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Reise ins Paradies

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Kurz vor Mittag legte ihr kleines Boot an. Sonya und Ruth standen erwartungsfroh an der Reling. Die Sonne strahlte hoch am blauen Himmel, das endlose Meer glitzerte einladend. Schon vom hölzernen Landungssteg aus konnte man Korallen und Fische im klaren Wasser erkennen. Am weißen Strand herrschte eine zufriedene Ruhe, ein paar Gäste badeten oder schnorchelten, vier sonnengebräunte Jungs spielten Volleyball, einige jüngere Kinder dekorierten Sandburgen mit Muscheln. Stolz schauten ihre Eltern ihnen dabei zu und machten mit übergroßen Spiegelreflexkameras Fotos. Eine Frau winkte nach oben. Ein Mädchen rief seine Freunde zu einem besonders coolen Stück Strandgut. Urlaub.

Drahtige Männer mit blauen T-Shirts, dezentes Hotellogo am Kragen, luden ihr Gepäck vom Boot. Zwei kleine aber starke Männer halfen am Pier, dass beim Aussteigen keiner ins Wasser plumpste. Ein charmanter Asiate mit sehr gepflegtem Aussehen begrüßte sie herzlich: “Ihr Zwei müsst Ruth und Sonya sein. Ich bin Jimmy. Herzlich Willkommen bei uns auf der Insel! Ist das euer erster Aufenthalt hier?”

Hier, das war eine kleine, wirklich kleine Insel mitten im Meer, nicht weit von Singapur. Erfolgreiche Investoren aus Singapur hatten sich einen Traum vom nachhaltigen Tourismus erfüllt. Außenherum Korallenriff, tiefblaues Meer, blitzender Himmel und darauf ein sorgfältig errichtetes, plastikfreies Ökoresort mit Villen aus Treibholz im Pfahlbaustil. Ideal für ruhebedürftige Leute, die für eine Nacht auf einer exklusiven Insel gerne einen stolzen Preis zahlten.

„Sobald die Anmeldung erledigt ist, zeige ich Euch Eure Unterkunft und die Insel.” Es war so bilderbuchmäßig, dass es schon fast kitschig war: weißer Sandstrand ohne einen Krümel Müll, endloses Meer, Kokospalmen, Bananenbäume, duftende Frangipani, Jasmin, ein paar gewaltige Urwaldriesen und Blüten in satten Farben.

Mit einem gehörigen Schuss Misstrauen hatte Ruth die Hotelseite im Internet betrachtet. Zynisch hatte sie vermutet, man hätte die Fotos geschickt so geschossen, dass man den hässlichen Betonbunker mit dem Inselshop nicht sah oder man überhaupt nur Bilder von anderen hübschen Plätzen der Welt zusammenkopiert. Darüber wäre sie nicht überrascht gewesen. Aber nun musste sie innerlich Abbitte leisten. Sie beschloss, ab jetzt positiv und vertrauensvoll zu sein. Es war wirklich genauso wie im Prospekt. Jetzt konnte einfach nichts mehr schief gehen mit ihren Ferien.

Auf der Insel gab es ungefähr ein Dutzend Villen mit einem oder mehreren Schlafzimmern. Jedes Haus stand direkt am Strand. Sonya und sie bezogen ihre Unterkunft am Ende des Weges gen Westen. Unten waren Liegen und Hängematten, sie hatten oben zwei kleine Zimmer, die über einen Holzsteg miteinander verbunden waren. Die Innenarchitekten hatten sich voll ins Zeug gelegt, mit den Naturmaterialien einen schlichten Eindruck zu erwecken und doch keinen Luxus auszulassen. Selbst vom Badezimmer aus bot sich ein atemberaubender Blick auf das Meer. Pittoresk ragten launische Felsbrocken aus dem Wasser.

Hinter ihrem Haus ging ein schmaler Weg. Jimmy erklärte: „Hier kann man weiterlaufen, dann kommt man auf einen kleinen Inselrundgang durch den Regenwald. Weiter hinten gibt es dann den Pool. Heute Nachmittag muss der leider kurz gewartet werden. Wer etwa eine Viertelstunde läuft, landet dann wieder vorne an der Strandbar. Es wird Euch hier an nichts fehlen!“ versprach er. „Mittagessen ist ab zwölf Uhr bis kurz vor zwei vorne in den ersten zwei Hütten neben dem Pier. Kommt einfach, wann immer ihr soweit seid. Es ist recht familiär, sicherlich werdet ihr schnell ein paar unserer Gäste kennenlernen.“

Ruth war kein großer Freund von solchen ersten Begegnungen. Am liebsten suchte sie sich einen separaten Tisch und hörte den Leuten mit Sicherheitsabstand zu. Nach solch einer Observation konnte sie sich dann in Ruhe aussuchen, mit wem sie sich noch unterhalten wollte.

Sie war schon so lange im Ausland, dass sie die immer gleichen Fragen nicht mehr hören konnte. Und inzwischen hatte sie schon so oft erzählt, woher sie kommt und wo sie gelebt hat, dass sie manchmal schon gar nicht mehr wusste, ob es wirklich wahr war. Vielleicht hatte sie es auch nur schon so oft gesagt, dass sie selbst dran glaubte? Jedenfalls sagte sie jetzt immer nur noch, sie komme aus Magdeburg und wohne in Peking. Komischerweise schienen hier in Asien nicht viele Leute Freunde in Magdeburg zu kennen. Wenn man aus Berlin kam, musste man automatisch immer gleich besprechen, in welchem Kiez man genau wohnte und bei welchem Bioladen man immer eingekauft hat. Darauf hatte sie schon mal gar keine Lust. Bei Peking wiederum konnte man sich gleich über den Smog unterhalten und über die Chinesen quengeln.

Ruth hörte lieber anderen Leuten zu, als dass sie über sich selbst sprach. Sie war nicht groß, eher schmal und mit ihren grauen Haaren, der kleinen Brille und einem sonst recht unauffälligen Gesicht, trauten ihr viele Leute ohnehin nicht viel zu. “Wahrscheinlich als Deutschlehrerin an so einer kleinen Uni tätig, zum ersten Mal im Ausland”, schienen sie zu denken und fingen dann lieber gleich an, von sich zu erzählen. Ruth war das nur recht. Sie wollte lieber ihre Ruhe.

Das schien auch ihrer Begleiterin recht zu sein. Ihre Kollegin Sonya hatte sie ja zu dem Trip aufgefordert. Sonya war hübsch, jung und ungebunden. Sie hatte lange, blonde Haare und eine helle Haut. Ruth vermutete, dass ihre Eltern aus Osteuropa kamen. Nachgefragt hatte sie noch nicht, und sie war dankbar, dass Sonya ihr auch nicht gleich ihren Familienstammbaum erzählt hatte. Sonya wollte Leute kennenlernen. Ruth wusste nicht viel von ihr, aber sie schien keinen Partner zu haben und hatte schon bei der Ankunft die anwesenden Herren einer Musterung unterzogen. “Weißt du, Ruth”, hatte sie gesagt, “ich will natürlich kein Scheidungsgrund sein. Aber wenn einer gut aussieht, was auf dem Konto sitzen hat und sonst gut auszuhalten ist, dann ist es eben nicht wahrscheinlich, dass er in meinem Alter auch noch Single ist. Geschieden und einsam, das wäre doch was für mich. Hier auf der Insel wird es davon wohl nicht so viele geben, aber träumen wird man ja dürfen.”

Für gesunden Menschenverstand hatte Ruth viel Verständnis. Nicht jede Beziehung war glücklich und die Ehe war ja bekanntlich ein Hafen. Und da lauerten eben Freibeuter auf Gelegenheit zum großen Fang. Und Sonya schien eben auf ein Schiff zu lauern, dass seinen Weg zurück in den Hafen verloren hatte. Ruth hatte schon so viel verstanden, dass Sonya nach einem größeren Modell Ausschau hielt, etwa einem Dreimaster mit großer Kapitänskajüte.

Also wunderte sich Ruth nicht, dass Sonya etwas Zeit brauchte, um sich für das beste Outfit für ein legeres Mittagessen in den Tropen zu entscheiden. Und als sie endlich zum Restaurant kamen, Sonya im weißen Leinenkleid mit tiefem Ausschnitt am Rücken und einer großen Sonnenbrille, waren nicht mehr viele Plätze frei.

Der Kellner führte deshalb Sonya und Ruth an die große Tafel in der Mitte. Dort saßen schon drei Männer und zwei Frauen, statt Kindern führten diese große, teure Sportuhren und edle Sonnenbrillen mit sich. Ruth lächelte über den zufriedenen Gesichtsausdruck ihrer Begleitung, sie sah erwartungsfroh aus wie ein Kind vorm Spielzeugladen.

Sonya zeigte gleich ihre beste Seite und weißen Zähne: “Hallo, wir dürfen uns doch hier hin setzen? Ich bin Sonya und das ist meine Kollegin Ruth. Ich bin erst vor kurzem nach Peking gezogen, dort arbeite ich in einer Agentur. Jetzt brauchte ich aber ein bisschen Sonne und so habe ich Ruth überredet, mit mir hierher zu kommen. Wunderschön ist es hier, oder?”

Ruth hatte schon befürchtet, dass sie nun endlos diese ewig gleichen Fragen austauschen mussten: “Woher kommt ihr? In welchem Land wohnt ihr gerade? Wo habt ihr davor gewohnt? Wie lange seid ihr schon im Ausland?” Erleichtert stellt sie fest, dass diese hier sich aber schon länger zu kennen schienen. Sie sagten nur ihre Namen und als der Kellner Ruth und Sonya nach ihren Getränkewünschen fragte, wandten sie sich wieder ihrer Unterhaltung zu.

In solchen Begegnungen fiel Ruth stets halbwegs belustig auf, wie man es höflich vermied, sich nach den Einzelheiten der jeweiligen Jobs zu fragen. Diskretion war da oberste Devise. Wenn der Andere sein Geld mit windigen Fonds oder Geschäften mit fragwürdigen Machthabern verdiente, wollte man das vielleicht auch lieber nicht so genau wissen. So ein netter Kerl, ist doch egal, was er beruflich macht!

Lieber unterhielt man sich ewig über vorige Urlaubsziele. Bis ihr Salat kam, hörte Ruth an den Nebentischen Gesprächsfetzen von: “Wir waren davor in Angkor Wat.” “Das letzte Mal auf Bali…”, “1985 war ja auch auf Ko Samui in Thailand noch…”, “Als wir im Frühsommer in der Ägäis gesegelt sind…”. “Und man stelle sich vor, so ein mieser Service in der Senior Suite von einem 5-Sterne-Hotel” Alle lachten mitwissend, bis der Nächste eine Anekdote aus der Vielflieger-Lounge oder dem Yachtclub hatte.

Ruth war ja noch aufgewachsen mit Ermahnungen, bescheiden zu sein. Aber das war hier nun wirklich keiner. Je doller, das Ziel, desto besser. So wie wenn sich Hunde beschnüffeln, so wurden hier Urlaubsziele verglichen. Die pubertären Jungs hatten früher ihre Mopeds frisiert und mit ihren Toren beim Bolzen geprahlt. Das Prinzip war das Gleiche, nur eben etwas exotischer. Hier konnte man anhand der Preiskategorien im Urlaub abschätzen, zu welche Klasse Expat der Andere gehörte. Reiste der immer nur nach Phuket oder auch schon nach Birma? Wenn der Andere dann ebenfalls weit gereist und welterfahren war, konnte Freundschaft geschlossen werden.

Neben ihr wurde laut gelacht und sie wandte die Aufmerksamkeit auf den schlaksigen Mann neben ihr. Der strich sich die halb langen, grau melierten Haare aus dem Gesicht, das von einem fliehenden Kinn und eng stehenden Augen dominiert wurde. Durch das Gelächter angefeuert, gab er die nächste Anekdote zum Besten: “Weißt du noch, Lydia, da waren wir gemeinsam unterwegs. Du warst wieder mal nicht fertig, als wir loswollten. Dann war da dieser Unfall direkt auf der Strecke vom Hotel bis zum Präsidentenpalast und wir waren viel zu spät dran. Man stelle sich vor, alle da: der Gouverneur, der Chef vom Aufsichtsrat, der Botschafter alle sollen kommen, nur ich sitze noch mitten im Stau. Da fällt mir mein alter Freund Bob ein, der kannte den Polizeipräfekten und plötzlich hatten wir eine Motorradstaffel, die uns schnell und sicher ans Ziel brachte. Danach sagte ich noch zu Lydia, das gibt es aber jetzt nicht jedes Mal, wenn du zu lange im Bad brauchst.” Verständnisvolles Gelächter: Jaja, kennen wir. Hatten wir auch schon mal, nur da….

Thomas und Lydia schienen schon viele Jahre zusammen zu sein. Vielleicht hatten sie früher einmal besser zusammen gepasst? Er mit seinem etwas verschlagen wirkendem Gesicht, den coolen Klamotten und der Piloten-Sonnenbrille wirkte fehlplatziert neben ihr. Sie lachte artig mit über seine Geschichte. Ihr massiver Pferdeschwanz wippte mit, auf ihrer beachtlichen Oberweite schaukelte die bunte Kette mit den großen Indianerperlen. Sie steckte in einem bunten Kleid, das sicherlich kaschierend wirken sollte.

Abby, die neben Lydia saß, war da anders: “Also, als ich letztens mit meiner Tochter in Kuala Lumpur war, um dort bei einem ihrer Tennisturniere dabei zu sein, da sind wir wieder mal in einer dieser amerikanischen Hotelketten abgestiegen. Inzwischen bevorzuge ich ja Boutiquehotels, die sind viel individueller, aber naja, wenn eine Schulgruppe reist, muss man halt Zugeständnisse machen. Und den Kindern ist das ja auch egal. Jedenfalls dort, fünf Sterne und alles, aber dort war ein paar Zimmer weiter von uns so ein Krach, das hat man voll auf dem Flur gehört. Da müssen sich zwei ganz furchtbar gestritten haben. Am nächsten Morgen auf dem Weg zum Frühstück habe ich dann gesehen, wie das Zimmermädchen sogar kaputte Flaschen aus dem Zimmer geholt hat. Man weiß einfach niemals, wer da so neben einem wohnt. Schon manchmal unangenehm!” Sie schob ihre kantige Brille ungeduldig auf ihre kurzen roten Haare, ihr hageres Gesicht zeigte sorgenvolle Falten. Bestimmt rannte sie Marathon oder so etwas. Um die vierzig Jahre, sportlich mager, teure Sportklamotten und Haare, die auch beim Triathlon nicht stören. Jetzt auch noch eine Tochter, die ein Tennisstar werden sollte.

Die Gesellschaft von Sportlern machte sie oft müde. Ruth war froh, dass man gemeinhin mit 55 nicht mehr Marathon laufen musste. Nicht dass sie das mit 25 gemacht hätte. Aber jetzt musste sie immerhin nicht mehr erklären, warum sie an diesem erhebenden Erlebnis keinerlei Anteil haben wollte. Sie schwamm gerne, aber nicht um eine Bestzeit zu erzielen, sondern weil sich dabei so schön nachdenken ließ und einen wirklich mal keiner anquasselte. Das traf auch auf Tauchen und Schnorcheln zu. Darauf freute sich sich schon. Immerhin war die Insel so klein, dass nicht viele Joggen gingen, die müssten dann wohl viele Runden drehen, bis sie ihre 10 km gelaufen sind. Eine leistungssportfreie Zone. Schon alleine das war erholsam.

Abbys Mann Sam war natürlich auch ein Sportler. Es gab ja kaum noch Topmanager, die nicht auch noch Ausdauersport machten. Kann ja schon sein, dass man an sportlichen Trophäen den Willen zum Siegen, zur Teamfähigkeit und zur Ausdauer ablesen konnte. Aber Ruth fand ganz altmodisch, dass es am besten wäre, wenn sie was von ihrem Geschäft und den Menschen verstehen. Dieser Sam schien heute Mittag aber einfach nur seine Ferien genießen zu wollen, denn er sprach wenig und unterdrückte ein Gähnen und sagte dann “Ich mach nachher einen Mittagsschlaf. Heute Nachmittag wollte ich dann mit dem Kajak einmal um die Insel fahren. Kommt einer mit?”

Lydia runzelte die Stirn. Aber weil sie etwas pummelig war, sah es eher putzig aus. Sie warf ein: “Ist das nicht gefährlich mit den Meeresströmungen und Riffen? Ich wollte heute Nachmittag lieber am Pool schwimmen gehen! Das ist so eine feine Sache. Alle Vorzüge des Meerwassers für die Haut minus der glitschigen Algen und scharfen Korallen. Da kann man prima schwimmen, wenn alle Anderen ihren Mittagsschlaf machen!”

“Lydia, du schon wieder! Der Pool ist doch heute geschlossen! Das haben sie uns doch beim Frühstück schon gesagt. Und so nah an der Insel ist das schon okay mit den Strömungen. Unser Sam ist doch ein starker Junge, der kann auch ein bisschen gegen den Strom paddeln, nicht wahr?” Gary klopfte Sam auf die Schulter. Sam lächelte, aber das wirkte nicht ganz echt. Eher so wie die Leute im Fernsehen wenn die Reporter unangenehme Fragen stellen, und man alles abstreiten muss.

Gary war ganz der joviale Typ. Er sah aus, als könnte er jeder Hausfrau eine Hausfinanzierung verkaufen. Braune Locken, freundliche grüne Augen und mittelgroß. Der Traum einer Schwiegermutter. Ruth hatte den Verdacht, dass auch ihre Mutter so einen besser gefunden hätte. An alle gewandt verkündete Gary dann: “Ich will mich heute mit dem Segeln vergnügen. Wenn es Gabrielle besser geht, kann sie ja mitkommen. Als ich vorhin in unsere Villa kam, waren die Jalousien unten und sie hat geschlafen. Ist bestimmt noch diese Erkältung. Heute nach dem Frühstück hat sie ja gesagt, dass es ihr eigentlich besser geht, aber dann hat sie wohl doch Kopfschmerzen bekommen. Jedenfalls lad ich sie nachher mit ins Boot! Eine Meerjungfrau mit mir auf einer einsamen Insel!” Er lachte laut auf und nahm sich noch einen Schluck Rotwein. Das Leben meinte es einfach gut mit ihm. Meinte er jedenfalls.

Auch Sonya hatte jede Menge Pläne für den Nachmittag. Ruth hingegen setzte sich an den Strand, streckte ein bisschen die Füße ins Wasser, sah den Leuten zu und las ihr Buch.

Wie jeden Tag versammelten sich die Gäste gegen fünf an der Strandbar. Die Kinder gingen mit dem KidsClub zur Schatzsuche und waren damit aus dem Weg. Die Großen konnten sich dann einen Longdrink oder ein Bier genehmigen und den Abend einläuten. Die meisten Gäste blieben nur für drei, vier Tage. Eine Insel mitten im Nirgendwo. Einsamkeit und Stille. Wer wollte, konnte allerhand auf dem Wasser unternehmen: Schnorcheln, Tauchen, Kajak fahren, Surfen oder Segeln. Im Bootshaus gab es noch jede Menge andere Wassersportgeräte, von denen Ruth noch nicht mal wusste, auf welches Ende man sich wohl stellen oder setzen sollte, geschweige denn den Namen der damit verbundenen Sportart. Auf der Insel selbst konnte man klettern oder eine Tour durch die Botanik machen. Morgen war auch der Pool wieder geöffnet.

Am Strand war Ruth mit anderen Urlaubern ins Gespräch gekommen: “Weißt du,” hatte Hermann sie gleich geduzt, “meine Investitionen laufen gut. Jetzt, über die Feiertage ist nicht gerade viel los, weder in den Fabriken noch bei meinen, äh, Geschäftspartnern und so ist das die einzige Zeit im Jahr, wo ich endlich mal weg sein kann, ohne dass mich meine Sekretärinnen ständig anrufen oder Termine ausmachen. Es arbeitet ja keiner, wenn der Chef nicht im Büro ist. Und dann am Abend immer Essen,” er klopfte auf seinen stattlichen Bauch “da muss man mal eine Auszeit nehmen. Bei meinem ersten Mal war ich auch nur für drei Tage hier, aber seither komme ich lieber länger.”

Hermann war auch schon an der Bar. Er trug einen blassgelben Hut und ein Hemd mit Blumen, das irgendwie sportlich aussehen sollte. Eine Sportuhr von einem bekannten Hersteller umspannte den mächtigen Arm. Hermann war ganz offensichtlich nicht der Outdoor- und Sportsmensch. Aber heute hatte die Haut unter seinen vielen Haaren viel zu viel Sonne abbekommen, dieser Sonnenbrand würde sich bestimmt pellen! Ob er wohl ein Sportprogramm aufgenommen hatte, um sich für die nächsten Geschäftsessen zu stählen? Bestimmt würde er gleich alles mit lauter Stimme seinen Freunden erzählen, die sich dort einfanden.

Hermann reiste mit seiner Frau May. Erst hatte Ruth vermutet, es wäre wieder einmal die ewige Geschichte von “nicht sehr fescher Ausländer im fortgeschrittenen Alter heiratet umwerfende Asiatin, die ihm so angenehm zu Füßen liegt.” Nachdem die Zufriedenheit über den reichen Fang abgeklungen ist und alle teuren Handtaschen eingekauft wurden, kommt die Langeweile. Aus den ehemals so hübschen Gesichtern sprachen dann die Enttäuschung, Verbitterung und Gehässigkeit. Bei Hermann und May sah es aber nicht danach aus. May wirkte sehr zufrieden und lachte gerne. Vielleicht waren sie noch im frühen Stadium? Vielleicht war es ja bei ihnen auch wirklich die wahre Liebe?

Die Kurzhaarige, die auf sie zusteuerte, kannte Ruth schon vom Mittagessen. Abby kam zu ihnen. “Hallo Hermann! Hallo Ruth, richtig? Hattest du einen schönen Tag?” Sie hatte wohl etwas Pilates am Strand gemacht und fühlte sich richtig gut. Sam war eben erst vom Paddeln zurück und machte sich noch fertig. “Hermann, ist Gary mit Gabrielle noch nicht da? Ich muss ihr was erzählen, da wird sie staunen!“ kündigte sie mit einem gewissen Triumph in der Stimme an. An Ruth gewandt, erklärte Abby, dass Gabrielle sonst schon meist früher kommen würde. “Weißt Du, Ruth, durch die Abendsonne kommt das kurze, hauchdünne Kleidchen, was sie dann immer trägt, die Resultate ihres Fitnessprogramms und des Sonnenbadens besonders vorteilhaft zur Geltung. Auch Hermann freut sich schon besonders auf diesen Teil der Aussicht, oder Hermann?” Gelassen winkte Hermann ab, aber er schaute trotzdem mit einer gewissen Erwartung schon mal in Richtung des Platzes auf dem Gabrielle gleich sitzen sollte.

Ah, da kamen zwei Andere aus der Runde. “Hey Hermann”. Ein Schulterschlag und der Mann mit den zurückgekämmten Haaren und den langen Beinen ließ sich auf den Stuhl sinken. “Ein kühles Bier tut einem richtigen Mann jetzt herrlich gut! Hast du heute irgendetwas unternommen, Hermann, oder nur den Damen im Bikini hinterhergeschaut?” Thomas lachte selbstsicher über seinen Witz

“Wo wir über hübsche Bikinis sprechen”, er warf einen provozierenden Blick auf Lydia, die vorhin am Strand in einem indischen Tuch ins Wasser gestiegen war, “Ist unsere Gabrielle noch nicht da? Sie macht das Panorama doch erst perfekt. Sie werden doch nicht abgereist sein?”

Er schaute verträumt auf die Palmen am weißen Sandstrand, schlug die Beine übereinander und strich sich den Sand von den Schenkeln: “Man verliert ganz den Überblick über die Zeit, wenn man endlich mal entspannen kann. Es war so hektisch, bevor wir hierher kamen. Ein riesiges Projekt in der Firma, das wird unser Durchbruch… ”

Lydia, jetzt mit einem unvorteilhaften Sonnenhut bedeckt, verdrehte die Augen. Sie wollte offenbar auf keinen Fall mehr über dieses Projekt hören und warf deshalb ein: “Nein, Gabrielle kommt sicherlich gleich. Sie hatten doch gesagt, dass sie erst übermorgen abreisen wollen. Und Gary habe ich vorhin noch bei den Booten gesehen. Natürlich kann sie auch ohne ihn abgereist sein”, ein vielsagendes Lachen legte sich über ihr volles Gesicht - “aber bestimmt hätte sie nicht die Gelegenheit versäumt, sich ein Abschiedsfest von uns geben zu lassen. Vielleicht hat sie sich wieder mal eine Massage bestellt, die sich dann länger hinstreckte…” Mit einem kurzen Seitenblick genoss sie, wie sich der Mund von Thomas verzog.

Aufgeregtes Treiben hinter der Bar lenkte Ruths Neugierde ab. Der kleine, zierliche Asiate, der immer so nett mit den Kinder spielte, erzählte und gestikulierte wild. Die anderen sahen mit einem Mal sehr angespannt aus. Das sonst so gelassene und freundliche Personal fing an zu diskutieren. Der Leiter des Resorts kam nun auch dazu. Das Resort hatte natürlich internationale Investoren, aber die Leitung lag in lokaler Hand und Jimmy war bei den Gästen sehr beliebt und kaum aus der Ruhe zu bringen. Nachdem er sich alles angehört hatte, stellte er sich gleich vier Mann zusammen und sagte offenbar den Anderen so weiterzumachen, wie bisher. Zu fünft nahmen sie den Weg Richtung Inselrückseite. Das Team an der Bar wurde nahm wieder seine Arbeit auf.

Endlich wurde auch Hermann nicht länger ignoriert, der nach einem weiteren Drink gewinkt hatte. “Ist was?”, versuchte er frech die Bedienung auszufragen, aber die setzte gleich ihr unverbindliches Lächeln auf und sagte nur: “Alles okay. Nur ein internes Problem. Wollen Sie noch ein Bier?” Hier wusste jemand, wie man seine Urlauber bei Laune halten konnte.

Hermann war offensichtlich schon lange genug in Asien, um zu wissen, dass er so nichts herausbekommen würde. Vielleicht interessierte ihn auch kein Problem der lokalen Mitarbeiter. Was sollte schon Interessantes passiert sein, hier am Ende der Welt? Er nahm das kühle Bier und sackte wieder auf seinem Stuhl zusammen. Lieber widmete er sich wieder der Diskussion mit Thomas und Abby um die derzeit wieder stark schwankenden Wechselkurse. Er hatte viele Tipps, diese günstig auszunutzen.

Bei aller Neugier auf das Leben interessierten Wechselkurse Ruth nun wirklich nicht. Sie hatte allerdings sehr wohl gesehen, wie das Personal sehr besorgt ausgesehen hatte. Malaiisch verstand sie nicht, aber sie glaubt nicht, dass sich jemand verletzt hätte. Dann wäre mehr Eile geboten gewesen und man hätte den Verbandskasten, der hinter der Bar stand, mitgenommen. Nein, das war etwas Anderes.

Da beschloss Ruth: ein kleiner Spaziergang jetzt gegen Abend wäre doch genau das Richtige. Vor dem Abendessen ist es für eine ältere Dame doch nur vernünftig, sich ein wenig zu bewegen. Sonya würde sicher noch eine Weile unter der Dusche stehen und Zeit brauchen, bis sie sich entsprechend lässig angezogen hatte. So würden sie dann beide gleichzeitig wieder an der Strandbar eintreffen. Sie nahm noch ihre Kamera mit, ganz die Urlauberin, die den Sonnenuntergang dokumentieren will…

Ruth war seit kurzem alleinstehend. Sie mochte das Wort. Immerhin stand man noch. Alleine und selbstständig. Als ihre Kinder zum ersten Mal alleine stehen konnten, war das Anlass zu großer Freude und elterlichem Stolz gewesen. Gleich hatte Carl die Kamera geholt. Sie stand nun auch erst seit kurzem wieder alleine, aber fotografiert hatte sie deshalb noch keiner. So war das, wenn man keine Pausbacken mehr hatte und auch ein dicker Bauch nicht mehr von allen Leuten als wonnig bezeichnet wurde… Ruth wollte sich nicht beklagen. Nicht wenige ihrer früheren Freunde waren schon gestorben oder anderweitig nicht in der Lage dazu, einen Abendspaziergang auf einer tropischen Privatinsel zu machen. Nach dem alleine Stehen kam das Laufen. So war das auch im Alter. Sie würde es nun auch wieder lernen müssen, alleine zu laufen. Rechts links rechts links. Das sollte sie doch noch schaffen.

Sie sollte Sonya danken. Diese war neu in Peking und hatte noch nicht so viele Freunde. Sonya hatte nach günstigen Angeboten gesucht und alles gebucht Obwohl man von günstig in diesem Fall fast nicht sprechen wollte. Also auf jeden Fall nicht im Sinne von billig. Zumindest nicht für das Budget von Ruth. Aber wert war es bisher schon mal gewesen. Es war hier wunderschön.

Vor wirklich langer Zeit, hatte Ruth mal in Singapur gewohnt. Der Urlaub hier erinnerte sie an die gute alte Zeit. Ihr Sohn studierte inzwischen in Europa, aber sie waren irgendwie hängengeblieben. Carl noch mehr als sie… Erst hatte sie sich überlegt, zu der Familie ihres Sohnes zu ziehen. Aber was sollte sie denen auf die Nerven gehen?

Außerdem mochte sie das warme Wetter, das Essen und den Komfort in Asien. Vielleicht würde sie mal nach Deutschland zurückziehen, wenn man die Ladenöffnungszeiten ändern würde, sonst müsste sie verhungern. Sie kaufte immer abends und sonntags ein. Nach dem plötzlichen Tod von Carl hatte sie zunächst Sorgen um ihr Visum und ihre Lebenshaltungskosten gehabt. Aber alleine hatte sie mehr Zeit und konnte auch wieder voll arbeiten. Das reichte dann für ein Visum und ein bequemes Apartment direkt an der U-Bahn. Sozusagen zurück zu den Anfängen. Ein Single in der Großstadt. Zwar war sie nicht mehr jung. Aber eben auch nicht mehr arm. So glich sich das irgendwie aus.

Manchmal riefen ihre Freunde sie an und sprachen ihr Mitleid aus. Aber das wollte Ruth auf keinen Fall. Jammern half gar nichts. Rechts links rechts links, Schritt für Schritt ging es weiter. Carl hatte sich immer darüber beschwert, dass sie mit so schnellen Schritten ging. Sie konnte gar nicht anders. Nun hätte sie allerdings gerne noch einmal auf Carl Rücksicht genommen.

Ruth erinnerte sich wieder daran, dass sie ja eigentlich Fotos machen wollte und Außerdem schauen, wohin der Trupp gegangen war. Sie stand schon mitten im Dschungel. Pfade, mit weißem Sand bestreut, führten über die Insel, zu den Villen, die am Meer standen, zu den Unterkünften des Personals und zu einigen Attraktionen, die über die Insel verteilt waren: der höchste Felsen mit Aussichtsplattform, Tennisplätze, eine Freifläche mit Pavillon für erlesene Privatpartys.

Der Dschungel war naturbelassen, schrieb die Hotelbroschüre. Es gab noch einige Wildtiere. Munter sangen ein paar Vögel und die Zikaden begrüßten mit einigem Lärm die aufkommende Dämmerung. Ein Krachen weiter hinten im Wald mochte ein Affe oder eine Waraneidechse sein. Diese Warane konnten riesig werden. Ihr Sohn hatte früher geglaubt, das wären echte Dinos. Ruth musste lächeln. Sie schaute in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und schoss ein Foto. Vielleicht konnte sie das Tier nachher auf dem Monitor besser erkennen. In der Dämmerung des Waldes konnte sie nicht mehr so gut sehen.

Vorne hörte sie nun Stimmen. Es musste am Pool sein. Dort standen keine hohen Bäume und die Sonne schien noch hin. Ökologisch nachhaltig, war er mit Meerwasser gefüllt und mit Natursteinen umfließt. Heute war er gewartet worden. Was wollte Jimmy mit seinen Leuten dann hier so dringend? War einem der Handwerker was passiert? War die Espressomaschine an der Poolbar geklaut worden?

Eine leichte Brise kräuselte das türkisfarbene Wasser. Zackige Schatten von Palmwedeln spielten Fangen mit den Wellen. Idyllisch schmiegte sich der Pool zwischen hohe Felsen, Meer und dichtem Grün. Lange, sonnengebräunte Beine, schmale Schultern, Hände frisch mit goldenem Nagellack überzogen, so trieb sie auf ihrer Luftmatratze im kühlen Wasser. Ihre langen Haare rannen in die Tiefe. Eine Meerjungfrau macht Ferien im Paradies. Man sollte gleich ein Bild für ein Reisemagazin machen. Doch die Dame im Pool kam dafür leider nicht in Frage. Sie würde nie wieder für ein Foto lächeln können.

Bleicher Jasmin

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