Читать книгу Asche zu Asche, Sterne zu Staub - Wiebke Schmidt-Reyer - Страница 18

Оглавление

Jeder hat es übernommen, einen Teil dieses Nachlasses zu sortieren. Wenzel, Lily und Iain sortieren die Bibliothek aus. Es gibt einige wertvolle und seltene Bücher, an die Lily sich erinnern kann. Sie benennt sie, und die beiden Männer suchen sie in den überquellenden Bücherregalen, in denen keinerlei erkennbares System herrscht. Den Rest packen sie in Kisten, die dorthin gespendet werden sollen, wo man sie gerne haben möchte. Laura und die beiden Großnichten holen Kleider und Schuhe aus Schränken und Schachteln und sortieren sie nach Größe und Art. Es sind die Großnichten, denen auffällt, dass Auguste nahezu ein Museum der Mode der vergangen fünfzig Jahre beherbergte. Aus dem Zimmer, in dem sie alles ausgelegt haben, dringen immer wieder überraschte Rufe und quietschendes Lachen, wenn sie auf absonderliche, vergessen geglaubte Modeerscheinungen stoßen und sie an sich selbst ausprobieren. Katinka und Marie sortieren das Geschirr, und Marek, Max und Christopher katalogisieren die geschmackvollen, erstaunlichen Möbel, die Auguste über die Jahre gefunden, entworfen, restauriert, gerettet und selbst gebaut hat, und rätseln, wie man ihnen am besten gerecht werden kann. Veith und seine Frau Eleftheria, die schwarzäugige Griechin, deren Haut nach Oliven und Zitronen duftet und die ein Händchen für Pflanzen hat, begutachten die Zimmer- und Topfpflanzen und hängen an jede ein Kärtchen mit dem Namen, sofern sie ihn wissen, und einer Kurzanweisung zu Standort und Pflege, wie sie sich das zurechtlegen, damit sie eine Hoffnung haben, in einem neuen Heim zu überleben.

Ich sitze in der Küche und sehe Augustes persönliche Unterlagen durch. Es ist unglaublich, wie viele Dokumente über ihr Leben es gibt. Aus der Zeit in Fenmoore gibt es Alben und scrapbooks mit Zeichnungen, Notizen über Vogelsichtungen, kleinen Briefchen, die sie sich mit Freundinnen während des Unterrichts geschrieben hat, Postkarten und einige wenige Fotos. Es gibt Schulhefte aus allen Fächern und separate Mappen mit Prüfungsblättern. Auguste hat jeden Brief, den sie je bekommen hat, aufgehoben, und oft hat sie auch ihre Briefe an andere wiederbekommen und dazu gelegt. Ihre gesamte, langjährige Korrespondenz mit ihrer Schwägerin ist da, chronologisch sortiert in unzähligen Schuhkartons, ein jeder deutlich mit Jahreszahl beschriftet. Man kann Monate damit verbringen, das alles durchzulesen. Immer wieder kommt jemand in die Küche und stellt noch eine Schachtel mit Notizbüchern, Tagebüchern, Briefen und Dokumenten vor mich hin.

Dafür, dass die Kaffeemaschine unaufhörlich röchelt und ständig irgendwelche Leckereien auf dem Tisch stehen – belegte Brote, Kompott, selbst gebackener Kuchen, ein Kessel heiße Suppe –, sorgt die Blaue Paula. Sie steht schon den ganzen Tag am Herd und hat ständig irgendwas im Ofen und findet immer noch wieder Zeit, sich zu mir zu setzen und mit mir die Papiere durchzusehen. Und immer weiß sie noch etwas Zusätzliches zu berichten. Ich staune, wie sehr sie während der letzten Jahre an Augustes Leben teilgehabt hat. Wo Auguste eine Einladung zu einer Hochzeit auf einem benachbarten Gehöft aufgehoben hat, weiß die Blaue Paula, dass meine Großmutter die Braut noch besucht hat, bevor diese im Kindbett starb. Zu einer Postkarte aus Melbourne ergänzt sie, dass Auguste oft davon gesprochen hat, die Freundin in Australien zu besuchen und dass sie so gerne die tasmanischen Teufel gesehen hätte.

So ist es dann auch die Blaue Paula, die die wichtigste Entdeckung des Tages macht. „Schau mal“, sagt sie und legt ein vergilbtes, wichtig aussehendes Stück Papier vor mich hin.

„Was ist das?“ frage ich, ohne das Papier überhaupt angeschaut zu haben.

„Ich weiß nicht, es ist auf Englisch.“ Die Blaue Paula behauptet, kein Englisch zu können, was unglaubwürdig ist angesichts der Tatsache, dass sie mit einem Mann verheiratet ist, der auch nach Jahrzehnten noch immer klingt wie ein britischer Schauspieler, der in einem zweitklassigen Kriegsfilm einen Nazi spielt.

Ich nehme das Blatt Papier in die Hand und lese flüchtig. Natürlich weiß die Blaue Paula, was sie gefunden hat. Sie muss kein Englisch können, um die beiden Namen zu lesen. „Das ist eine Heiratsurkunde.“

„Ja, von Auguste und deinem Großvater.“

Für einen Moment denke ich automatisch, dass sie von Toni spricht, aber dann ermahne ich mich, dass sie natürlich Michael Roth meint, an den ich immer nur denke als den Mann, mit dem Großmutter mal verheiratet war, den ich aber nie kennen gelernt und nie als meinen Großvater wahrgenommen habe.

„Und? Fällt dir was auf?“ fragt die Blaue Paula gespannt.

Ich sehe ratlos auf die Urkunde. Mir fällt nichts auf. Ich sehe die Blaue Paula an und zucke die Achseln. Sie sieht mich immer noch voller Spannung an. „Nein. Was soll mir auffallen?“

„Das Datum?“

Ich schaue auf das Datum, an dem Auguste Ierschbach und Michael Roth geheiratet haben. Es ist nichts Merkwürdiges daran.

„Es ist anders.“ Die Blaue Paula sagt es, als müsse doch nun endlich der Groschen fallen.

„Anders als was?“

„Als das, was sie immer gesagt hat.“

„Du meinst …“ Ich habe kein Ende für den Satz geplant. Ich habe keine Ahnung, was sie meinen könnte.

„Genau.“ Die Blaue Paula nickt bekräftigend. „Sie hat immer gesagt, sie hätten im April geheiratet.“

„Und das bedeutet …?“ Ich betone das Fragezeichen und hoffe, nun endlich vollständige Informationen zu bekommen.

„Lukas wurde im November geboren. Wenn sie im Februar geheiratet haben, bedeutet das, dass sie bei der Hochzeit nicht schwanger war.“

Allmählich wird mir die Ungeheuerlichkeit dessen, was die Blaue Paula entdeckt hat, klar. Auguste hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, im Gegenteil sogar damit kokettiert, dass sie zum Zeitpunkt der Eheschließung schwanger gewesen war und der brave Michael das Kind des anderen als sein eigenes großzog. Wenn das gar nicht stimmt, wenn Auguste uns jahrelang eine faustdicke Lüge aufgetischt hatte, dann … Ja, was bedeutet das dann?

„Du meinst also …“ Ich spreche langsam, weil ich während des Sprechens noch immer meine Gedanken sortieren muss. „Du glaubst also, dass es gar nicht stimmt, dass er Lukas’ Vater ist?“

Asche zu Asche, Sterne zu Staub

Подняться наверх