Читать книгу Asche zu Asche, Sterne zu Staub - Wiebke Schmidt-Reyer - Страница 14

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4 Die Weihnachtsferien rückten näher, und die Mädchen begannen darüber zu reden, wann sie über die Feiertage nach Hause fahren würden und wie sich das Fest abspielen würde. Charly wurde unsicher. Nie hatte ihre Mutter in einem ihrer Briefe davon gesprochen, dass Charly über Weihnachten nach Hause reisen sollte, und sie traute sich nicht zu fragen. Die Reise war weit und gewiss auch sehr teuer.

„Was machst du eigentlich in den Ferien?“ fragte Math­ilda eines Tages, nur zwei Wochen vor Weihnachten. „Fährst du nach Deutschland?“

Charly musste nicht lange zögern; ihre Freundin deutete ihr Schweigen umgehend. „Du kannst nicht nach Hause fahren, oder?“

Charly zuckte die Achseln und blickte zu Boden. „Wir haben nie darüber gesprochen“, antwortete sie nach einer kurzen Pause. „Vielleicht weiß meine Mutter gar nicht, dass Ferien sind.“ Ihren Vater nahm sie aus allem, was Fenmoore betraf, automatisch aus. Er brachte sich nie in irgendwelche Schulangelegenheiten ein.

„Blödsinn“, rief Mathilda aus. „Natürlich weiß sie das. Das stellt die Schulleitung schon sicher, dass die Eltern genau wissen, wann sie uns abzuholen und wieder zu bringen haben.“ Als sie merkte, dass diese Auskunft für ihre Freundin sehr verletzend sein musste, fügte sie rasch hinzu: „Es ist viel zu weit. Du würdest nur hin und her fahren. Du kommst einfach mit zu mir.“

Charly blickte überrascht auf. Nie hätte sie es gewagt, eine solche Einladung auszusprechen. Wer zu Besuch kommen durfte, war einzig und allein die Entscheidung der Eltern. Das, was Mathilda da gesagt hatte, klang wie etwas, was Smarri sagen würde, aber die war eine erwachsene Frau und führte ihren eigenen Haushalt, nicht ein Kind, das soeben eine Schulfreundin zum Familienfest eingeladen hatte.

„Darf ich das denn?“ fragte sie, und was sie eigentlich meinte, war, ob Mathilda das durfte, einfach so jemanden einladen.

„Natürlich darfst du das. Du bist meine Freundin, ich darf dich doch zu uns einladen. Mein Bruder Jacob bringt auch jedes Jahr an Weihnachten jemanden mit. Ein Schulfreund von ihm, dessen Eltern in Indien leben. Der kann über Weihnachten nicht nach Hause fahren, das dauert Wochen.“

Charly wusste nicht, was sie erstaunlicher fand, das Selbstbewusstsein, mit dem Mathilda sie über die Feiertage zu sich einlud, oder die Tatsache, dass Mathildas Bruder einen Freund hatte, dessen Eltern in Indien lebten. Sie hatte mittlerweile viel Wissen über England nachgeholt, aber die Kolonien waren für sie nach wie vor unvorstellbar weit entfernt.

Nachdem Mathilda noch mehrfach beteuert hatte, dass es bestimmt in Ordnung wäre, schrieb Charly einen Brief an Mary Agnes, dem Mathilda im Namen ihrer Familie anfügte, dass es ihr und ihrer Familie eine große Freude wäre, Charly über Weihnachten als Gast bei sich zu begrüßen. Mary Agnes’ Antwort traf nur wenige Tage vor der Abreise ein, sie ließ einen herzlichen Dank an die Familie ausrichten und wünschte allseits frohe Festtage. Insgeheim dachte Charly, dass der Brief ihrer Mutter so klang, als sei mit dieser wunderbaren Wendung ihr eigener Wunsch in Erfüllung gegangen, sich gar nicht mit den Weihnachtsferien ihrer Tochter bekümmern zu müssen. Smarri, die unvergleichliche Smarri, nahm Charly ungefragt die größte Sorge ab, was sie, die die Familie, die sie so freundlich aufnahm, noch nicht einmal kannte und keinerlei Gelegenheit zu Weihnachtseinkäufen hatte, ihren Gastgebern denn unter den Baum legen sollte. Sie schickte ein großes Paket voller Aufmerksamkeiten, ein Paar handgefertigte Filzpantoffeln für Mathildas Mutter, eine Flasche französischen Wein für den Vater, ein wertvolles Jagdmesser für Mathildas älteren Bruder Jacob und detailgetreu aus Holz geschnitzte Tiere der Alpen – eine Gämse, ein Murmeltier, ein Steinbock – für den jüngeren, Callum. Und feinsten Lebkuchen und eine ganze Speckseite für die ganze Familie. Sogar für Seamus, den Jungen mit den Eltern in Indien, gab es ein Geschenk: einen Bildband über Bergsteigerexpeditionen in den Alpen. Er war unendlich gerührt, und es war ihm so unangenehm, dass er selbst kein Geschenk für Charly hatte, dass er ihr hoch und heilig versprach, unbedingt von seinen Eltern in Indien etwas für sie besorgen zu lassen. Sie freute sich über seine aufrichtige Dankbarkeit und nahm sein Versprechen nicht ernst, bis viele Monate später in Fenmoore ein Paket für sie eintraf, das sichtlich viel erlebt hatte und durch unzählige Hände gegangen war, so zerbeult war die kleine Holzkiste, so mitgenommen das dicke Packpapier, dicht an dicht beklebt mit Zetteln mit exotischen Stempeln und unverständlichen, handgeschriebenen Vermerken, sodass ihre Adresse darunter kaum noch sichtbar war.

Das Kistchen verströmte einen betörenden Geruch, wie Charly ihn noch nie wahrgenommen hatte und der Mathilda dazu veranlasste, die Nase krauszuziehen und uäh, das stinkt aber gewaltig zu sagen. Wie verzaubert saß Charly auf ihrem Bett, die wunderliche, weit gereiste Kiste in den Händen haltend, und sog mit weit geblähten Nüstern das aufregende Aroma von Tropenholz, Gewürzen, brütender Sonne und Salzwasser, Schiffsbäuchen, Papier, ungewaschenen Händen von Hafenarbeitern und unzähligen anderen Dingen, die sie nicht benennen konnte und noch nie gesehen hatte, ein. Mit jedem Atemzug entdeckte sie neue Nuancen und erschnupperte die halbe Welt, die das Paket auf dem Weg zu ihr umrundet hatte. Allein so etwas zu besitzen, allein, dass jemand in einem fernen Land namens Indien für sie diese Kiste gepackt und auf den Weg in die Cheviot Hills geschickt hatte, war ihr Geschenk genug, und sie wäre es zufrieden gewesen, das Paket ungeöffnet zu lassen, seine unerwartete Überraschung als Geheimnis bewahrend, und es einfach hin und wieder in den Händen zu halten, seine unentzifferbaren Poststempel zu lesen wie ein orientalisches Märchen und ihre Nase in die Zauberwelt seines Geruchs zu versenken. Aber bedrängt von Mathilda, die vielleicht schon öfter koloniale Post gesehen hatte, öffnete sie es schließlich doch. Zum Vorschein kamen eine Ansichtskarte von einer märchenhaften Tempelanlage und ein unförmiges, in Geschenkpapier verpacktes Etwas, das sich als kleine Holzstatue eines Pferdes entpuppte. Das Holz war schwer, steinhart und pechschwarz, aber das Merkwürdigste waren die Ohren des Pferdes, die sichelförmig nach innen gebogen waren und eine Form wie ein Herz bildeten. Charly drehte das Pferdchen in ihren Händen hin und her, ließ ihre Finger über das samtweich geschliffene, warme Holz gleiten und sog den unvergleichlichen Duft der Statue ein, ein wenig ähnlich zu dem der Holzkiste, in der es gekommen war, und doch ganz eigen, würziger noch, schärfer, dass es ein wenig in den Atemwegen stach, wenn man zu tief einatmete. Mathilda hatte sich mittlerweile die Karte geschnappt und las laut vor:

Liebes Fräulein Charly,

unser Sohn Seamus, den Sie an Weihnachten bei den Batesons kennen gelernt haben, hat uns gebeten, ein Geschenk für Sie zu besorgen, um Ihnen seinen Dank auszusprechen für das schöne Buch aus Ihrer Heimat in den Alpen, mit dem Sie ihm große Freude bereitet haben. Bitte gestatten Sie uns, Ihnen diese kleine Schnitzerei zu überreichen. Sie zeigt ein Marwari-Pferd. Diese Pferde gibt es nur in Indien. Typisch für die Rasse sind die nach innen gebogenen Sichelohren, die sich an den Spitzen oft berühren. Vielleicht haben Sie ja selbst irgendwann einmal Gelegenheit, nach Indien zu reisen. Es wäre uns eine große Freude, Sie dann bei uns als Gast willkommen zu heißen.

Hochachtungsvoll, Charlotte und Morris Tubridy

Charly nahm Mathilda die Karte aus der Hand und las sie noch einmal still für sich und versuchte, all die Unglaublichkeit dieses merkwürdigen Geschenks zu begreifen. Da waren Menschen in Indien, die es nicht für undenkbar hielten, dass sie selbst eines Tages dorthin reisen würde, und sie sprachen eine Einladung in einen unvorstellbar weit entfernt gelegenen Teil der Welt aus wie andere eine Einladung zum Tee am Samstagnachmittag bei den Nachbarn. Es gab Pferde in Indien, deren Ohren ein Herz formten. Sie drehte die Karte um und betrachtete das Bild. Es zeigte, wie der Text informierte, den Chatri Tempel in Gwalior. Oder war es der Gwalior Tempel in Chatri? Es war auch egal. Diese Karte war in Indien für sie geschrieben worden und all den Weg zu ihr gereist. Charly überlegte, was ihre Eltern wohl sagen würden, wenn sie sie bitten würde, etwas Schönes zu kaufen und einer ihnen unbekannten Person in Indien zu schicken. Würden sie auch eine Karte auswählen und Grüße vom anderen Ende der Welt darauf schreiben? Ihre Gedanken und ihre Phantasie fuhren derart Achterbahn in ihrem Kopf, dass es ihr fast schwindelig wurde, und sie konnte noch nicht mal einen Bruchteil all dessen, was sie empfand, lang genug festhalten, um es in Worte zu fassen. Verwirrt immer wieder zwischen der Karte, Mathilda und dem Mar­wari-Pferdchen hin- und herblickend, brachte sie schließlich nichts anderes als das ist sehr nett von ihnen hervor, wo sie hätte sagen wollen, dass dies das absolut Umwerfendste war, was sie je in ihrem Leben bekommen hatte, und dass sie nie wieder solche Aufregung, solche Ehrfurcht, solche Sehnsucht, solche Erhabenheit beim Öffnen eines Geschenks empfinden würde. Sie schämte sich, dass es ihr nicht möglich war, ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, und nahm sich vor, den Tubridys und auch Seamus einen langen Brief zu schreiben, um sich zu bedanken. Sie hoffte, dass sich ihre Adresse in Indien irgendwo inmitten des Aufkleber- und Stempelgewirrs auf der Schachtel finden lassen würde.

Das war nur eine der wundersamen und ganz und gar erstaunlichen Begebenheiten, die sich aus Charlys Weihnachtsbesuch bei den Batesons entwickelten. Eine andere war, dass Mathildas Vater, Mister Bateson, sich als leidenschaftlicher birdwatcher entpuppte und Charly auf seine vogelkundlichen Spaziergänge, die er rambles nannte, mitnahm. Er kannte sich hervorragend aus und brachte ihr zwischen Heiligabend und Neujahr mehr bei, als sie je aus den Büchern in der Schulbibliothek hätte lernen können. Zum Abschied schenkte er ihr seinen alten Feldstecher, den er ihr während der Spaziergänge geliehen hatte, und machte ihr damit eines der größten Geschenke, die sie je bekommen hatte.

Während der Ferien verwöhnten die Batesons ihre Kinder und deren Schulfreunde wie Prinzen und Prinzessinnen. Morgens, noch vor dem gemeinsamen Frühstück, bekam Charly von einem Dienstmädchen eine Tasse heiße Schokolade ans Bett serviert. Charly war mit Hofangestellten aufgewachsen, und Mary Agnes hatte eine Haushaltshilfe, die putzte, kochte und Näharbeiten machte, aber dass jeder Gang bei Tisch serviert und wieder abgetragen wurde, dass das Bett gemacht wurde und man abends nur die Kleidung über einen Stuhl legen musste und am nächsten Morgen waren die Sachen, die gewaschen werden mussten, aussortiert und frische lagen bereit, das war etwas, was nur in Märchen passierte. Abgesehen von den Mahlzeiten, bei denen sie anwesend sein mussten, durften die Kinder den ganzen Tag tun und lassen, was sie wollten. Charly und Mathilde gingen untergehakt spazieren und unterhielten sich stundenlang und ernsthaft über all die Themen, über die sie auch in der Schule miteinander sprachen. Sie gingen auf und ab durch den kleinen Ort und wurden es nicht satt, immer wieder dieselben Auslagen in denselben Schaufenstern zu betrachten; auf Fenmoore mussten sie dann wieder monatelang ohne jegliche Geschäfte auskommen. Abends saß die ganze Familie im Kaminzimmer und las oder spielte Gesellschaftsspiele. Charly las Seamus aus dem Alpenexpeditionen-Bildband vor und übersetzte ihm die Texte so oft, bis er schwor, sie auswendig zu kennen und dass er sie sich immer vorsagen würde, wenn er sich das Buch anschauen würde. Charly erwähnte es natürlich Mathilda gegenüber nie, aber sie dachte manches Mal, dass sie die beschaulichen Tätigkeiten und gleichförmigen Tage wohl schnell als langweilig empfinden würde, wenn sie länger als zwei Wochen Ferien so leben müsste. Am schönsten waren die Tage, an denen sie mit Mister Bateson ganz früh, selbst noch vor der Köchin, die morgens immer die erste war, aufstand, um im Morgengrauen Vögel zu beobachten. An solchen Tagen legte sie sich nach dem Mittagessen noch mal hin und schlief ein, zwei Stunden, wie auch Mister Bateson es tat, und das an sich war schon ein Abenteuer; zu Hause war Mittagsschlaf nur denkbar, wenn man alt oder krank war oder hart dafür gearbeitet hatte. Es war etwas, das ihrem Vater und den Landarbeitern gestattet war, wenn sie im Sommer noch vor Sonnenaufgang aufstanden und die größte Hitze des Tages verschliefen, um abends wieder auf die Felder zu gehen.

Das ganz und gar Unwahrscheinlichste, was geschah, aber war, dass Jacob sich in Charly verliebte und sie beim Abschied schüchtern fragte, ob er ihr schreiben dürfte. Charly war so verblüfft und sprachlos, dass sie nickte, bevor sie darüber nachdenken konnte, ob sie ja sagen durfte, ob sich das schickte, ob Jacob nicht zu alt für sie war, ob sie auf Fenmoore überhaupt Briefe von Jungen empfangen durfte und ob sie dann auch würde zurückschreiben müssen. Als nächstes dachte sie daran, dass sie Mathilda davon erzählen musste, dann aber fiel ihr ein, dass Jacob ja Mathildas eigener Bruder war, und sie wurde unsicher, ob ihre Freundin sich wirklich darüber freuen würde. Dann dachte sie, dass sie unbedingt jemanden fragen musste, wie sie sich verhalten sollte, denn auf diese für sie völlig neue Situation hatte sie beim besten Willen keine Antwort parat. Dann fiel ihr diejenige Person ein, dank derer sie zum allerersten Mal überhaupt eine Vorstellung davon bekommen hatte, worüber Frauen – erwachsene Frauen – so sprachen, wenn sie unter sich waren. Und so kam es, dass Charly sich mit ihrer Schwägerin zu schreiben begann, ihrer Schwägerin, die sie kaum kannte, und die auf sie einen so klugen und lebensweisen Eindruck gemacht hatte, dass sie die einzige Person war, der Charly zutraute, dass sie das Geheimnis sowohl für sich behalten als auch guten Rat beisteuern könnte. Ihren ersten Brief an Smarri setzte sie dreimal auf und verwarf ihn dreimal komplett wieder. Sie hatte keine Erfahrung im Schreiben von vertraulichen Briefen. Sie konnte nur die chronologischen Berichte über das Schulleben, die so unpersönlich und austauschbar waren, dass nahezu jede ihrer Schulkameradinnen nahezu jeden Monat den gleichen Brief nach Hause schrieb.

Zunächst verlor sie sich in umständlichen Einleitungen voller guter Wünsche und belangloser Fragen, von denen sie hoffte, dass sie sie wie von selbst zum eigentlichen Grund ihres Schreibens führen würden, was sie nie taten. Nach drei gescheiterten Versuchen, die sie alle fein säuberlich in tausend kleine Fetzen riss, damit Mathilda bloß nichts davon mitbekommen würde, schrieb sie schließlich genau das nieder, worum es ihr ging:

Liebe Smarri,

vielleicht wunderst Du dich, warum ich Dir schreibe, weil ich das in dem halben Jahr hier in Fenmoore ja noch nie getan habe, aber jetzt ist etwas eingetreten, weswegen ich das Gefühl habe, Dir unbedingt schreiben zu müssen.

Habe ich mich schon für das Paket bedankt, das Du für Mathildas Familie vor Weihnachten geschickt hast? Du ahnst nicht, welche Freude Du ihnen damit gemacht hast. Alle Geschenke waren genau richtig. Die ganze Familie hat sich sehr gefreut und sich tausendmal bedankt. Ich habe ihnen natürlich gesagt, dass Du die Geschenke ausgewählt hast, und das, ohne sie zu kennen, und sie lassen Dir ihren allerherzlichsten Dank ausrichten. Sie sind wirklich alle sehr nett, Mathildas Familie, und haben mich sehr herzlich aufgenommen. Es war ein sehr schönes, fröhliches Weihnachtsfest. Ich bin sehr dankbar, dass ich bei ihnen sein durfte.

An dieser Stelle hielt sie inne. Durfte sie das so schreiben, wo sie damit doch eigentlich sagte, dass ihre eigene Familie sie zu Weihnachten nicht zu sich eingeladen hatte? Aber dann dachte sie, wenn sie Smarri ihr größtes Geheimnis anvertrauen wollte und darauf vertraute, dass sie es niemandem sagen würde, dann konnte sie bestimmt auch so etwas schreiben. Um ganz sicherzugehen, schrieb sie weiter:

Aber eigentlich schreibe ich Dir aus einem ganz anderen Grund, und ich bitte Dich, niemandem von diesem Brief zu erzählen. Ich glaube, dass Du die einzige bist, die mir in dieser Sache Rat geben kann. Ich kann mit niemandem sonst darüber sprechen. Es ist nämlich so: Mathilda hat einen älteren Bruder, Jacob (aber das weißt Du ja, Du hast das Messer für ihn besorgt). Er geht auf eine Schule in der Nähe von London, und er hat mir zum Abschied, als wir wieder zurück nach Fenmoore gefahren sind, gesagt, dass er mir gerne schreiben würde. Er hat sogar sehr höflich gefragt, ob er das dürfte, und ich habe gleich ja gesagt. Nein, eigentlich habe ich nicht ja gesagt, sondern nur genickt. Und ich habe gar nicht darüber nachgedacht, ich habe einfach so genickt und mir nicht überlegt, ob ich das will. Aber nun habe ich nun mal ja gesagt, und jetzt weiß ich ehrlich gesagt nicht, wie ich weitermachen soll.

Mathilda kann ich nicht fragen, es ist ja ihr Bruder, und vielleicht findet sie das ganz und gar nicht in Ordnung. Seit wir zurück sind denke ich nur darüber nach und weiß gar nicht, was ich machen soll. Was antworte ich ihm denn, wenn er schreibt? Und ich weiß auch gar nicht, ob ich seine Briefe hier bekommen darf. Ich habe große Angst, dass die Direktorin sie erhält und liest und ich dann zu ihr gerufen werde und ihr das erklären muss. Am liebsten würde ich ihm schreiben, dass er mir gar nicht schreiben soll, aber ich habe seine Adresse nicht, und die einzige Person, die sie mir geben könnte, ist Mathilda, und die traue ich mich nicht zu fragen. Und was, wenn ich ihm zuerst schreibe und er dann an seiner Schule zu seinem Direktor muss und das alles für ihn sehr unangenehm wird?

Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, und ich weiß auch gerade gar nicht, wie Du mir helfen kannst, weil natürlich warst Du nie an einer Schule in England und weißt nicht, was man darf und was nicht. Als Du Severin kennen gelernt hast, war sicher alles ganz anders, weil Du da ja bei Deinen Eltern gelebt hast, und die sind sicher nicht so wie unsere Direktorin. Aber vielleicht kannst Du mir ja doch irgendeinen Rat geben und mir wenigstens sagen, was ich ihm zurückschreiben kann, wenn er mir schreibt.

Ich hoffe, Du verzeihst mir, dass ich Dir all dieses dumme Zeug schreibe, wo Du sicher viel Wichtigeres zu tun hast, vor allem jetzt, wo Du das Baby hast (ich hoffe, es geht meiner kleinen Nichte gut und sie ist gesund und wächst jeden Tag!). Aber ich weiß nicht, wem ich sonst schreiben soll. Ich bitte nochmals um Verzeihung, aber wenn Du mir irgendeinen Rat geben kannst, bin ich Dir gewiss sehr dankbar.

Mit den allerliebsten Grüßen, Deine Schwägerin …

An dieser Stelle hielt Charly nochmals inne. Sollte sie mit Charly unterschreiben? Ihre Briefe an die Eltern unterschrieb sie gehorsam mit Auguste; alles andere hätte Mary Agnes empört. Sie konnte sich noch nicht einmal erinnern, ob sie ihrer Familie je gesagt hatte, dass man sie hier Charly nannte. Aber nachdem Smarri selbst einen Spitznamen hatte, erschien es ihr richtig, ihren eigenen Spitznamen zu verwenden. So unterschrieb sie mit Charly und setzte darunter:­

P.S.: So nennen sie mich hier, weil Auguste für Engländer sehr schwer auszusprechen ist. Das war Mathildas Einfall an meinem ersten Tag hier, und seitdem hat mich nie wieder jemand Auguste genannt.

Sie hatte den zweiten Teil des Briefes hastig und in einem Fluss heruntergeschrieben, und als sie fertig war, drehte sie das Papier mit der beschriebenen Seite nach unten, legte beide Hände darauf, versteckte das Geschriebene vor sich selbst und atmete tief ein, als hätte sie den Brief in einem Atemzug geschrieben und müsste nun erst mal wieder Luft holen. Sie wagte keinen zweiten Blick auf ihren Text, las ihn nicht noch einmal durch, sondern adressierte den Umschlag und stopfte den Brief hastig hinein. Wenn sie ihn noch einmal durchgelesen hätte, hätte sie bestimmt der Mut verlassen, ihn abzuschicken. Sie klebte den Umschlag zu und machte sich sofort auf den Weg zur Pförtnerloge, wo man die Post abgab.

Zu Charlys Überraschung und großer Freude antwortete Smarri umgehend, ging auf jedes ihrer Bedenken ein und gab nützliche Tipps. Kurz nach Smarris Brief traf auch der erste von Jacob ein. Er war kurz, relativ trocken und fast ein wenig langweilig, aber Charly war froh drum, denn so konnte auch sie sachlich und nicht zu ausführlich antworten. Noch bevor sie Jacob zurückschrieb, schrieb sie an Smarri, bedankte sich für die guten Ratschläge und berichtete, dass Jacob tatsächlich geschrieben hatte und dass Mathilda nichts davon mitbekommen hatte. Das war der Anfang eines regen Briefwechsels zwischen Charly und ihrer Schwägerin, der über viele Jahre anhielt und immer vertrauter wurde, bis sie, die kaum je Zeit miteinander verbracht hatten, die besten Freundinnen waren und dabei noch nicht einmal recht wussten, wie die andere aussah, denn Fotos von beiden gab es in jener Zeit keine.

Daneben schrieb sich Charly auch mit Jacob, dessen Briefe sie sorgsam in einer kleinen Holztruhe mit einem Vorhängeschloss tief hinten in ihrem Schrank verbarg, damit Mathilda sie nicht fand. Als Mathilda nach einigen Wochen einmal entnervt fragte, an wen Charly eigentlich all diese langen Briefe schicke, die sie fast Abend für Abend schrieb, konnte diese mit gutem Gewissen antworten an meine Schwägerin in München und wie zum Beweis einen dicken Stapel Briefe von Smarri in ihrer Schreibtischschublade vorweisen, was Mathildas Frage beantwortete und keine weiteren aufwarf. Wenn sie ehrlich war, war dies auch der bevorzugte Teil ihrer Korrespondenz. Jacobs Briefe waren fast immer gleich und nie sehr spannend. Er schrieb von seinen Lehrern, dem Unterricht, den Sportmannschaften, in denen er Mitglied war, und ein bisschen von seinen Freunden an der Schule. Lehrer und Unterricht hatte Charly auch, und Jacobs Erfahrungen waren nicht viel anders als ihre; für die Sportmannschaften interessierte sie sich nicht, und seine Freunde kannte sie bis auf Seamus nicht, und von dem erzählte Jacob kaum, vielleicht aus dem gleichen Grund, weswegen Charly nichts von Mathilda schrieb – weil ihnen ihr kleines Briefgeheimnis leichter fiel, wenn nur sie beide daran teilhatten.

Als die Frühlingsferien anstanden, kam noch einmal so etwas wie Herzflattern auf, denn Mathilda lud Charly wieder zu sich nach Hause ein, diesmal von vornherein, ohne zu fragen, ob Charly plane, nach Hause zu fahren. Ohne ihre Mutter zu fragen oder auch nur darüber nachzudenken, ob ihre Eltern sie vielleicht gerne mal wiedersehen würden, nahm Charly die Einladung an. Als erstes schrieb sie Smarri davon und auch, dass sie aufgeregt und ein wenig ängstlich sei, weil sie nun Jacob wiedersehen würde und nicht wusste, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Noch bevor Smarri darauf antworten konnte, begannen die Ferien, und die Mädchen machten sich auf den Weg zu den Batesons.

Auf der Zugfahrt nach Shropshire, nach langem innerlichem Händeringen und nachdem sie sich viele Gesprächseinstiege zurechtgelegt und wieder verworfen hatte, fragte Charly, betont gelangweilt aus dem Fenster schauend und so, als sei ihr dieser Gedanke wirklich erst in dieser Minute gekommen: „Kommt Seamus eigentlich auch wieder?“

Mathilda schaute sie verständnislos an. „Natürlich nicht“, antwortete sie. „Er und Jacob sind im Trainingslager.“

Charly heftete ihren Blick starr an etwas, das sie durch das Zugfenster sah und unterdrückte angestrengt den Impuls, den Kopf herumzureißen und Mathilda anzustarren.

„Trainingslager?“ fragte sie mit einiger Verzögerung. „Was für ein Trainingslager?“ Sie hoffte, dass ihre Stimme ausreichend desinteressiert klang, als sei das hier nur ein angelegentlicher Plausch, um die Reisezeit zu vertreiben. Seit wann wusste er davon? Und wie viele Briefe hatte er ihr geschrieben, ohne das Trainingslager auch nur mit einem einzigen Wort zu erwähnen?

„Na, Tennis natürlich“, gab Mathilda zurück und klang ein wenig ungeduldig. Wahrscheinlich hatte sie Recht, ungeduldig zu sein. Die Passagen über Jacobs sportliche Aktivitäten hatte Charly immer mehr oder weniger überflogen. Wahrscheinlich hätte sie wissen müssen, wie wichtig ihm Tennis war, und vielleicht war er sogar einer der Spitzenspieler seiner Schulmannschaft, aber sie hatte nie genau genug gelesen. Vielleicht hatte er sogar von dem Trainingslager in den Frühlingsferien geschrieben, und sie hatte es einfach überlesen. Siedend heiß kam ihr dieser Gedanke, und schon war sie überzeugt, sich gerade gänzlich bloßzustellen, als ihr gerade noch rechtzeitig einfiel, dass Mathilda ja nichts von den Briefen zwischen ihr und Jacob wusste und deswegen nicht wissen konnte, dass Charly vielleicht hätte wissen müssen, dass … Sie beeilte sich etwas zu sagen, bevor ihr Schweigen merkwürdig wirken würde. „Ach so“, sagte sie, um irgendetwas zu sagen, und dann: „Ich wusste nicht, dass Seamus auch Tennis spielt.“

„Nein, woher auch? Jacob hat es dir wahrscheinlich nicht gesagt“, antwortete Mathilda.

„Nein, hat er nicht.“ Der Satz rutschte ihr einfach so heraus, und sie hörte ihn erst, als sie ihn aussprach und auch Mathilda ihn hörte. Im selben Moment fühlte sie sich feuerrot werden und ihre Augen huschten blitzschnell zu Mathilda herüber, um einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen. Hatte sie das Geständnis in diesem Satz gehört? Charly sah, wie Mathilda grinste, ein so breites, freches Grinsen, dass sie unmöglich so tun konnte, als hätte sie es übersehen. Sie schnappte nach Luft und sah Mathilda offen an. Sie brauchte nicht auszusprechen, was sie dachte, ihre Freundin prustete ohnehin schon los.

„Du solltest dein Gesicht sehen“, brachte Mathilda atemlos hervor. „Absolut unbezahlbar.“

Charly wusste noch immer nichts zu sagen. Sie wusste nicht, wie viel Mathilda wusste und wie viel sie zusätzlich zu verraten drohte, wenn sie etwas sagte.

„Du dachtest, ich weiß davon nichts, nicht wahr?“

Charly machte eine unbestimmte Bewegung mit dem Oberkörper, vielleicht ein Nicken, vielleicht ein Achselzucken. Mathilda hielt sich mittlerweile den Bauch vor Lachen. Bevor sie sprechen konnte, musste sie sich die Hände vors Gesicht schlagen, um Charly eine Weile nicht anzusehen. Als sie nur kurz zwischen den Fingern durchlinste und Charlys nach wie vor verblüfftes Gesicht sah, kicherte sie sofort weiter, bis sie kaum mehr atmen konnte. „Du hast dir so viel Mühe gegeben, alles geheim zu halten“, japste sie, als sie endlich wieder Luft bekam. „Es war einfach viel zu schön, als dass ich es dir hätte sagen können.“ Mit dem Handrücken wischte sie sich die Lachtränen vom Gesicht. „All diese Briefe an Deine ‘Schwägerin’.“ Sie sagte Schwägerin mit besonderer Dehnung und malte mit den Zeigefingern Anführungszeichen dazu in die Luft.

„Ich schreibe mir wirklich mit meiner Schwägerin“, protestierte Charly, aber etwas lahm.

„Jaja, natürlich tust du das. Aber du schreibst dir auch mit meinem Bruder.“

Charly ließ den Kopf hängen und seufzte. Es hatte keinen Sinn, irgendetwas zu leugnen. „Ja, das tue ich. Seit den Weihnachtsferien.“

„Ich weiß“, sagte Mathilda. „Er hat mich gefragt, ob ich was dagegen hätte.“

Nun war Charly erneut verblüfft. „Er hat dich gefragt?“

„Natürlich. Er hätte sich nie getraut, meiner besten Freundin zu schreiben ohne mein Einverständnis.“

Charly spürte deutlich den Stich. Mathildas Bruder hatte sie gefragt, aber sie, die sie gerade als ihre beste Freundin bezeichnet hatte, hatte alles drangesetzt, den Briefwechsel vor ihr geheim zu halten. Sie fühlte sich plötzlich sehr schlecht und wusste nicht, wie sie auf den Vorwurf reagieren sollte. Statt dessen fragte sie: „Was hast du ihm gesagt?“

„Dass er dich das selbst fragen muss.“ Mathilda klang nach wie vor vergnügt. Falls sie einen Vorwurf hatte machen wollen, war sie nicht nachtragend.

„Das war alles?“

„Natürlich. Ich kann doch nicht entscheiden, ob es dir gefällt, wenn er dir schreibt.“ Nach einer kurzen Pause schob sie hinterher: „Gefällt es dir?“

Charly machte erneut eine unbestimmte Bewegung. Sie wusste nicht recht, was sie antworten sollte. Anfangs hatte sie sich geschmeichelt gefühlt und war aufgeregt gewesen, jedes Mal, wenn einer seiner Briefe eintraf. So gesehen hatte es ihr sehr gefallen. Aber dann war es etwas langweilig geworden, weil seine Briefe immer gleich waren. In letzter Zeit waren sie auch immer weniger geworden, und über das Trainingslager hatte er kein Wort verloren. Aber konnte sie das Mathilda gegenüber sagen?

Mathilda kam ihr zuvor: „Er ist kein grandioser Briefeschreiber, nicht wahr?“

Nahezu erleichtert senkte Charly den Kopf und atmete tief ein. Mathilda hatte es selbst gesagt. „Seine Briefe sind nett …“, setzte sie an. Sie wollte auf keinen Fall etwas Unsensibles sagen.

„… aber ziemlich langweilig“, vollendete Mathilda den Satz für sie. Bevor Charly etwas weiteres sagen konnte, fuhr sie fort: „Es geht immer nur um seinen Sport. Tennis hier, Fußball da, Cricket dort. Und er schreibt es auch nicht spannend. Er glaubt, alle müssen das genauso spannend finden wie er, dabei ist es einfach nur langweilig, und dann schreibt er auch noch so langweilig darüber.“

Ihre Stimme hatte einen bestimmten Tonfall, der Charly verwunderte, und plötzlich hatte sie das Bedürfnis, Jacob zu verteidigen, nicht, um seine Schwester nicht zu verletzen, sondern gegen sie. „Es ist schon in Ordnung, es ist halt das, was ihn interessiert und beschäftigt.“

„Aber dann kann er ja mit seinen Freunden darüber reden. Er muss doch nicht Mädchen darüber schreiben.“

Charly war es irgendwie immer ganz recht gewesen, dass Jacobs Briefe so unverfänglich und ein wenig langweilig gewesen waren. Dann hatte sie sich keine allzu großen Gedanken machen müssen, wie sie darauf antworten sollte. Für einen Moment überlegte sie, ob sie fragen sollte, wie vielen Mädchen Jacob denn schrieb, dass ihre Freundin der Meinung war, er sollte ihnen doch lieber über etwas anderes schreiben. Aber sie wählte lieber die unverfängliche Form: „Schreibt er dir auch?“

Mathilda gab ein grunzendes Geräusch von sich. „Zumindest hat er das früher mal, bis er anfing, dir zu schreiben. Und ich habe mich dabei zu Tode gelangweilt.“

Charly lächelte versöhnlich. „Dann habe ich dir also einen Gefallen getan.“

„Oh ja, sehr sogar.“ Mathilda stieß nahezu einen dankbaren Seufzer aus. Und schob dann hinterher: „Und du kannst aufhören, höflich zu sein. Sag ruhig, dass seine Briefe dich langweilen. Wenn du ihm nicht mehr schreiben willst, hör einfach auf damit.“

Und das war es, was Charly nach den Frühlingsferien tat. Sie schrieb noch einen belanglosen Brief an Jacob, in dem sie von den gemeinsamen Ferien mit Mathilda bei seinen Eltern berichtete und ein wenig Bedauern ausdrückte, dass er nicht hatte nach Hause kommen können, und als seine Antwort vier Wochen auf sich warten ließ, nahm sie dies als ein Zeichen, dass auch er kein Interesse mehr hatte und blieb ihm eine Antwort auf seinen letzten Brief für immer schuldig.

Sie war froh, dass ihr kleines Briefgeheimnis damit aus der Welt war. Sie hatte nun nichts mehr vor ihrer besten Freundin zu verbergen und sogar noch etwas mehr, worüber sie beide kichern konnten. Sie schrieb sich weiterhin mit Smarri, aber sie fand wieder mehr Zeit, durch die umliegenden Hügel zu streifen und mit Mister Batesons Fernglas Vögel zu beobachten oder mit den anderen Mädchen im Gemeinschaftsraum zu sitzen und stundenlang zu reden, Bücher zu lesen und zu lachen. Sie vertiefte Freundschaften und schloss neue, und vor den Sommerferien sah sie sich mit sage und schreibe drei Einladungen konfrontiert, die Ferien mit der Familie einer Schulkameradin zu verbringen: Mathilda und die Batesons wollten sie gerne mit in die Normandie nehmen, Tamsin lud sie auf das Anwesen ihrer Familie nach Cornwall ein, und Edith sprach eine Einladung in den Lake District aus, wo ihre Familie ein cottage besaß. Sie nahm die Einladung nach Cornwall an, weil sie die Gastfreundschaft der Batesons nicht überstrapazieren wollte, und versprach Edith, dafür in den Weihnachtsferien zu ihr zu kommen. Ihre Eltern setzte sie lediglich in einem Brief von ihrer Entscheidung in Kenntnis – sie bat nicht um Erlaubnis – und war ein wenig überrascht, als von ihrer Mutter schwacher Protest kam; sie habe gehofft, Auguste – natürlich sprach sie noch immer von Auguste – würde wieder einmal nach Hause kommen. Als Charly ihre Entscheidung rechtfertigte mit der Begründung, sie habe nun schon zugesagt und es wäre unhöflich, wieder abzusagen – gegen ein Argument im Sinne der Höflichkeit konnte ihre Mutter unmöglich etwas einwenden –, staunte sie, wie leicht es ihr fiel, ihren Eltern abzusagen. Sie war seit einem Jahr nicht mehr zu Hause gewesen und freute sich mehr auf die Ferien mit Tamsin, als dass sie Heimweh gehabt hätte.

Auch in den nächsten Ferien, die sie Edith versprochen hatte, und dann wieder in den nächsten gab es immer eine Einladung, die man der Höflichkeit halber annehmen musste und die verhinderte, dass Charly nach Hause reiste. Dank der Gastfreundschaft ihrer Mitschülerinnen lernte sie alles kennen, was England an Schönem zu bieten hatte: die poetischen Seen, denen Wordsworth sich verschrieben hatte; das blühende Cornwall, wo man sich am Golf von Neapel wähnen konnte, wenn man zwischen Palmwedeln und Magnolienblüten hindurch ins Blau des Himmels schaute; das entrückte Snowdonia, was wie Schneewittchens Land hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen klang und ebenso bezaubernd war. Einmal reiste sie nach London und besuchte Hontamilia, die ihr das Großstadtleben zeigte: Theater, Kino, Tanzveranstaltungen, zu denen ein abgekarteter Reigen von jungen Männern – Söhne, Neffen, Cousins von Hontamilias Freundinnen und Verwandten – sie einlud, aber sehr zu Mary Agnes’ Enttäuschung vermochte keiner von ihnen länger als einen Abend Charlys Aufmerksamkeit zu halten. In Stonehenge besuchte sie die monumentalen Steine und in Oxford die Bibliotheken und Kirchen und sogar ein paar Pubs, in denen sich Studenten trafen, an deren lauten, fröhlichen Runden Charly und ihre Freundinnen zu gerne teilgenommen hätten, aber sobald einer von ihnen an ihren Tisch trat und sie einlud, schüttelten sie scheu die Köpfe und schoben vor, eigentlich gerade zu gehen. Sie wanderte durch die Cotswolds und den Sherwood Forest und ging baden in Bath. Charly sah von England mehr, als sie von Deutschland, sogar von Bayern je gesehen hatte, und als sie nach der erforderlichen Anzahl Jahre in Fenmoore ihren Abschluss machte, war es für Deutschland zu spät, entdeckt zu werden.

Asche zu Asche, Sterne zu Staub

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