apfels. Ein Landei in der Stadt. Helen mochte sie nicht besonders gerne. Ihre Oma hatte immer gesagt: “Wie der Herr so’s G’scherr”. Das bezog sich meist auf Hunde, die oft genauso bissig, faul oder träge waren wie ihr Frauchen. Und Helen fand Wang Ayi eben nicht viel sympathischer als ihre Arbeitgeberin, sie hatte auch etwas Falsches und Verschlagenes an sich.

Die Ayi nutzte es aus, dass Helen leidlich Chinesisch sprach. Dabei lobte sie immer so überschwänglich und versuchte ihr zu schmeicheln, dass es Helen kalt den Rücken runterlief. Was sie nun wohl wollte? Nachbarschaftliche Hilfe konnte sie schlecht verweigern. Freundlich lächelnd und schon mal auf der Suche nach einer Ausrede, warum sie gleich wieder weg musste, ging Helen auf die andere Straßenseite.

Helen zog die Schuhe aus und ging ins Haus. Sofort verstand sie, warum Wang Ayi sie gerufen hatte. Es war eisig kalt im Haus. Jemand musste die Klimaanlage auf die tiefste Stufe eingestellt haben. Ein abgestandener, etwas süßlicher Geruch lag in der Luft. Im Wohnzimmer herrschte Dämmerlicht weil die Vorhänge geschlossen waren und nur das Licht über die Vorderseite des Hauses einfiel. Die Küche war aufgeräumt, aber auf dem Esstisch stapelten sich jede Menge Unterlagen. Sonst war es doch immer so ordentlich hier.

Die zarten Schultern in ihren schicken Cashmereüberwurf geschmiegt, ruhte Cora regungslos auf dem edlen, weißen Designersofa. Klaviersonaten von Beethoven kamen in Konzerthausqualität aus den hohen Holzboxen, die auf dem Boden neben dem hohen Fenster zum Garten standen. Auf dem Bild über dem Sofa radelten drei Frauen, anmutig ihre großen Strohhüte balancierend, durch Reisfelder. Vermutlich Vietnam. In der Vitrine neben dem Sofa konnte man Andenken aus der Heimat bewundern. Das antike Meissner Kaffeegeschirr von Oma aus Hamburg. Das war den ganzen weiten Weg von der deutschen Küste über die süddeutsche Provinz nach Peking gereist. Dazu standen im kecken Dialog ein paar schrill bunte Keramikstücke von lokalen Künstlern wahrscheinlich aus dem angesagten Stadtteil 798 Artzone. An der Wand tickten drei große silberne Uhren mit verschiedenen Zeitzonen. Unter denen stand ordentlich New York, Berlin und Peking. Helen fühlte sich damit gleich wie an einer Rezeption im Hotel. Als müsste man sich immer daran erinnern, dass man nicht zu Hause ist.

Die blonden Haare, die Frisur saß noch perfekt, flossen über das weiche Seidenkissen. Es war ein betont jugendliches Design: In Comic Sprechblasen standen uralte Symbole und Schriftzeichen gedruckt, die ein langes Leben wünschten. Ein Geschenk ihrer kreativen Tochter zum Fünfzigsten. Ihre linke Hand, Nägel blutrot lackiert, ruhte auf ihrem Tablet.

„Cora?“ Helen lief um das weiße Sofa herum. „Cora? Ist Dir nicht gut?“ Sie sah zwar friedlich aus, aber recht blass. Helen legte ihr die Hand auf die Stirn. Eiskalt. Unbehaglich vermutete Helen, dass hier der Arzt nicht mehr helfen konnte. So kalt konnte man nicht sein. Und der süßliche Geruch? Das war dann kein Parfüm oder ein Strauß Chrysanthemen oder Jasmin, oder? Helen wurde etwas schummrig.

Lag da nicht neben Cora eine drei Tage alte Zeitung? Sie hatte irgendwie gedacht, Cora wäre weggefahren. Sonst wäre es ihr ja komisch vorgekommen, dass keiner Zeitungen reingeholt hatte. Das Auto war nicht bewegt worden und ihren Mann Bernd hatte sie letztes Wochenende mit einem Koffer zum Flughafen fahren sehen. Da hatte sie angenommen, Cora wäre auch schon früher in den Urlaub gefahren.

„Wang Ayi! Schnell, ruf den Sicherheitsdienst! Der oberste Boss soll sofort kommen. Das ist eine ernste Sache hier! Und einen Arzt solltest Du auch noch rufen. Sicherheitshalber.“ Wang Ayi hatte Entsetzen in den Augen. Helen sah, wie sie zögerte. Was hatte sie erwartet? Dass Helen die Wiederbelebung einleitet?

Am Telefon wand sich die Ayi reichlich und wollte nicht recht sagen, um was es sich handelte. Aber immerhin konnte sie die Sicherheitsleute ins Haus bestellen.

Nervös schaute die Ayi über das Wohnzimmer. Wohl um ihre Aufregung zu überspielen, machte sich auf den Weg, den Putzeimer zu holen. Helen hielt sie zurück: „Ich glaube, wir fassen besser mal nix an.“ Wang Ayi wurde noch blasser und murmelte: „Ich muss was trinken.“ Während Wang Ayi in der Küche nach einem Glas fingerte, machte Helen gewohnheitsmäßig ein paar Schnappschüsse mit dem Telefon. Sie hatte Respekt vor der hiesigen Justiz und wollte zu ihrer eigenen Absicherung alles so dokumentieren, wie sie es vorgefunden hatte. Falls dann die Wachleute oder die Ayi irgendeinen Unsinn machten, war das deren Problem.

Vor einem Jahr war Helen einmal bei Cora zu einem Kaffeetreffen gewesen. War es nicht ein Treffen der deutschen Elterngruppe zur Planung eines kleinen Oktoberfestes mit Schlagermusik für die Kinder in der Schule gewesen? Jedenfalls sah es jetzt irgendwie anders aus. Stand da nicht ein neuer Schrank? Egal, jetzt würde Cora sich wohl nicht mehr für Helens Meinung interessieren. Nicht, dass sie das sonst gemacht hätte…!

Kurze Zeit später darauf rauschte draußen der Chef der Wachleute mit dem üblichen Tross Helferlinge auf seinem Elektrobus vor. Er sprach sogar Englisch: “Hallo! Ihr habt mich angerufen? Wohnst Du denn hier? Wohnst Du nicht gegenüber?” Helen nickte: “Das stimmt. Sie kennen sich aber gut aus! Wang Ayi hat mich reingerufen, weil mit ihrer Taitai was nicht in Ordnung ist. Als ich Cora gesehen habe, rief ich gleich vorne an, damit das die Fachleute regeln.”

Die meisten Wachleute in seinem Team waren nicht älter als 20 Jahre und hätten beim Armdrücken gegen ihren zwölfjährigen Sohn verloren. Kam man frisch vom Land, war es besser, Wachmann zu werden, als in der Fabrik zu schuften. Aber weil man wenig verdiente und es kaum Aufstiegsmöglichkeiten gab, wechselten die jungen Männer schnell. Helen kannte von denen hier nur den einen mit der schlechten Haut, den kleinen Zhou, mit dem sie manchmal beim Spielplatz ein wenig plauderte. Wie überall, bildeten sich auch in China bei Unfällen rasant große Trauben von Neugierigen. Der Chef des Trupps warf einen überraschten Blick auf Cora. Dann herrschte er alle an, sofort vor die Tür zu gehen und niemanden herein zu lassen. Dann telefonierte er mit der Polizei.

Als nächstes rief er einen seiner Männer zu sich. Der sollte alle Protokolle der letzten 24 Stunden heran bringen. Man wollte bestens vorbereitet sein, wenn die Polizei kam. Die sollten sehen, was für eine erstklassige Arbeit diese Sicherheitsfirma hier leistete. Jede Fahrzeugbewegung von Roller aufwärts wurde von einem Heer von Wachleuten protokolliert und verfolgt. Der Kleine trabte los, um alle Listen zu holen. Helen wollte nicht sagen, dass sie glaubte, dass Cora schon viel länger in der eiskalten Wohnung lag. Das würde nur Misstrauen erwecken.

Die Ayi erzählte dem Sicherheitsboss noch einmal aufgeregt, wie sie alles vorgefunden hatte. Helen sah sich derweil nachdenklich um. Irgendwie wirkte alles sehr verändert. Das lag sicherlich nur daran, dass Cora nicht mehr lebte. Oder war es etwas anderes?

Als die Polizei kam, wurde alles abgeriegelt. Helen sollte draußen warten. Der Arzt war schnell wieder draußen. Wie schon befürchtet, konnte auch er Cora nicht mehr helfen. Wang Ayi wurde vernommen und danach sah sie ziemlich mitgenommen aus. Von Helen wollte die Polizei erst einmal nicht viel wissen. Sie hatte Cora das letzte Mal vielleicht vor einer Woche gesehen und da auch nur flüchtig. Weil sie nichts angefasst hatte, und auch sonst nichts zu sagen hatte, durfte sie wieder gehen.

Da es gewöhnlich still und beschaulich in der Anlage war, war ein Polizeieinsatz in der Straße ein besonderer Leckerbissen. Schnell hatte sich schon eine kleine Menge Neugieriger angesammelt. Man reckte die Hälse, Handys knipsten und alle redeten leise miteinander. Die chinesischen Ayi und Fahrer aus den umliegenden Häuser kamen schnell zusammen und fingen an zu fachsimpeln. Dann kamen auch die Omas, die ihre Enkel durch die Gegend trugen und ein Großvater, der sonst immer mit seinem kleinen Transitorradio durch die Anlage spazierte. Ein paar Westler kamen auch zusammen und betrachteten den Auflauf voll Verwunderung.

Die Wachleute halfen der Polizei mit der Absperrung. Man sah ihnen an, dass sie es genossen, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Bereitwillig erzählten sie den Umstehenden, was sie gesehen hatten. Da schnellte ein kleiner, kerzengrade stehender Polizist heran und verbot ihnen wichtigtuerisch, noch weiter mit den Nachbarn zu sprechen. “Alles professionelle Polizeiarbeit” und das musste erst einmal untersucht werden. Die Wachleute waren nicht erfreut, dass man ihnen verbot, noch mehr Details preis zu geben. Aber das störte nicht die anderen, die gleich aufgeregt alles diskutierten.

Helen erkannte einige chinesische Nachbarn, jede Menge Ayis und Fahrer, und auch ein paar Frauen aus Coras Yogakurs-

Natürlich hatte gleich jeder eine Idee, was passiert sein könnte: “Vielleicht ist sie die Treppe runtergefallen? Würde mich ja nicht wundern, wenn das Geländer einfach so abfällt bei der Bausubstanz der Häuser.” Eine andere meinte: “Ein Schlaganfall? Das hatte die Schwester meiner Bekannten auch und die war erst 35. Das kann jeden erwischen. Deshalb ist es so wichtig, dass man fleischarm isst.”

“Ach Cora hat doch so viel übers Internet gekauft. Letztens hat sie mir noch ihren neuen Fön gezeigt. Vielleicht war der kaputt gewesen? Ich hab ihr immer gesagt, dass man überhaupt nicht den elektrischen Geräten trauen kann, die man hier in China kauft…."

Helen wollte sich davonschleichen, das wollte sie jetzt wirklich nicht hören. Aber zu spät!Die blasse Birte von vorne an der Ecke hatte sie entdeckt. Sofort wurde Helen von den anderen Taitais mit Fragen überschüttet. „Helen, was machst Du denn hier? Warst Du drin? Was ist denn mit Cora? Was macht die Polizei hier? Ist ihr Mann Bernd auch im Haus?“ Helen wollte eigentlich gar nicht darüber reden. Schon mal gar nicht mit den Damen hier. Erst einmal wollte sie in Ruhe darüber nachdenken, was passiert war. Doch Birte und eine Dame im lila Sportdress kamen ihr hartnäckig mit ihren Yogamatten immer näher, da war eine Flucht ausgeschlossen.

„Was?“ murmelte Helen ausweichend. In kurzen Worten schilderte sie nur das Notwendigste und wiegelte ab: “Ich bin auch kein Arzt, aber sie sah nicht gut aus. Deshalb haben wir schnell die Wachleute geholt, die sind doch dazu da, um uns zu helfen. Keine Ahnung, was das Protokoll für solche Notfälle in China ist.“ Die anderen nickten mitfühlend.

Schon die Verlängerung des Visums war ein langatmiger Prozess, Ärger mit den Behörden wollte man auch keinen Fall. Da war es besser, sich rauszuhalten. Gleich hatte jede eine Geschichte, wie sie einmal in China in einer Situation war, wo sie nicht wusste, an wen sie sich wenden sollte „... hatte einen Kratzer in meinem neuen Auto auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt... Versicherung melden...“ Helen hörte dem Geschnatter gar nicht so recht zu, nur fiel ihr auf, dass die blonde Dünne fast gar nichts sagte. Die war doch sonst so gesprächig und konnte gar nicht genug zu jedem Thema wissen. Sie schien nachdenklich zu sein, sie schaute auf Coras Haus und dann auf die Polizeiautos und schien mit sich zu ringen. „Hast Du denn da drinnen irgendwas gesehen?“

Mit einem Schlag war es wieder still. „War das vielleicht ein Einbruch gewesen? Ich habe ja gehört, dass es in letzter Zeit wieder mehr Diebstähle geben soll. Vielleicht hat Cora einen Einbrecher überrascht?“. Wie kamen die denn jetzt auf Einbruch? War doch kein Kampf nirgends zu sehen gewesen. Helen wunderte sich, aber dann fiel ihr wieder ein: Ach ja, sie hatten ja nicht die Ausführungen der Wachleute verstehen können.

Wenn sie selbst schon in China oft viel nicht verstand, die meisten dieser Damen hatten noch weniger Zugang zu Informationen. Sie konnten nur das wissen, was ihnen jemand übersetzt hatte. So fasste Helen noch einmal zusammen: „Kein Blut drinnen, alles wie immer, glaube ich. So oft war ich ja nicht bei Cora gewesen.“

“Helen, frag Du doch noch mal nach, was eigentlich passiert ist! Du sprichst doch so gut Chinesisch, Dir verraten sie vielleicht was!“ Eigentlich hatte Helen nur wenig Lust, gleich mit dem nächsten Gefallen wieder in den nächsten Ärger zu rutschen. Aber Helen war froh, von dem aufgeregten Haufen wegzukommen und neugierig war sie ja leider auch immer.

Als sie sich einen Plan zurecht legen wollte, sah sie zufällig den strengen Polizisten, der vorhin ihre Aussage aufgenommen hatte. In der Aufregung hatte sie vergessen, sich seinen Namen zu merken. Da kam ihr ein listiger Einfall: „Entschuldigen sie, ich wohne ja gegenüber. Falls mir noch was einfallen sollte, würde ich sie gerne anrufen. Kann ich ihre Karte haben?“ Der Polizist sah sie misstrauisch an, gab ihr aber gleich seine Visitenkarte: „Das hier ist reine Routine, ich komme immer, wenn es einen Todesfall bei den Ausländern gibt. Was soll ihnen denn noch einfallen?“ Er lächelte nicht.

Gute Frage. Nur nicht die Aufmerksamkeit des Apparates auf sich ziehen. Helen wollte ja nicht Stunden auf der Polizeistation verbringen. Schnell antwortete sie zahm: „Um ehrlich zu sein, ich habe noch nie jemanden gesehen, der vielleicht tot ist. Das macht mir Angst. Da wollte ich gerne die Telefonnummer von einem von der Polizei haben. Nur zur Beruhigung meiner Nerven.“ Der Polizist schaute nun fast schon freundlich. Eine harmlose Frau in Angst, da werden auch Polizisten nachgiebiger. Sofort fasste Helen Mut und probierte ihr Glück: „Was ist denn eigentlich mit Cora? Ist sie denn....?“

Der Polizist nickt ernst. „Was ist denn passiert? Sie sah ja nur schlafend aus?“ Er durfte ja nichts bekanntmachen; aber wenn sich so eine etwas beschränkte Nachbarin nun mal vor dem Tod fürchtet, und so arglos ihm in die Augen schaut, da wird er sie ja doch beruhigen können: „Wir nehmen an, dass sie vielleicht zu viele Schlaftabletten genommen hat. Wir haben Valium in ihrem Badezimmer gefunden. Aber mehr lässt sich noch nicht sagen. Das wird alles seinen korrekten Ablauf nehmen. Entsprechend unserer regulären Vorschriften. Ich muss jetzt auch...“

Helen versuchte noch etwas verängstig auszuschauen, bedankte sich freundlich und steckte die Visitenkarte in ihren Geldbeutel. Ungläubig murmelte sie zu sich selbst: “Valium. Cora stirbt wie ein Popstar an einer Überdosis Schlaftabletten. Ganz schön glamourös. Aber es passt.” Immer musste Cora sich dramatisch in Szene setzen. Das hatte sie auch schon immer an ihr genervt.

Niemals konnte bei ihr etwas ganz normal sein, immer war alles übertrieben. Ihre Ayi war eine hinterhältige Betrügerin, die sie ständig kontrollieren musste. Ihre Tochter war eine elegante Prinzessin, die ihre so warme mütterliche Liebe aber kalt zurückwies. Selbst eine Einkaufstour zum Antiquitätenmarkt musste bei Cora immer mit viel Augenrollen und großen Gesten erzählt werden: “Stellt Euch vor, da hatte ich bei meinem letzten Besuch diesen fantastisch talentierten Künstler kennen gelernt, der war so interessant und hatte tolle Ideen. Das müsstet ihr sehen! Dessen Bilder haben mir gleich total gefallen. Aber natürlich genau das eine Bild, was mir am besten gefallen hatte, das musste einen hässlichen Wasserfleck haben - ihr wisst ja, wie die die Sachen dort lagern! Er war so wunderbar freundlich und hat gesagt, ich kann das in einer Woche ohne Wasserfleck bei ihm kaufen. Er würde mir ein neues malen, sogar in den Farben die mit meinen neuen Sofakissen harmonieren. Nun hatte ich extra angerufen und er hat mir versprochen - versprochen! - da zu sein. Ich bin also eine Stunde lang durch die ganze Stadt gefahren. Und heute war nur dieser Ersatzfahrer da - und wie der fährt, da wird einem ganz schlecht. Der kann ja überhaupt nicht kuppeln. Also nach einer Stunde komme ich dort mehr tot als lebendig an, und was glaubt ihr? Natürlich war der Typ nicht da. Links und rechts, keiner kann englisch und niemand kann mir sagen, wo der ist. Ans Telefon geht er auch nicht. Man kann sich einfach auf keinen Chinesen verlassen! Da habe ich mir eben diese Statue gekauft. Die ist doch auch super, oder? Die passt einfach unglaublich gut in unser altes Ferienhaus in Frankreich.” Helen konnte gar nicht so viel Zucker essen, um das alles zu ertragen.

Nun musste selbst der Tod von Cora wieder so eine Inszenierung sein. Mit einem Mal fühlte sie sich ganz schön erschöpft. Zu den wartenden Yogafrauen sagte sie erst einmal: „Er durfte mir nichts sagen. Ich habe aber seine Karte, nur für denn Fall.“ Das mit dem Valium musste ja erst einmal nicht durch die ganze Gemeinschaft getratscht werden. Ob sie Cora nicht diesen letzten Triumph eines skandalösen Geschichte gönnte, oder ob sie ihr wirklich leid tat, wusste Helen selbst nicht zu sagen.

Schnell ging Helen in ihr Haus. Erleichtert schloss sie ihre Haustüre. Vom Küchenfenster aus sah sie, wie immer noch mehr Menschen sich ansammelten. Und dann kam auch irgendwann der Leichenwagen. Ganz schön endgültig so ein Tod! Die meisten Nachbarn ziehen ja nur weg. Dass einer so einfach neben dir stirbt? Helen brauchte erst einmal einen Kaffee und einen Schokoriegel auf den Schrecken. Gut, dass sie “für die Kinder” immer Süßigkeiten im Haus hatte.

In ihrem Kopf kreisten die Eindrücke und Fragen. Eigentlich hatte sie für heute noch ganz schön viel vorgehabt. Aber wenn man eine Tote gesehen hatte, konnte man ja nicht gleich die Küche aufräumen. Ein echtes ganzes Leben war im Haus gegenüber zu Ende gegangen. Egal was sie von Cora gehalten hatte, so ganz alleine in einem luxuriösen Haus in einem Land so fern der eigenen Heimat zu sterben. Das war doch irgendwie schrecklich.

Jetzt brauchte sie erst einmal Pause. Am liebsten würde sie das mit Ruth besprechen, die war herrlich neutral und hatte schon viel erlebt. Aber sie wollte sie mit so einer Geschichte auch nicht vor dem wohlverdienten Urlaub belästigen. Die hatte es wirklich verdient, sich einmal zu entspannen.

Helen war ganz bedrückt, wenn sie sich das vorstellte: einfach so aus dem Leben zu gleiten, ohne dass jemand dabei war, den man liebte. Ja, es war ein bisschen peinlich und die Kinder lachten immer über sie, aber sie guckte gerne romantische Filme. In den rührseligen Filmen war das doch immer die rührendste Szene, wenn Leute auf dem Totenbett noch einmal ihre letzten Worte sprachen. Jetzt wusste Helen, was sie vorhin noch gewundert hatte: lag da ein Abschiedsbrief? Cora musste doch sonst immer mit allen quatschen. Ausgerechnet beim Sterben sollte sie jetzt so still geblieben sein? Cora war ganz sicher nicht der Typ für einen stillen Abschied. Überhaupt: warum sollte Cora sterben wollen?

Die Musik, der Wein, das weiche Licht, Seidenkissen und ein iPad. Macht man es sich so gemütlich, wenn man sterben will? Helen hatte keine Ahnung. Sie wollte ja nicht sterben. Was weiß man schon, was in den Leuten so vorgeht? Trotzdem schien es ihr irgendwie nicht ganz stimmig zu sein. Zu gerne hätte sie gewusst, was Cora auf dem iPad angeschaut hat. Fummelt man auf seinen Apps rum, wenn man auf den Tod wartet? Oder war Cora nur einfach eingeschlafen und dann erfroren. Viele sagten ja, dass die Klimaanlage sie umbringen würde. Aber wer schlief denn so fest, dass er nicht aufwachte, wenn er fror?

Helen wusste, dass das nicht gut für sie sein konnte, sich zu tief auf diese Sache einzulassen. Neugierde war ihr Problem. Sie sollte sich auf keinen Fall um Sachen kümmern, die sie nichts angehen. Sie hatte schon genug andere Sachen um die Ohren. Und ihr Mann Robert schätzte es auch nicht, wenn sie sich um die Angelegenheit andere Leute kümmerte. Aber dennoch wunderte sie sich: Valium?

Wie kam man denn an so etwas? An Schlaflosigkeit litt sie selbst bestimmt nicht, eher schlief sie zuviel. Aber mit den Ereignissen des heutigen Tages würde der Schlaf eventuell nicht so leicht kommen. Vielleicht könnte sie sich mal umhören, wie man denn an Valium kommt? Nur so, für sich selbst natürlich. Das konnte ja nicht verkehrt sein. Der Gedanke heiterte sie auf. Hier war schon mal ein Plan gefasst, der ganz und gar nicht zu bekritteln war.

Auf der Straße tat sich nun etwas. Die Leiche wurde abtransportiert. Die Polizei rückte wieder ab. Helen wusste nicht viel über die Polizeiarbeit in China, aber sicherlich hätte man den Tatort besser abgesucht, wenn man auch nur einen leisen Zweifel am Selbstmord gehabt hätte. Vielleicht war der Abschiedsbrief im Schlafzimmer gewesen? Oder vielleicht hatte Cora ganz modern ein Abschiedsvideo auf ihrem iPad hinterlassen?

Nichts für ungut. Helen musste sich selbst tadeln, wie sie bemerkte, dass sie fast ein wenig enttäuscht war, dass es hier nichts zu stöbern gab. Aber nach dem Valium würde sie sich auf jeden Fall mal erkundigen. Und bei Wang Ayi könnte sie ja mal morgen anrufen, um zu fragen, wie es ihr nach dem Schrecken ging.

Sie wärmte sich ein paar Nudeln von gestern auf und setzte sich an den Esstisch. Vielleicht hatten die strengen Frauen vom Yoga geglaubt, sie sei furchtbar unfreundlich, weil sie nicht länger mit ihnen geplaudert hatte. Das durfte so nicht stehenbleiben. Sie würde bei der nächsten Gelegenheit extra nett mit ihnen reden.

Selbstmord also. Das war ja eine Sache! Was wusste man schon, was in den Nachbarn so vor sich ging. Die sahen alle so zufrieden und gesund aus, das konnte man einfach nicht glauben, dass die auch was bedrückt. Aber natürlich gab es tausend Gründe. Das waren ja die gleichen Leute wie zu Hause auch, nur dass sie sich hier ein bisschen mehr mit Fahrer und Ayi aufspielen konnten, wenn sie denn wollten.

Helen beschloss, sich nicht mehr als nötig damit zu befassen. Cora war ihr nicht besonders sympathisch gewesen und nun wollte sie auch nicht posthum anfangen, ihr nahe zu kommen. Das fühlte sich falsch und unaufrichtig an.

Die Kinder wollten nach der Schule noch zu Freunden gehen. Als es Abend wurde, ging Helen los, um ihre Kinder wieder einzusammeln.

Mit eiligen Schritten lief Helen über die geschwungene Brücke in Richtung Clubhaus. Auf dem flachen See fuhren zwei Arbeiter in einem kleinen Kahn und holten mit langen Messern den Lotus ein. Im Sommer war der ganze Teich voll der großen, grünen Blätter, auf denen so ungerührt das Wasser abperlte und die Blüten erhoben sich elegant über der Decke aus Schwimmblättern und entfalteten ihre weißen oder rosa Kronblätter. Die verdorrten Blütenstängel sahen getrocknet sehr dekorativ aus. Ihre Tochter Heide hatte ihr letzte Woche zwei gebracht und die sahen in der Vase richtig schmuck aus. Die Arbeiter interessierten sich weder für die Schönheit der getrockneten Blüten noch für die Bedeutung des Lotus in der buddhistischen Bildkunst, sondern sie holten geduldig Pflanze für Pflanze aus dem Teich. Wahrscheinlich malten sie sich eher aus, wie gut die Lotuswurzel in ihrer Suppe schmecken würde. Sie hatten schon zwei Drittel geschafft. Im nächsten Frühjahr würde wieder auf dem ganzen Teich zartrosa Blüten schwimmen. Die Sache mit Cora wäre nicht so einfach wieder herzustellen.

Je länger Helen darüber nachdachte, desto mehr war sie davon überzeugt, dass Cora sich nicht umgebracht hatte. Eng haben sie sich wahrlich nicht gestanden, aber in der letzten Woche hatte sie überhaupt nicht bedrückt, sondern ganz vergnügt ausgesehen. Helen hatte noch gehört, wie sie für eine Grillparty nach den Ferien eingeladen hatte. Machte man das, wenn man nicht mehr leben wollte? Und waren sie nicht überhaupt in Peking, damit ihre jüngste Tochter hier ihre Schule beendete? Sie hätte das doch ihrem Kind nicht angetan. Nein, nein, das war einfach zu abwegig. Aber was war dann passiert? War es ein Unfall gewesen? Hatte sie vielleicht einfach nur die Tabletten verwechselt? Aber Cora war der korrekte Typ gewesen. Das hatte Helen ja immer so genervt.

Dass irgendein Fremder in ein Haus eindringt und Leuten Tabletten in den Mund stopft, war so gut wie unmöglich. Um die Wohnanlage lief eine hohe Mauer mit Elektrozaun und Videokameras. An den zwei Eingängen standen Wachen, die niemanden reinließen, der nicht angemeldet war.

Hat jemand einfach nur die Valium unter den Tee gerührt und dann gewartet, bis Cora ihn eines Tages trinkt? Nein, unwahrscheinlich. Das Risiko war einfach zu groß, dass Cora nur die halbe Dosis erwischt, dass es jemand anders trinkt oder dass der Versuch entdeckt wird.

Eher hatte ihr jemand an dem Abend selbst die Tabletten verabreicht. Das müsste man doch schnell rausfinden können. Jedes Auto, das in die Anlage fuhr, wurde registriert und bei Besuchern stellte die Wache an der Schranke per Anruf auf dem Festnetz sicher, dass der Gast erwartet wurde. Das konnte nur heißen, dass Coras Besucher entweder bei den Wachleuten schon gut bekannt war, oder dass es jemand war, der hier wohnte. Wenn man also nicht von einem daher gelaufenen Wahnsinnigen ausgehen konnte, wurde die Sache geheimnisvoll. Wer hat Cora den ewigen Schlaf gebracht?

Ihre düsteren Gedanken wurden rüde unterbrochen: “Mensch!” Helen sprang entsetzt auf den Bürgersteig. Da hätte sie doch fast so ein achtjähriger Junge umgefahren, der von seinen Eltern einen Elektroroller bekommen hatte. “Pass doch auf!” Helen regte sich furchtbar auf. Das Ding fuhr bestimmt dreissig Stundenkilometer und dieser Dreikäsehoch raste wie eine gesengte Sau. Die Eltern schien es nicht zu kümmern, wie ihr Junior durch die Anlage preschte. Die waren nirgendwo zu sehen, wahrscheinlich hatten sie Wichtigeres zu tun, als nach ihrem Nachwuchs zu schauen. Hoffentlich ging das Ding bald kaputt!

Sie beschloss, es ihnen gleichzutun. Die Kinder sahen ganz zufrieden aus, wie sie mit Lisas Kindern im Garten quatschten, da machte sie lieber noch ein ungestörtes Kaffeekränzchen mit Lisa. “Was für ein Tag, Lisa! Und obendrein hätte mich diese Göre auf dem Roller gerade fast umgenietet!”

Lisa drückte sie: “Hallo Helen! Den kenn ich auch. Diese Eltern haben eine Ayi, die ist halb so schwer wie ihr dicker Junge und die kann dem gar nichts sagen. Die Eltern finden, der Junge muss lernen, sich durchzusetzen. Von wegen später mal mit Führungsqualitäten und so. Aber bevor ich mich weiter darüber aufrege, erzähl mir lieber, was bei dir sonst noch los ist. Die Kinder sind ja recht zufrieden da draußen. Komm nur rein. Willst du einen Kaffee?”

“Setz Dich mal, Du siehst ganz verstört aus. Viel Zucker? Richtig?” Helen schämte sich ein bisschen, dass Lisa wusste, dass sie bei Kummer immer gleich an Trostfutter dachte. Die disziplinierte Lisa trank ihren Kaffee natürlich schwarz. Aber Lisa war diskret genug, sie weder auf Karies noch auf Hüftspeck hinzuweisen. Ohne eine Augenbraue hochzuziehen, schüttete sie zwei Ladungen Zucker in den Kaffee.

Helen dachte an ihren Schwiegervater. Der war der einzige, der noch mehr Zucker in seinen Kaffee tat und der war schon immerhin 87 Jahr alt. So schlecht konnte das also nicht sein. Konnte man sich auf diese Weise quasi von innen heraus kandieren und damit konservieren?

Lisas Haus war ganz in weiß und beige gehalten. Edle Möbel, immer ein frischer Blumenstrauß auf dem sonst leeren Esstisch und Kaffeetassen aus dem teuren Restaurant vor der Verbotenen Stadt. Helen nahm sich vor, nachher zumindest mal die alten Magazine und Schulaufgaben vom Tisch zu räumen. Dann fiel ihr wieder ein, was sie heute davon abgehalten hatte.

Reichlich durcheinander erzählte Helen von der Leiche. “Das mit Cora ist wirklich unglaublich.” nahm Lisa den Faden auf und setzte sich zu Helen. “Ich war ja noch letztens mit ihr beim Yoga und da war sie wie immer. Über Tote redet man ja nicht schlecht, aber eben — wie immer. Natürlich habe ich schon über den Buschfunk von der Sache gehört, aber dass du am Tatort warst, hat man mir noch nicht zugeraunt. Die Damen waren zu beschäftigt, über die anderen Sachen aus Coras Leben zu diskutieren.”

“Ach was gibt es denn da Interessantes zu wissen?” fragte Helen gespannt. “Nix besonderes weiß man wohl noch nicht. Du weißt ja, Legenden und Gerüchte sprießen hier noch besser als Bambus. Jetzt waren natürlich alle ihre Freunde. Aber nicht jede mochte, wenn Cora so manchem Arbeitskollegen ihres Mannes in die Suppe gespuckt hat. Die spielte diese Nummer, dass sie den Ehefrauen seiner Untergebenen hier manchmal Hoffnungen darauf machte, dass man sie zum privaten Grillen einlädt oder ein gutes Wort bei ihrem Mann einlegt. Da traute sich keine von denen, ihr einen Gefallen abzuschlagen. Gleichzeitig war sie in allen möglichen Komitees zu gerne gleich federführend mit dabei und hatte dabei ihre eigenen Interessen stets fest im Blick. Ihrem Vermieter hat sie ständig mit Drohungen wegen angeblicher Mängel im Haus das Leben schwer gemacht. Und mit ihrer Tochter hat sie ziemlich aufdringlich angegeben. Mit der hatte sie Großes vor. Sie hat Unsummen in private Tennisstunden und sonstigen Unterricht investiert. Es soll ein top College für die Kleine werden, wenn sie dieses Schuljahr fertig gemacht hat. Über den Sohn behielt sie diskrete Zurückhaltung. Der ist wohl eher missraten, tuschelt man.” Lisa zuckte die Achseln “Aber alles in allem nichts, was nicht ganz normal wäre hier.”

“Kann ich auch noch nichts Besonderes daran finden." Helen spielte am ausgeleierten Bund ihres Pullis. "Aber vielleicht war es auch nur ein Unfall? Sie hat ihre Unterlagen sortiert und dann ein paar Tabletten genommen, um bald schlafen zu gehen. Da kommt plötzlich Besuch, sie räumt die Sachen nicht auf, trinkt etwas, vergisst, dass sie schon ihre Tabletten genommen hat, nimmt noch einmal welche und schläft dann ein. Dann war es ein Versehen!” Ein tragisches Versehen? Helen fand das keine schlechte Theorie, sie selbst war schließlich auch ganz schön vergesslich! Ihr selbst hätte das locker so passieren können. Sie nahm sich vor, im Alter sicherheitshalber besser Tablettendöschen mit Zeitschaltuhr anzuschaffen… Lisa runzelte die Stirn, sie fand das offensichtlich nicht halb so einleuchtend: ”Cora, die immer alles ganz genau nimmt?” Die ordentliche Lisa konnte sich natürlich so einen Hergang nicht vorstellen!

Nun wollte Helen auch nicht lethargisch sein und fragte: “Wo ist denn ihre Tochter, das Genie? Und warum war Cora nicht in den Ferien weggefahren? Die musste doch sonst immer die erste an einem unentdeckten Urlaubsort sein?”

“Ihre Tochter ist zusammen ein paar Mädchen aus ihrer Klasse in einem Camp. Ich glaube, die machen irgendwie ein soziales Projekt oder so. Streichen die nicht ein Waisenhaus im Südwesten des Landes? Jedenfalls ist sie deshalb zwei Wochen nicht da. Und weil Bernd auf Geschäftsreise ist, wollte Cora nicht weit weg fahren. Ich dachte eigentlich, sie wollte mit ein paar Freunden auf einen Kurztrip in ein Ressort an der Mauer fahren. Irgendwas mit Spa und teurem Essen. Wollten die nicht sogar noch extra eine Party der verrückten Hüte feiern?” Lisa war einfach immer gut informiert.

Das erklärte alles. Deshalb war Cora alleine gewesen und keiner hatte den Unfall bemerkt, bis es zu spät war. Oder hatte Cora bewusst genau diesen Zeitpunkt ausgewählt, um alleine zu sterben? Sie hatte noch ein paar Sachen sortieren wollen und dann hatten die Tabletten früher gewirkt und sie war friedlich eingeschlafen.

“Mama, kann ich bei Lisa schlafen?” Heide setzte ihr liebstes Gesicht auf. Helen fühlte sich etwas durcheinander von den Geschehnissen des Tages, und obwohl es ihr etwas peinlich war, wollte sie in Zeiten der Krise lieber ihre Familie eng um sich wissen, damit sie im Notfall alle schnappen und retten konnte.

“Wie wäre es morgen Liebes? Da kannst du schön deine Sachen packen. Heute Abend gucken wir einen Film und essen Popcorn. Ok?” Paul kam auch dazu: “Aber auf keinen Fall wieder so ein blödes Musical, Mama! Wir wollen ganz sicher nicht noch einmal ‘Sound of Music’ gucken!” Sofort fingen die beiden an, sich über den Film zu streiten. Immerhin die Kinder waren noch genau so wie immer. Das beruhigte Helen irgendwie.

Nachdem alle Schultaschen, Schuhe und Haarbänder eingesammelt waren, nahm sich Helen die Kinder und ging nach Hause. Die Oktobersonne spiegelte sich friedlich auf dem See. Die Arbeiter waren schon heimgekehrt.

Bleicher Jasmin

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