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Einleitung

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Was heißt ‚verstehen‘? Gadamers philosophische Hermeneutik als der Entwurf einer Philosophie der Endlichkeit

Hermeneutik ist ein gräzisierendes Kunstwort aus dem 17. Jahrhundert. Es geht auf den humanistisch-lateinischen Ausdruck ars interpretandi zurück. Im Griechischen steht hinter dem Ausdruck hermeneia die mythische Gestalt des Botens der olympischen Götter, Hermes. Als Sohn des Zeus in Arkadien geboren, kommen ihm mannigfaltige Funktionen zu. Er ist Gott des Handels, der Diebe, der Wege und der Träume. Als Psychopompos leitet er die Seelen in die Unterwelt. Die bildende Kunst stellt ihn seit dem 5. Jahrhundert als jungen Mann mit geflügelten Sandalen und Heroldsstab dar. In der Antike gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Kunst des hermeneuein und der Mantik, die den Willen der Götter aus ‚Zeichen‘ in einem Doppelsinn von ‚Sprüchen‘ deutet. In einem engeren Sinn versteht man unter Hermeneutik die Kunst der Auslegung. In hellenistischer Zeit wurde sie als eine allegorische Methode ausgebildet, welche die überlieferten Mythen mit einem philosophisch aufgeklärten Bewusstsein in Einklang zu bringen versuchte. In diesem Sinn findet sie ihre Anwendung auch in der Auslegung der ‚Heiligen Schrift‘. Im Zuge der Entstehung des christlichen Dogmas versteht sich Hermeneutik als theologische Textauslegung. So ist zum Beispiel für die ausgehende Antike und das Mittelalter Augustins Schrift De doctrina christiana das wichtigste Lehrbuch der christlichen Hermeneutik. Erst in der Wissenschaftstradition der Neuzeit wird Hermeneutik zu einer theoretischen Grundlage für die historischen Geisteswissenschaften. Als eine Kunstlehre des Verstehens führt sie über F. Schleiermacher zu W. Dilthey und der von ihm aus dem Geist der Historischen Schule entwickelten Neubegründung der Geisteswissenschaft auf der Grundlage einer verstehenden Psychologie. Hermeneutik wird zu einer dem Geist des Deutschen Idealismus verpflichteten Denkrichtung in der Philosophie. Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik (1900) verbindet den gesetzmäßigen Gang in der Geschichte der Hermeneutik mit dem Interesse der Geisteswissenschaft, den jeweiligen Lebensausdruck der geschichtlichen Welt über seine „Schriftdenkmale“ zu rekonstruieren. Da aber diese als hermeneutische ‚Wissenschaft‘ ihre eigene Befangenheit in den Vorurteilen des Historismus weitgehend ausblendet, zeigt sie Züge einer Sterilität, die schon von Nietzsche in seiner Historienschrift scharf kritisiert wird. Erst mit dem von E. Husserl vorgelegten Entwurf einer phänomenologischen Bedeutungslehre, vor allem aber durch M. Heideggers Hermeneutik der Faktizität, die von Aristoteles aus und im Anschluss an Kierkegaard den Bruch mit einer idealistischen Hermeneutik besiegelt, kommt es zu einem grundlegenden Neuanfang in der Hermeneutik. Verstehen meint nun „nicht mehr ein Verhalten des menschlichen Denkens unter anderen, das sich methodisch disziplinieren und zu einem wissenschaftlichen Verfahren ausbilden lässt, sondern macht die Grundbewegtheit des menschlichen Daseins aus“ (GW 2, 103). Eine „philosophische Radikalisierung“ (K.-O. Apel) der Hermeneutik bei Heidegger zeigt sich vor allem unter dem Aspekt, dass für ihn Sprache das geschichtliche Medium einer Selbstauslegung des Seins im Selbst- und Weltverständnis des Menschen – „Da-Sein“ als „Lichtung des Seins“ – ist. Gadamer wird diesen Denkansatz seines Lehrers vertiefen, wenn er in der Sprache die Universalität eines jeden hermeneutischen Verstehens als begründet ansieht.

Gadamers 1960 erschienenes Hauptwerk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik arbeitet im Anschluss an Heideggers „Hermeneutik der Faktizität“ Verstehen als einen Grundzug menschlichen Daseinsverhaltens heraus. Die Voraussetzungen für eine philosophische Hermeneutik liegen in dem Faktum, dass der existentielle Daseinsvollzug nicht determiniert ist, sondern auf Grund der Geschichtlichkeit des Daseins offen steht für die Möglichkeiten jeweiliger Entwürfe eines Sich-selbst-Verstehens. Auf dem Hintergrund einer Verabschiedung der idealistischen Bewusstseinsphilosophie wendet sie sich bei Gadamer gegen die Vorherrschaft des neuzeitlichen Methodenideals, das die Naturwissenschaften bestimmt, aber auch gegen das methodische Selbstverständnis von Positivismus, Historismus und Wissenschaftstheorie. Nach Schleiermachers theologischer Hermeneutik, Diltheys theoretischer Grundlegung der Geisteswissenschaften und Heideggers Philosophie als Hermeneutik des Daseins erhebt sie den Anspruch, im Verstehen ein universales Prinzip identifiziert zu haben, das nicht nur allen geisteswissenschaftlichen Erkenntnisleistungen, sondern darüber hinaus auch aller Traditionsvermittlung zugrunde liegt und damit als eine fundamentale Voraussetzung menschlicher Selbsterkenntnis unentbehrlich ist. Die aus dem Erfahrungshorizont des Daseins erschlossenen hermeneutischen Grundbegriffe lassen sich jedoch nicht definieren, sie sind im Blick auf die drei großen Themen Kunst, Geschichte und Sprache aus der Perspektive eines ästhetischen und sittlichen Weltumgangs zu charakterisieren, in dem sich der grundlegende rhetorische und der hermeneutische Aspekt der Sprache wechselseitig durchdringen. Dass alle Akte des Verstehens zugleich „Spracherscheinungen“ sind, diesen in Wahrheit und Methode entwickelten Grundsatz einer universellen Sprachlichkeit in jedem menschlichen Weltverhalten, betont auch der Beitrag Sprache und Verstehen (1970). Seine radikale These ist, „dass nicht nur der zwischenmenschliche Vorgang der Verständigung, sondern der Prozess des Verstehens selbst auch dann ein Sprachgeschehen darstellt, wenn er sich auf Außersprachliches richtet oder auf die erloschene Stimme des geschriebenen Buchstabens horcht, ein Sprachgeschehen von der Art jenes inneren Gesprächs der Seele mit sich selbst, als das Plato das Wesen des Denkens charakterisiert hat.“ (GW 2, 184). Lesen wir unser Dasein wie einen Text, dann haben die an ihm ablesbaren einzelnen Worte niemals für sich allein „Sinn“, vielmehr bauen sie „erst durch ihre vielstellige Bedeutung den einen Sinn“ auf, „der in vielen Verschlingungen von mitschwingenden Sinnlinien die Einheit des Text- und Redeganzen bewahrt“ (GW 9, 448). In ihr kann die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nur dann verstanden werden, wenn man auch den Kontext, in dem er steht, verstanden hat.

In dem Versuch, Dasein in seinem inneren Daseinssinn zu verstehen, werden wir beständig auf das rätselhafte Phänomen der Sprache verwiesen. Ihr Da-Sein, das allem Verstehen voraus liegt, übersteigt stets das, was uns zu Bewusstsein kommt. Für Gadamer, der ein langes Leben hindurch der Sprache nachgedacht hat, gewinnt jedes Selbst- und Weltverhalten nur durch sie Ausdruck. Sprache ist nie auf den Begriff einer „isolierbaren Aussage“ reduzierbar, vielmehr eignet ihr jene Offenheit, in der die „Welt als Spielraum des Erscheinenden“ (G. Figal) zur Erscheinung kommt. Versteht man sie als ein subjektfreies Geschehen, hat sie „eine bergende und sich selbst verbergende Kraft, so dass das, was in ihr geschieht, vor dem Zugriff der eigenen Reflexion geschützt ist und gleichsam im Unbewussten geborgen bleibt“ (GW 2, 198).

Gadamers Kritik des ästhetischen Bewusstseins beruft sich darauf, dass es „gegenüber dem unmittelbaren Wahrheitsanspruch, der von dem Kunstwerk ausgeht“ (GW 2, 220) sekundär ist. Der Kunst wird ein ontologisches Primat vor dem Leben zugestanden, da sie grundlegende Aspekte an ihm zum Aufleuchten bringt. In dieser Epiphanie kommt ein Seinsgeschehen blitzhaft zur Darstellung. Dieses Geschehen lässt sich weder über die rationale Methode einer systematischen Begrifflichkeit auf dem Boden der cartesischen Reflexion (Husserl) noch durch die Deduktion der für die Konstitution des Erfahrungswissens von Kant aufgezählten Kategorien verifizieren. Es kann aber auch nicht mehr in einem metaphysischen Sinn ausgelegt werden. Es ist, will man es umschreibend andeuten, in der Welt unserer Erfahrung das Aufscheinen einer ‚Transzendenz‘ des Seins. Ihre Spiegelung (Reflexion) zeigt weniger die Philosophie, als vielmehr die Kunst. Ästhetischen Ausdruck gewinnt diese Transzendenz in einer Wort- und Bilderwelt, deren ‚Sprache‘ den Doppelsinn der Erscheinungen, ihre Vielnamigkeit und das Schweigen eines Unausdenkbaren und Unaussagbaren hinter ihr festhält. Man muss diese Bezüge mitdenken, wenn man verstehen will, dass für Gadamer die Kunst dem Menschen eine „verschlossene, das Denken aus der Subjektivität übersteigende Erfahrung“ gewährt, „die Heidegger das Sein nennt“ (GW 1, 105). Kunst beschwört sie durch die Macht der Erinnerung als das,

Was, von Menschen nicht gewusst

Oder nicht bedacht,

Durch das Labyrinth der Brust

Wandelt in der Nacht.

(Goethe, An den Mond)

Was Wahrheit und Methode in den Rang eines Klassikers der philosophischen Literatur erhoben hat, ist die Verbindung einer ungewöhnlichen Vertiefung hermeneutischer Fragestellungen mit dem eleganten Stil hoher Gelehrsamkeit. Mit überlegener, zuweilen etwas weitschweifend wirkender Ruhe weiß sein Autor darzulegen, wie alles ‚Verstehen‘ unseres Daseins zugleich mit jenen großen theoretischen Fragestellungen verbunden ist, die in der Geschichte der Philosophie sich auf den ‚Sinn‘ von Dasein im Ganzen der Welt richten. Im Verlauf einer Rationalisierung aller Lebensbereiche in der Neuzeit sind diese Fragen mehr und mehr in die einzelnen Wissenschaften ausgewandert und führen in ihnen ein Schattendasein. Die hermeneutischen Reflexionen von Wahrheit und Methode verstehen sich als eine Bewusstmachung dieses Exils. Sie beziehen den Leser in ein Gespräch mit der philosophischen Tradition dieser Fragestellungen ein, wenn er an dem durch sie eröffneten Frage- und Antwortspiel teilnimmt, das das Buch souverän ausbreitet. Diese Teilnahme ermöglicht die Erkenntnis, „dass die Klassiker des philosophischen Gedankens, wenn wir sie zu verstehen suchen, von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen, den das zeitgenössische Bewusstsein weder abweisen noch überbieten kann“ (GW 1, 2). Wie die klassischen Autoren der philosophischen Tradition diesen ‚Wahrheitsanspruch‘ thematisieren, das hat Gadamer in meisterhaften Einleitungen in dem von ihm herausgegebenen Philosophischen Lesebuch dargelegt. Werden sie in ihrem inneren Zusammenhang gelesen, stellt sich ein Bewusstsein für das ein, was Philosophie im Wandel ihrer geschichtlichen Erscheinungsformen als ein fragendes Denken endlicher Vernunft ist. Es wird aber auch an einem solchen Denken bewusst, dass wir, wie es G. Steiner in seinem Essay Warum Denken traurig macht (2006) mit einiger philosophischer Ungenauigkeit, doch im Ganzen treffend formuliert hat, „einer Antwort auf die Frage, ob der Tod endgültig ist oder nicht, ob es Gott gibt oder nicht, keinen Zoll näher gekommen sind als Parmenides oder Platon.“

Die von Gadamer vorgelegte philosophische Hermeneutik ist durch Fragen geleitet, die bereits von ihrem geschichtlichen Ursprung her über die Grenze hinausdrängen, „die durch den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft gesetzt sind“ (GW 1, 1). So der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Denken, der Frage nach der Struktur des Verstehens, in der sich das Dasein im Strom der Zeit zu sich selbst verhält, der Frage nach der Seinsweise einer universellen Sprachlichkeit in allen Akten, die sich auf ein Verstehen von ‚Welt‘ beziehen, der Frage nach der Ontologie des Kunstwerkes, der Frage, welche philosophische Erfahrung in den Texten der Überlieferung aufbewahrt ist. Welche Bedeutung angesichts ihrer einem hermeneutischen Gespräch über Subjektivität in einem nachmetaphysischen Zeitalter (W. Schulz) zukommt, wird in einem fortlaufenden Dialog mit Plato, Aristoteles, Hegel und Heidegger herausgearbeitet.

Die Erfahrung der Philosophie, der Kunst und der Geschichte verweist auf eine Wahrheit, die mit der Methode der Wissenschaft nicht verifiziert werden kann. Wie aber, so Gadamer, lässt sich diese ‚Wahrheit‘ philosophisch legitimieren? Die Antwort, die er in der Einleitung gibt, beruft sich darauf, „dass nur die Vertiefung in das Problem des Verstehens eine solche Legitimation bringen kann“ (GW 1, 2). Die von ihm angesprochene ‚Vertiefung‘ erfordert zunächst eine Klärung, was Sprache ist und wie wir, durch sie gelenkt, uns in ein tätiges Verhältnis zu Welt und Dasein setzen. Verhalten wir uns zu ihnen verstehend, dann stellt sich das Problem, wie das Verhalten zu Umwelt und Mitwelt durch die Regeln der Sprache und ein über sie kodifiziertes ‚System‘ von Normen der Tradition bestimmt ist. Die Hermeneutik Gadamers reflektiert dieses Verhältnis jedoch weder im Sinne einer Semiotik noch thematisiert sie es auf dem theoretischen Niveau des Strukturalismus. Sie entfaltet es an einem sprachlichen Sinn von Verstehen, der auf die Grenze der Methode reflektiert. So schreibt er in einem Beitrag seines Ergänzungsbandes von Wahrheit und Methode:

„Hermeneutische Reflexion übt so eine Selbstkritik des denkenden Bewusstseins, die alle seine Abstraktionen, auch die Erkenntnisse der Wissenschaften, in das Ganze menschlicher Welterfahrung zurückübersetzt. Philosophie vollends, die immer, ausdrücklich oder nicht, Kritik der überlieferten Denkversuche sein muss, ist ein solcher hermeneutischer Vollzug, der die Strukturtotalitäten, die die semantische Analyse herausarbeitet, in das Kontinuum des Übersetzens und Begreifens einschmilzt, in dem wir bestehen und vergehen.“ (GW 2, 183)

Im 1. Teil von Wahrheit und Methode geht es um die Wahrheit in der Kunst. „Dass an einem Kunstwerk Wahrheit erfahren wird, die uns auf keinem anderen Weg erreichbar ist, macht die philosophische Bedeutung der Kunst aus“ (GW 1, 2). Die ihr gewidmeten Ausführungen dienen der Abgrenzung von einem Verständnis der Geisteswissenschaften, das sich hinsichtlich seiner Geltung in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften auf eine methodische Grundlegung ihrer Kategorien beruft, ohne doch über den Historismus des 19. Jahrhunderts hinaus zu kommen. Gadamers eigene Hermeneutik entwickelt sich aus seinem Gespräch mit Dilthey und Heidegger. Sie ist keine Methodenlehre der Geisteswissenschaften wie bei Dilthey, „sondern der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstverständnis hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet“ (GW 1, 3). Dieser Versuch ist mit prägenden Erfahrungen verbunden, die Gadamer in seinen ‚philosophischen Lehrjahren‘ aufgenommen und in seiner Hermeneutik eigenständig weitergedacht hat: die phänomenologischen Deskription Husserls, die „Weite des geschichtlichen Horizontes“, die Dilthey dem Denken erschlossen hat, und vor allem die Denkanstöße des Lehrers Heidegger, die die Frage nach dem Sinn von Sein stellen. Alle diese Erfahrungen werden von ihm daraufhin fokussiert, dass Verstehen als ein sprachliches Geschehen nie auf einen mit sich selbst identisch bleibenden Sinngehalt dessen, was wir meinen verstanden zu haben, reduzierbar ist, sondern als ein immer erneutes Anders-Verstehen seinen Ort im Gespräch mit den uns über die Geschichte, die Philosophie und die Kunst vermittelten und eröffneten Sinnhorizonten endlicher Vernunft besitzt.

Gegenstand der Geisteswissenschaften ist für Dilthey der Strom des historischen Werdens. Im Gegensatz zum Neukantianismus, der Geschichte als Wissenschaft begründen wollte, sieht er seine Gesetzlichkeit in der inneren Erfahrung des Menschen fundiert. Die Differenz zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften fasst er in den Satz: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ (Ges. Schriften V, 144). Während die Naturwissenschaften als strenge Wissenschaft die physische Welt durch die methodische Erfassung der in ihr herrschenden Kausalität erklären, führen die Geisteswissenschaften die objektiven Zusammenhänge der historischen Wirklichkeit auf eine Typologie des geistigen Lebens zurück. Sie bildet für Dilthey die Grundlage des historischen Verstehens, die zugleich eine Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen ist. Das Leben kann nur in der Vielfalt seiner geschichtlichen Erscheinungen verstanden werden.

Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Position hermeneutischer Fragestellungen, die Anfang des 20. Jahrhunderts durch den an einer Methodenlehre der Wissenschaft orientierten Neukantianismus verdeckt wurde, setzt Gadamer im ersten Teil von Wahrheit und Methode eine erneute Reflexion auf ein in der Kunst verborgenes Wahrheitsgeschehen in Gang. Sie knüpft an Hegels Deutung der Kunst als der Vermittlung von Idee und Erscheinung an und zeigt, wie wir in der Begegnung mit dem Kunstwerk die Erfahrung mit einer ‚Wahrheit‘ machen, die unser Sehen verändert, wenn sie den Blick auf eine im Wirklichen verborgene geistige Welt richtet, deren Darstellung in der Kunst die Hermeneutik offen legt.

Die Auslegung der Welt am Leitfaden der Kunst führt bereits bei Nietzsche zu einer ästhetisch erweiterten Vernunft, die das, was wir meinen, verstanden zu haben, plötzlich ganz anders sehen lässt. Die Erfahrung, die uns durch die Kunst zuteil wird, lässt die durch die subjektive Leistung unseres Bewusstseins konstruierte Einheit unserer Welterfahrung brüchig werden und bringt an dieser Bruchlinie die andere Seite der Dinge, das Fremde und Unvertraute an ihnen zum Vorschein. In der Begegnung mit einem Kunstwerk, einem philosophischen oder literarischen Text, eröffnet sich für uns eine neue Perspektive auf die Welt, die unsere gewohnte Sicht auf die Dinge erschüttert und uns auffordert, aus einer fremden Sicht mit den Dingen in einen Dialog einzutreten. In seiner Einführung zu der Abhandlung seines Lehrers Heidegger Der Ursprung des Kunstwerkes (1936) schreibt Gadamer, dass dessen Sein nicht darin besteht, dass es zum Erlebnis wird: „Es ist selbst durch sein eigenes Dasein ein Ereignis, ein Stoß, in dem sich Welt öffnet, die so nie da war.“1 Dass im Kunstwerk die Offenheit der Welt als eine in sich ruhende Gestalt zum Scheinen kommt, ist ein Grundgedanke Heideggers. Der ‚Stoß‘, den es dem Betrachter versetzt, stellt den Menschen vor eine Wahrheit, die, gegen Hegel formuliert, in keiner Wahrheit des philosophischen Begriffs aufgehoben ist. Es ist die Begegnung mit den Werken der Kunst, die dem Verstehen unseres Daseins eine riskante Tiefendimension zu verleihen vermag. Es sind die großen Kunstwerke, die uns in unserer Daseinshaltung erschüttern und darüber belehren, dass Kunst nie nur ‚ästhetisch‘ verstanden werden kann. Die Erfahrung mit ihr erlaubt den Schluss, dass eine wissenschaftliche Beschreibung von Lebensphänomenen die ihnen zu Grunde liegenden Strukturen zwar mit Hilfe theoretischer Modelle zu erklären vermag, der Vieldeutigkeit des Lebens jedoch nie gerecht wird. Die wundersamen Epiphanien, die wir den Werken der Kunst verdanken, öffnen den Blick auf fremde Dimensionen der Wirklichkeit und ihrer Resonanz im Bereich des Seelischen, die durch keine wissenschaftliche Disziplin auf einen einheitlichen Begriff gebracht werden können. Eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, wie sie im Rahmen einer Kritik der historischen Vernunft Dilthey vorgelegt hat, verwickelt sich in Aporien, wenn sie in der inneren Erfahrung einer universellen Geschichtlichkeit des Bewusstseins, in der Erleben und Ausdruck als Objektivierung von Sinn und Verstehen einen unauflösbaren Zusammenhang bilden, die Bedingung der Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis der ‚Tatsachen‘ des Lebens sieht. Ihr gegenüber steht das Urteil Gadamers, dass es keine hermeneutische Methode gibt. Zwar teilt er im Begriff der ‚Geschichtlichkeit‘ Diltheys Erkenntnis, dass der Mensch ein durch die Geschichte bedingtes Wesen ist, seine Skepsis gilt jedoch der noch im Schatten Hegels stehenden Überzeugung, das historische Bewusstsein als der Sinn der geschichtlichen Entwicklung sei in einer ‚Metaphysik des Lebens‘ begründet.

Es ist die Erfahrung mit der Welt der Kunst, mit der Sprache des Kunstwerkes, die den von Gadamer vorgelegten Entwurf einer philosophischen Hermeneutik davor bewahrt, ein in der Zeitlichkeit unseres Daseins fundiertes ‚Wahrheitsgeschehen‘ aus vorgegebenen Prinzipien der klassischen Philosophie oder aus einer ‚monadischen‘ Einheit des Bewusstseins abzuleiten. Seine hermeneutische Ausdeutung dieses Geschehens ist selbst Kunst. Sie orientiert sich an Hegels Idee einer Universalität des geistigen Seins und lässt in der vielfarbigen Textur unseres Lebens jene kunstvoll aus Erzählungen, Begriffen und Reflexionen eingewebten Muster sichtbar werden, die dem Verstehen unseres Daseins zu Grunde liegen. In einem engeren Sinn besteht die Aufgabe der Interpretation für ihn als Lehrenden im Anschluss an Platons Schriftkritik darin, einen Weg von den schriftlich fixierten Zeichen in den klassischen Texten der philosophischen Tradition hin zu dem lebendigen Wort zu finden, um so den durch die moderne Lebenswelt zerrissenen Zusammenhang des Gesprächs zwischen den Zeiten wieder herzustellen. Die Betonung einer inneren Kontinuität im Wandel der geschichtlichen Überlieferung, vermittelt durch das philosophische Gespräch über den Abstand der Zeiten hinweg, zielt auf eine ethische Einsicht in das, was als ‚das Gute‘ zu allen Zeiten im Sinne einer humanen Praxis den begründeten Anspruch auf Geltung erhebt.

Die Kunst der Lehre, die Gadamer bei Heidegger studiert hat, zielt darauf, in einem inneren Gespräch mit der philosophischen Tradition ihre uns hinterlassenen Zeugnisse so zum Sprechen zu bringen, dass sie anfangen, in einer neuen Sprache zu uns zu reden. Im Hören auf sie verwandelt sie uns in unserem erstarrten Selbstverständnis. Der Augenblick, der uns die Möglichkeit dieser Verwandlung bewusst macht, ist der kairos des Verstehens, dem alle Mühe des Studiums gilt. Aus ihm resultiert die Einsicht, dass eine historische Rekonstruktion der ‚Aussagen‘ der Philosophie aus dem ‚Geist der Zeit‘ nicht genügt, da er ihren überzeitlichen Wahrheitsgehalt relativiert und ihn in die Unverbindlichkeit des bloß historischen Wissens rückt.

Der 2. Teil thematisiert den Entwurf von Grundzügen einer Theorie des Verstehens, und verbindet ihn mit einer Ausweitung der Wahrheitsfrage auf die Besonderheit der Verstehensvollzüge in den Geisteswissenschaften. Geschult an der Phänomenologie Husserls und an Heideggers Entfaltung der existentialen Struktur des Verstehens, richtet er sich gegen den Historismus des 19. Jahrhunderts. Die von Heidegger explizierten Weisen des Verstehens, in denen sich das Dasein in seinem In-der-Welt-Sein versteht, sind Bewegtheitsstrukturen im Horizont der Zeit. Über sie als ontologische Bestimmungen des menschlichen Daseins konstituiert sich die Erschließung des ‚Sinns‘ von Sein als Möglichkeit der Erschließung von Welt. Die in Sein und Zeit entwickelte Daseinsanalytik hat einen starken Einfluss auf Gadamers Theorie des Verstehens. Mehr aber als das bei Heidegger der Fall ist, wird die Sprachlichkeit in allen Akten des Verstehens von ihr herausgearbeitet. Wie I. M. Fehèr in seinem Beitrag Zum Sprachverständnis der Hermeneutik Gadamers (2000) gezeigt hat, richtet sich dessen Kritik an der gegenwärtigen Sprachphilosophie vor allem gegen eine instrumentalistische Zeichentheorie, die der „innigen Einheit von Wort und Sache“ (GW 1, 407) nicht gerecht wird.

Die Prägung unserer kulturellen Identität durch die Sprachen religiöser und philosophischer ‚Wahrheiten‘ im Sinne von Deutungen des Menschenlebens, die noch im Vergessen lebendig bleiben, ist für Gadamer eine unhintergehbare Vorbedingung seines Verständnisses von Hermeneutik. Insofern er „die hegelsche Bewusstseinsgeschichte in eine Geschehensgeschichte des Bewusstseins übersetzt“,2 kommt dem, was bei ihm ‚Geschichtlichkeit‘ heißt, besondere Bedeutung zu. Sie besagt, dass der Mensch Geschichte in den Akten des Verstehens seiner durch sie geprägten Historizität aus der Situation seiner Stellung in der Welt der Praxis ‚für sich‘ und ‚auf sich hin‘ auslegt, ohne dass diese Auslegung in der Verschränkung von ‚Nachverstehen‘ und ‚Selbstverstehen‘ (O. Pöggeler) in einem ‚historischen Objektivismus‘ aufgeht.

„Der Begriff der Geschichtlichkeit will nicht etwas über einen Geschehenszusammenhang aussagen, dass es wirklich so war, sondern über die Seinsweise des Menschen, der in der Geschichte steht und in seinem Sein selber von Grund auf nur durch den Begriff der Geschichtlichkeit verstanden werden kann.“ (GW 2, 135)

Das im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der hegelschen Philosophie sich herausbildende ‚historische Bewusstsein‘, gegen dessen erdrückende Präsenz sich Nietzsches unzeitgemäße Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben polemisch zur Wehr gesetzt hat, ist auf ein ‚wirkungsgeschichtliches Bewusstsein‘ hin zu erweitern. Es reflektiert auf die Überlagerung von nie völlig transparent zu machenden Sinnhorizonten der geschichtlichen Überlieferung. Sie sind in der Welt menschlicher Erfahrung immer durch bestimmte kulturell vermittelte Vorurteile geprägt. Auf dem Hintergrund dieses Gedankengangs erfordert die bereits von Dilthey anhand einer Theorie der Erkenntnis des Lebenszusammenhangs thematisierte hermeneutische Zirkelstruktur des Verstehens besondere Beachtung. Ausdruck gewinnt sie in dem Vorverständnis eines geschichtlich vermittelten Sinnganzen und der Auslegung seiner Teile auf dieses Ganze hin. Für den Akt des Verstehens der auf ihre Bedeutung hin interpretierten Lebensphänomene kommt ihr ein produktives Element zu. Es zeigt sich daran, dass sie die Perspektivengebundenheit des Erkennens in der Weise in sich aufnimmt, dass sie der Vieldeutigkeit der Weltphänomene gerecht zu werden vermag. Im Unterschied zu der von Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwickelten Dialektik, an deren Ende die zu sich selbst gekommene Einheit des absoluten Geistes steht, ist der hermeneutische Zirkel als ein Zeichen endlicher Vernunft unhintergehbar. Er lässt sich weder auf den idealistischen Geistbegriff Hegels noch auf ein Sein im Sinne Heideggers zurückführen.

Jedes individuelle Verstehen ist in ein überindividuelles Überlieferungsgeschehen eingebettet. In dieser Horizontverschmelzung (Gadamer) ist Ältestes und Vergessenes im Gegenwärtigen anwesend. Noch immer segelt in unseren Träumen Odysseus auf dem weinfarbenen Meer nach Ithaka, sitzt Penelope am Webstuhl, steht Ödipus auf dem Weg nach Theben vor der Sphinx. Die Arbeit des Denkens, diese Odyssee des Geistes, schärft den Blick für die Verschränkung des eigenen Verstehenshorizontes mit ganz fremden Verstehenshorizonten, wie sie zum Beispiel in den überlieferten Werken der griechischen Tragiker oder in der Spruchweisheit Heraklits Ausdruck gewinnen. An ihnen kommt das eigene Verstehen in der Begegnung mit dem ihm fremd gegenüber stehenden ‚Anderen‘ zu dem Bewusstsein seiner Gebundenheit an die eigene Epoche. Das heißt: weder kann die Moderne antik, noch die Antike modern interpretiert werden.

Es gehört zu den wertvollsten Einsichten von Gadamers Hermeneutik, dass sie einen Zusammenhang zwischen der Kontinuität der Geschichte und dem ontologischen Rätsel der Zeit offenkundig macht. In dem Beitrag Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz (1965) findet sich eine Bemerkung über die Wahrheit des historischen Bewusstseins, deren Dialektik ganz auf der Linie einer von Nietzsche intendierten Philosophie des Werdens zu liegen scheint, ohne ihrem Umschlag in eine Lehre der ewigen Wiederkehr zu folgen.

„Vielleicht liegt der Erfahrung von Kontinuität noch etwas ganz anderes zugrunde als die Erfahrung des unaufhörlichen Verfließens der Zeit. Die im Fragen nach dem Sein der Geschichte gefragte Kontinuität der Geschichte gipfelt letzten Endes darin, dass es aller Vergänglichkeit zum Trotz überhaupt kein Vergehen gibt, das nicht immer zugleich ein Werden ist. Darin scheint die Wahrheit des historischen Bewusstseins zu ihrer Perfektion gekommen, dass es im Vergehen immer auch Werden, im Werden immer auch Vergehen gewahrt und immer wieder aus dem endlosen Vorüberfluten von Veränderungen die Kontinuität eines geschichtlichen Zusammenhanges aufbaut.“ (GW 2, 136)

Die Reflexion auf eine Begriffsgeschichte des philosophischen Denkens führt zu der Erkenntnis jeweiliger historischer Ablagerungen von Wirklichkeitssubstraten in abstrakten Begriffen. Sie freizulegen heißt, dem Verständnis philosophischer Begrifflichkeit die Einsicht in ihre gleichsam organische Herausbildung aus den Erfahrungsgehalten lebensgeschichtlicher Räume zu vermitteln. Die Erinnerung an die Metamorphosen einer aus ursprünglichen Fragestellungen von der Philosophie entwickelten Thematisierung ihrer Denkinhalte dient der Klärung vergessener Wertgehalte in einem historischen Prozess der Herausbildung jeweiliger Identitäten menschlicher Selbstauslegung. Das der Gegenwart verloren gegangene Bewusstsein für eine geistige Überlieferungsgeschichte, in der sich ‚Identität‘ als eine substantielle Größe auf dem Hintergrund ihrer schwer umkämpften Selbstfindung herausgebildet hat, zeigt bei dem gegenwärtigen Stand von Bildung Züge eines Verfalls. Ihre Revision ist für Gadamer mit einer innovativen Wiederaneignung des Erbes der griechischen Philosophie verbunden. Darüber hinaus zielt sie auf eine Vertiefung des Bewusstseins für eine in aller Diskontinuität des Denkens sich durchhaltende Kontinuität der philosophischen Reflexion im Gespräch mit den großen Philosophen der Antike, der Neuzeit und der Moderne. Der Vortrag Die philosophischen Grundlagen des 20. Jahrhunderts (Kleine Schriften I, 140– 148) nennt drei ‚Partner‘ des Gesprächs über die Jahrhunderte hinweg: die Griechen, Kant und Hegel. Letzterer hat in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie uns jene denkwürdige Passage hinterlassen, die als ein Motto für Gadamers hermeneutischen Ansatz gelesen werden kann: „Der Inhalt dieser Geschichte sind die wissenschaftlichen Produkte der Vernünftigkeit, und diese sind nicht ein Vergängliches. Was in diesem Felde erarbeitet worden, ist das Wahre, und dieses ist ewig, existiert nicht zu einer Zeit und nicht mehr zu einer anderen. Die Körper der Geister, welche die Helden dieser Geschichte sind, ihr zeitliches Leben ist wohl vorübergegangen, aber ihre Werke sind ihnen nicht nachgefolgt.“ (Hegel, Werke Bd. 18, 57 f.)

Das aus dem Gespräch geborene Philosophieren nimmt die durch die Tradition geknüpften Fäden der Reflexion auf und verbindet sie zu neuen Formen des Denkens. Das heißt für die Unabschließbarkeit der hermeneutischen Reflexion: Das Denken des Geistes kommt als ein unendliches Gespräch an kein Ende. Da der Strom des Lebens über weite Strecken unterirdisch verläuft, kann Gadamer daran erinnern, dass es für uns darauf ankommt, die Quellen zu entdecken, aus denen er sich speist und ständig erneuert: „Steigen wir hinein in die gleichen Ströme, fließt andres und andres Wasser herzu.“ (Heraklit, fr. B 12) In der produktiven Rezeption der Geschichte der Philosophie gewinnt das eigene Denken einen Zuwachs an Erkenntnis. Es gibt einen Grundbestand an philosophischen Fragen, der in allem geschichtlichen Wandel seiner Überlieferung sich durchhält und die Fragen gegenwärtigen Philosophierens entscheidend mitbestimmt. Gadamer hat das in vielen einzelnen Studien gezeigt, zuletzt in seinen 1988 in Neapel gehaltenen Vorlesungen, die unter den Titeln Der Anfang der Philosophie und Der Anfang des Wissens erschienen sind und auf die Wirkungsmächtigkeit des ‚Anfangs‘ hinweisen. Wir verstehen, wenn wir sie durchgearbeitet haben, dass wir mit unserem Denken immer noch an diesem Anfang stehen.

Die Aufdeckung der Quellen, aus denen sich unser Denken speist, geschieht am Leitfaden von zentralen Texten der philosophischen Tradition. Dass sie, befreit aus dem Grab ihrer schriftlichen Form, anfangen, als Stimme zu uns zu reden, wird über eine Dialektik von Frage und Antwort eingeübt. Ihr Vorbild hat sie in bestimmten Denkmodellen Platons und Hegels. Aus dem mit ihnen verbundenen Anspruch auf Wahrheit stellen sich jene Fragen, die die Normalität einer unreflektierten Daseinshaltung in Frage stellen. Im Staunen, dass die Dinge der Welt anders sind, als wir sie gewöhnlich sehen, kommt es zu einer Erschütterung unserer Existenz. Sie erweckt aus dem Schlaf der Vernunft. Gleichzeitig schärft sie die Intuition für eine mit dieser Erschütterung verbundene ‚pädagogische‘ Zielsetzung. Sie geht nicht in der Forderung des Sokrates nach einer Prüfung der unreflektierten Werthaltungen in unserer Daseinsführung auf, sondern will über sie hinaus den Blick für die zeitlose Erfahrung der griechischen Tragödie öffnen, dass die Menschen durch das ihnen auferlegte Leiden zu Wissen und zu einer sokratisch verstandenen ‚Weisheit‘ gelangen. Gadamer beruft sich auf die Orestie des Aischylos, wenn er schreibt:

„Er hat die Formel gefunden, oder besser in ihrer metaphysischen Bedeutung erkannt, die die innere Geschichtlichkeit der Erfahrung aussagt: ‚Durch Leiden Lernen‘ (pathei-mathos). Diese Formel meint nicht nur, dass wir durch Schaden klug werden und die richtigere Erkenntnis der Dinge erst durch Täuschung und Enttäuschung erwerben müssen. So verstanden dürfte die Formel so alt sein wie die menschliche Erfahrung selbst. Aber Aischylos meint mehr. Er meint den Grund dafür, warum es so ist. Was der Mensch durch Leiden lernen soll, ist nicht dieses oder jenes, sondern ist die Einsicht in die Grenzen des Menschseins, die Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Grenze zum Göttlichen hin. Es ist am Ende eine religiöse Erkenntnis – diejenige Erkenntnis, aus der die Geburt der griechischen Tragödie erfolgt ist.“ (GW 1, 362 f.)

Die Grenze, die allem menschlichen Denken und Nachdenken gesetzt ist, erzwingt ihre Anerkennung und nötigt eine philosophisch geführte Existenz zu dem Verzicht, sich auf ein ‚Jenseits‘ hin zu überschreiten. Versteht Gadamer in der Nachfolge Heideggers Dasein als geworfenen Entwurf, so kann sein Denken nicht mehr auf den Platonismus bezogen werden. Aus dem Ende der Metaphysik resultiert die Aufgabe, die Faktizität des Daseins im Bewusstsein ihrer Endlichkeit in Freiheit zu übernehmen und sich über diese ethische Verpflichtung, die nicht auf Abstand gehalten werden kann, im Dialog um das recht geführte Leben Rechenschaft abzulegen. Man kann unschwer erkennen, dass hinter diesem Gedanken Gadamers nicht nur Sokrates, sondern auch Aristoteles und der von der Generation Heideggers und Gadamers entdeckte Kierkegaard steht.

Der dritte Teil zeigt gegenüber den beiden vorhergehenden Teilen von Wahrheit und Methode eine Steigerung. Er stellt die von Heidegger initiierte ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache in den Mittelpunkt der Reflexion. Ihr Thema ist die innere Verwobenheit von Sein, Verstehen und Sprache. Der Weltbezug des Menschen wird über die Sprache eröffnet. Gadamer schließt an die Griechen an, wenn er auf den in der Sprache waltenden logos (Heraklit) hinweist, der die Weisen unseres Verstehens lenkt.

„Die sprachliche Welterfahrung ist ‚absolut‘. Sie übersteigt alle Relativitäten von Seinssetzung, weil sie alles Ansichsein umfasst, in welchen Beziehungen (Relativitäten) immer es sich zeigt. Die Sprachlichkeit unserer Welterfahrung ist vorgängig gegenüber allem, das als seiend erkannt und angesprochen wird.“ (GW 1, 453 f.)

Sprachlichkeit ist ein ‚Apriori‘, das jedem Akt des Verstehens zugrunde liegt, so die Grundthese Gadamers. Im Blick auf die „ontologische Wendung der Hermeneutik“ sucht er nach in der Geschichte der Philosophie verankerten Sprachkonzeptionen, in denen sich diese Wendung anzeigt. An dieser Stelle wird für ihn Augustinus wichtig. Denn, so J. Grondin: „Das menschliche Denken ist eben keine pure Selbstgegenwart, keine reine noesis noeseos. Das Denken folgt vielmehr dem Rhythmus der Worte, in die es immer schon einverleibt ist. Diese unvordenkliche Angewiesenheit des Denkens auf eine schon gegebene und gesprochene Sprache charakterisiert die ursprüngliche Gegebenheit der Sprachlichkeit, wie sie der augustinische Inkarnationsgedanke dem Denken erschließt.“3

Das dialogische Element der Sprache, in dem es zu einer Verständigung über das kommt, was philosophische Wahrheit genannt wird, hat für Gadamer sein Vorbild in der Philosophie Platos. Die Lebendigkeit ihrer Denkbewegung ist eine Grundgestalt der Philosophie. Bestimmt ist sie durch die Sache des Denkens, unter deren Führung alles Philosophieren steht. Jeder einseitig fixierte Standpunkt in der Wahrheitsfrage, wie er in den Ideologien unseres Jahrhunderts mit verheerenden politischen Folgen manifest wird, muss als ein dogmatischer Schein aufgelöst und in dem Wellenspiel von Auf- und Niedergang menschlicher Meinung durch die von Gadamer betonte Einheit von Dialog und Dialektik immer erneut verflüssigt werden. Das heißt: Nicht Thesen und Antithesen sind für die Tätigkeit des Geistes entscheidend, sondern seine endlichen Spiele der Auslegung von Welt.

Diese ‚Spiele‘ sind nicht beliebig. Sie unterstehen einem sie lenkenden Prinzip, der Sprache, durch die die Selbstbewegung des Geistes zu ihrem Ausdruck kommt. Das dynamisch-energetische Tätigsein der Sprache, das sich gegen seine Reduktion auf die Satzaussage des Urteils sperrt, eröffnet das Feld der hermeneutischen Erfahrung, auf dem die ‚Aussagegehalte‘ im Logos immer auf je andere Weise gegenwärtig sind. Die Dynamik der Sprache richtet sich über das Vorhandene hinaus auf eine unvordenkliche ontologische Erfahrung, die allen menschlichen Meinungen voraus liegt. Wenn sie sich aus ihrer Unverfügbarkeit heraus dem Menschen schenkt, erinnert sie von Ferne – in einem neuplatonischen Sinn – an das Licht, das auf den Dingen liegt und sie in seltenen Augenblicken zum Aufglänzen bringt. Dieses Aufleuchten ist für die Griechen das Schöne. Dem Glanz, der über dem weiten Meer des Schönen liegt, hat Gadamer am Ende von Wahrheit und Methode einige seiner schönsten Passagen gewidmet. Das Urbild kommt im Schönen zu seiner abbildlichen Erscheinung. In dieser dynamischen Umkehrung des ontologischen Vorrangs des Urbildes gründet für Gadamer die Wahrheitsfähigkeit ästhetischer Gebilde, womit ein ursprünglich platonischer Gedanke aufgenommen und über Plato hinaus weitergeführt wird.

Ein ‚Wahrheitsgeschehen‘, verborgen im Sein der Welt, wie es für Gadamer in der Kunst als Darstellung Ausdruck gewinnt, entzieht sich seiner Integration in das Objektivitätsideal der Wissenschaft. Die Versuche, es deskriptiv in der Form von Aussagesätzen zu objektivieren, scheitern. Es erschließt sich einem symbolischen Verstehen, dem ein nicht-repräsentationaler Wahrheitsbegriff zugrunde liegt.

Die von Gadamer im Anschluss an Plato, Hegel und Heidegger eingenommene Stellung zu ‚Sinn‘ und ‚Wahrheit‘ gesteht sich die Vorläufigkeit aller menschlichen Rede über ‚das Gute‘ ein, besteht aber auf der intentionalen Ausrichtung des menschlichen Daseins auf die Idee des Guten. Sie ist nicht mit der Transzendenz eines Gottes zu verwechseln. Auch ist sie kein ‚Gegenstand‘ in der Welt. Ihren sinnlichen Ausdruck gewinnt sie in einer philosophischen Weise der Lebensführung. So ‚wissen‘ wir, nachdem wir die Rede des Alkibiades in Platons Symposion gelesen haben, es ist Sokrates, der diese Idee durch seine einzigartige Daseinshaltung verkörpert. Das mit dieser Haltung verbundene ‚Wissen‘, das seinen Niederschlag freilich nicht in sprachlich formulierten Erkenntnissen, sondern im Vorrang der Frage findet, hat den Widerstand der an der sprachanalytischen Philosophie orientierten Kritiker von Gadamers Denken auf den Plan gerufen, die mit Wittgenstein „den Zweck der Philosophie“ in „der logischen Klärung der Gedanken“ (Tractatus logico-philosophicus, 4.112) sehen, eine Einstellung, die in dessen Spätwerk zu der Konsequenz geführt hat, die Tätigkeit des Philosophierens nur als ‚Sprachspiel‘ gelten zu lassen. So hat zum Beispiel E. Tugendhat Gadamer wiederholt vorgeworfen, dass er auf Grund seiner Abhängigkeit von Heidegger zwar von ‚Wahrheit‘ spreche, aber nirgends von deren Gründen.4 Wenn er weiter behauptet, es bleibe daher unklar, wie das von ihm geforderte Gespräch strukturell auszusehen habe, dann verkennt diese Kritik, dass das Gespräch bei Gadamer sich eindeutig am platonischen Dialog orientiert.

Jedes Wort öffnet einen Spielraum zwischen Gesagtem und Ungesagtem, in jedem Wort spiegelt sich eine unendliche Differenziertheit von ‚Sinn‘. In der gleichsam musikalischen Wahrnehmung einer inneren Gestimmtheit muss – so das platonische Erbe – das innere Ohr im Gespräch als das Resonanzorgan für Unerhörtes erzogen werden. Wer bei Gadamer studiert und gelernt hat, mit ihm zu philosophieren, der weiß, dass der heimliche Lehrmeister des philosophischen Gesprächs der Eros ist, wie ihn Platon im Symposion porträtiert hat. Als Sohn von poros und penia ist er der Hermeneut mit den Zügen des Sokrates. Immer treibt er sich zwischen den getrennten Sphären von Nüchternheit und Trunkenheit, Sterblichem und Unsterblichem als Landstreicher und Eckensteher herum, wie ihn Nietzsche im Aphorismus „Das Genie des Herzens“ in Jenseits von Gut und Böse verherrlicht hat. Keine auf die Methode gestützte Wahrheitstheorie kann sich auf ihn berufen, weil er den ‚Sinn‘ jeder fest stehenden menschlichen Rede über die Wahrheit immer erneut in Frage stellt und in die Aporie treibt. Ein Geschehen, das die Hermeneutik Gadamers in der Offenlegung der Vorläufigkeit aller menschlichen Sinnentwürfe in der Geschichte darlegt. Nur ‚Götter‘ sind, ironisch formuliert, im Besitz der Wahrheit. Aus diesem Grund philosophieren sie nicht. Seine Gegner, die diese schlichte Erkenntnis verkennen, haben gegen ein hermeneutisches Denken, das den Grenzen der Vernunft nachdenkt, zu Unrecht den Vorwurf des Relativismus erhoben. In ihren Argumenten haben sie nur wiederholt, was die Athener dem Sokrates als Sophistik vorwarfen.

Was an Gadamers Hermeneutik beeindruckt, ist eine Philosophie der Bescheidenheit. In den Gesprächen mit R. Dottori, Die Lektion des Jahrhunderts (2001), findet sich der entscheidende Satz: „Also was ist Philosophie? Ein Wissen, das ganz beschränkt ist und von Grenzen umgeben.“

Hermeneutik ist für Gadamer die Reflexion auf unsere Endlichkeit, die es verbietet, über die Grenzen, die allem Verstehen gesetzt sind, hinauszugehen. Man kann zu Recht behaupten, dass der Kritizismus Kants mit der Zurückweisung der Ansprüche der theoretischen Vernunft seine hermeneutische Ausdeutung findet. Die Anerkennung der Endlichkeit unseres Wissens ist für den späten Gadamer im Sinne wahrer phronesis eine Figur der Weisheit.

Seine ‚Sprachhermeneutik‘ (J. Grondin), die sich gegen die dominierende Einseitigkeit der Aussagelogik unter Berufung auf die alte Lehre vom verbum interius (inneres Wort) richtet, ist dialogisch strukturiert. Sie führt das durch Plato hinterlassene Erbe des sokratischen Dialogs als Kunstform (Schleiermacher) eigenständig weiter. Philosophie ist für das hermeneutische Verständnis ein offenes Denken, die innere Unterredung der Seele mit sich selbst in jenem Gespräch, das wir sind. Die Wahrheit, um deren existentiale Modi (Heidegger) es bei dieser Unterredung geht, ihre Bewährung in der Anwendung auf die Situationen in der Praxis unseres Lebens, muss im philosophischen Gespräch gesucht werden. Indem das Gespräch mit der Überlieferung auf die Geschichtlichkeit jeweiliger Wortbedeutungen im Gebrauch der Sprache in den uns hinterlassenen Texten der Philosophie reflektiert, zielt es über sie hinaus auf ein kommunikatives Einverständnis über das, was wir auf Grund von Argumenten gewillt sind, als die Idee eines gelungenen Lebens für die Führung unseres Daseins in Freiheit anzuerkennen. Ihre Bewährung im Gang der Zeit muss immer erneut geprüft werden. Der Maßstab dieser Prüfung ist der für Gadamers Hermeneutik bedeutsame Begriff der phronesis. Sie ist jene Vernünftigkeit des praktischen Wissens (Aristoteles), die, aus dem Dialog geboren, ihre Anwendung in den konkreten Fällen des Lebens findet. Die Vernünftigkeit des praktischen Wissens ist weder eine Form des Pragmatismus, noch ist sie der Rückfall in eine Wertontologie. Sie orientiert sich bei Gadamer an einem inneren Vorverständnis der Idee des Guten bei Plato, die jenseits des Seins ihren Ort hat und undefinierbar ist. Es ist diese Orientierung, von der her sich für Gadamer der innere Zusammenschluss von Ethik und Hermeneutik begründet. Er steht nicht in der Beliebigkeit dessen, der auf ihn reflektiert. Vielmehr erweist sich für ihn die durch die platonische Philosophie konstituierte Verbindung von Wahrheit und Logos als richtungweisend. Der Logos kann als „der Vermittler wahrer Freiheit“ (Th. Kobusch) gesehen werden, wenn die Teilnehmer in einem Dialog sich gegenseitig als diejenigen anerkennen, die nach einer sie verpflichtenden gemeinsamen Wahrheit suchen (Gorgias 505e-506a). Das ist das Thema von Gadamers Habilitationsschrift Platos dialektische Ethik, die die Dialektik von einer im hegelschen Sinne absolut verstandenen Methode in die ethische Dimension des Dialoges umsetzt. In dem philosophischen Gespräch mit R. Dottori hat er im Rückblick auf seinen Denkweg zu der Transformation der Dialektik in eine Ethik des Dialogs sich so geäußert: „Gerade in unserem ethischen Bezug zum anderen wird uns klar, wie schwer es ist, den Anforderungen des anderen gerecht zu werden oder (sie) bloß gewahr zu werden. Die einzige Weise, unserer Endlichkeit nicht zu erliegen ist, sich dem anderen zu öffnen, dem ‚Du‘ zuzuhören, das vor uns steht.“

Menschliche Wahrheiten unterliegen dem Gesetz der Zeit. ‚Altern‘ sie, dann müssen sie durch Zeugung sich erneuern und wieder jung werden. In dem Maß, wie Gadamer den von Plato im Symposion dargelegten Prozess der Regeneration des Alten im Neuen auf die hermeneutische Erfahrung zur Anwendung bringt, werden die modernen Fallstricke einer verkehrten Aufklärung (Wahrheit als Vorurteil), eines problematischen Dezisionismus (Kierkegaard) und einer radikalen Kritik der Wahrheit (Nietzsche) vermieden. Gegen eine modisch gewordene Kritik, die im Namen der Aufklärung alle Voraussetzungen der Kommunikation zwischen Menschen ‚problematisiert‘, werden für die gemeinsame Verständigung über Grundprobleme des philosophischen Denkens so zentrale hermeneutische Grundbegriffe thematisiert wie die praktische Klugheit (Aristoteles), Gemeinsinn, Geschmack (Kant) und die Bildung. Sie sind die leitenden „Wertbegriffe einer kommunikativen Subjektivität“ (R. Wiehl).

Dass die Sprache, durch die wir uns miteinander verständigen, nie mit dem Seienden als solchem identisch ist, ist eine Grunderfahrung, welche die Philosophie auf verschiedenen Argumentationsebenen realisiert hat. Schon Plato thematisiert das Misstrauen gegenüber der Macht der ‚Wörter‘; der Nominalismus der neuzeitlichen Philosophie führt im Ergebnis der kantischen Vernunftkritik zu einem Auseinanderfallen von sprachlichem Denken und Sein; die analytische Philosophie der Gegenwart folgt ungeprüft der Voraussetzung, dass das Sein vorsprachlich gegeben sei und die Sprache nur einen von mehreren Zugängen zur Realität darstelle. Gadamer widerspricht diesem nominalistischen ‚Glaubenssatz‘ durch seinen hermeneutischen Begriff von Sprache. Die Korrelation von Verstehen und Auslegung bestimmt für ihn das Weltverhältnis des Menschen und ermöglicht allererst einen adäquaten Umgang mit den ‚Sachen‘, um die es in diesem internen Verhältnis geht. Dass es keinen Bezugspunkt jenseits der Korrelation von Wort und Sache geben soll, hat ihm den Vorwurf einer antirealistischen Wendung eingebracht. Die von H. Krämer vorgelegte Kritik der Hermeneutik (2007) verkennt im Geiste eines kritischen Realismus, dass der Begriff der Realität in der Hermeneutik Gadamers ebenso wie in der Geistesphilosophie Hegels und in der existentialen Analyse Heideggers von einem nicht-repräsentationalen Wahrheitsbegriff beherrscht wird, dessen Zentrum das Erscheinen des Seins im Medium der Welterfahrung, d. h. aber für Gadamer: in der Sprache ist. Allerdings behalten die Einwände Krämers insofern eine vordergründige Plausibilität, als dieser Autor mit einem gewissen Recht darauf bestehen kann, dass das Sein zunächst als vorsprachlich gegeben erscheinen kann. Vorsprachliches Sein aber ist für Gadamer hermeneutisch noch nicht erschlossen: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ (GW 1, 478)

Innerhalb der von Gadamer freigelegten Zirkelstruktur des Verstehens ist seine Position unabweisbar.

Die Beziehung von Sprache und Welt ist ein Grundthema der Philosophie. Gadamers Rückbindung an den griechischen Logos, auch wenn sie partiell bleibt, ist für die philosophische Position seiner Hermeneutik auf dem Hintergrund dieser Beziehung von Bedeutung. Um zu verstehen, worin diese besteht, muss man wissen, dass in der frühgriechischen Dichtung und bei Heraklit Logos nicht nur das Sagen, sondern zugleich das Gesagte, der Zuspruch von den Dingen her ist. Die Besonderheit der altgriechischen Sprache ermöglicht nicht nur die Herausbildung einer philosophischen Begrifflichkeit, ihre vom subjektiven Willen unabhängige gleichsam körperhafte Gegenständlichkeit fordert, dass die Subjektivität dem Objektiven des musikalisch-sprachlichen Rhythmus gehorcht. Nicht ohne Grund trugen die Schauspieler auf der Bühne des griechischen Theaters Masken, die ihre Individualität verbargen. Das Tragen der Maske betont, dass auf der Bühne nicht Einzelne und Sterbliche sprechen, sondern durch die Maske hindurch „die Macht der Sprache“ (E. Grassi), Ausdruck eines ‚Objektiven‘, eines Schicksals, das von den Göttern her über den Menschen verhängt ist.

Die griechische Philosophie, die erstmals auf das Verhältnis von Sprache und Welt reflektiert, hat in der Sophistik den Bezug zwischen Wort und Sache so gelockert, dass das Wort in der von ihr vertretenen Rhetorik zu einem Instrument der beliebigen Darstellung einer Sache wurde. Platos Reaktion gegen die Sophistik macht im Kratylos die „Richtigkeit der Namen“ davon abhängig, ob sie von der Sache des Denkens, den Ideen, her gerechtfertigt ist, nicht aber von den durch die Sprache manipulierten Meinungen über die Sachen. Für Plato kommt in der Trias Wort-Begriff-Idee den Wörtern nur eine ephemere Bedeutung zu. Die Welt der Wörter führt zu keiner Erkenntnis der Welt der Ideen und ihrer unaussagbaren Erfahrung. Das christliche Inkarnationsdogma hat in der Trinitätslehre des Augustinus zu der Spekulation über das verbum geführt. Sie thematisiert an ihm einen ihm zukommenden Geschehenscharakter. Es ist auf diese vorerst nur anzudeutenden geschichtlichen Zusammenhänge hinzuweisen, um zu verstehen, dass Gadamer in der geistigen Materialität der Sprache jenes „unvordenkliche Element“ (J. Grondin) sieht, in dem sich das Denken auf Sinn hin entfaltet.

Gadamers hermeneutisches Verständnis grenzt sich von zwei Linien der Sprachphilosophie ab: einer nominalistischen Position, für welche die Wörter Kompositionselemente eines Zeichensystems sind, und einer instrumentalistischen Auffassung, die in der Sprache ein Werkzeug sieht, mit dessen Hilfe der Mensch die physische Umwelt in Gebrauch nimmt und sich die soziale Mitwelt verfügbar macht. Diese zuletzt erwähnte Auffassung geht auf eine Tradition zurück, der sich Gadamer gleichwohl in gewisser Weise verbunden weiß: So teilt er mit G. Vico die Überzeugung, dass alle Erscheinungen der geschichtlichen und gesellschaftlichen Welt sprachlich verfasst sind, während er andererseits mit Herder und vor allem Humboldt an den energetisch-dynamischen Charakter der Sprache anknüpfen kann. Aber auch Herder und Humboldt gelangen aus seiner Sicht nicht zu der hermeneutisch adäquaten Korrelation von Verstehen und Auslegung, sondern bescheiden sich bei einem ungeklärten Verhältnis der empirischen Vielfalt der Einzelsprachen zu einem Begriff von Sprache überhaupt. Demgegenüber versucht Gadamer in der Nachfolge Heideggers Ontologie und Hermeneutik zusammenzudenken. Im Zuge dieses Unternehmens richtet sich sein philosophisches Interesse nicht auf die Errichtung einer Wahrheitstheorie; vielmehr orientiert es sich am Wort der Dichtung. Generell lässt sich sagen: Durch ihre ontologische Wendung unterscheidet sich seine Hermeneutik von jeder Spielart einer analytischen Philosophie. Die spekulative Transformation des Seins in die Sprache findet ihren Ausdruck in Rilkes letztem Sonett an Orpheus, welches die Erde herakliteisch zur Zeit und das Wasser parmenideisch zum Sein werden lässt:

Und wenn dich das Irdische vergaß,

zu der stillen Erde sag: Ich rinne.

Zu dem raschen Wasser sag: Ich bin.

Wenn Gadamer zwar die Erkenntnisse der Sprachwissenschaft in seinen hermeneutischen Erkenntnishorizont einbezieht, so ist der ästhetische Maßstab seiner auf Sinnverstehen ausgerichteten hermeneutischen Reflexion die expressive Sprachgewalt großer Dichtung. Der durch sie erzeugte klangliche Rhythmus, der die zeitlichen Strömungen des Lebens hörbar werden lässt, wie die ihr immanente Kraft der mimetischen aisthesis grundlegender Weltgehalte, in der die Worte aus ihrer bloßen Mitteilungsfunktion befreit und in ihrem Verweisungscharakter aufs Höchste gesteigert sind, führt zu dem alle große Kunst auszeichnenden Urteil: So ist es.

In dem Beitrag Das Wort der Dichtung hat W. Schadewaldt am Beispiel von Goethes Gedicht Wanderers Nachtlied gezeigt, wie in ihm aus Wörtern, Silben, Lauten ein ‚Klangleib‘ entsteht, in dem „über Sinn und Bedeutung hinaus“ das, was ‚Abend‘ ist, vollendete sinnliche Präsenz erreicht. Der Hinweis auf das durch die Dichtung erzeugte Da-Sein von Welt dient dazu, das Bewusstsein für eine der wesentlichen Intentionen von Gadamers Hermeneutik zu schärfen: Verstehen zu öffnen für eine in der Sprache verborgene ontologische Erfahrung von Welt. Als ein Lichtungsgeschehen im Sinne des späten Heidegger besitzt sie ihren ‚Ort‘ nie im nur Wissbaren der Wissenschaft.

Die Differenz zwischen dem schweigenden Sein der Welt und dem, was sich sagen lässt, führt Gadamer zu einer zentralen Einsicht: Immer meint unsere Rede mehr, als sich in Worten ‚aussagen‘ lässt. Was uns als Welt begegnet, ‚sagt‘ uns etwas, das nicht zur ‚Ichrede‘ (E. Husserl) eines Subjekts werden kann. Das Atmosphärische der Welt, in dem die Dinge eine eigentümlich schwebende Durchsichtigkeit annehmen, weckt in uns die Ahnung einer Anwesenheit, die sich nie völlig zeigt.

Die Akte des Verstehens, durch die das Individuum sich seines Daseins zu vergewissern sucht, sind nicht mehr als ‚ein Flackern‘ im Stromkreislauf des geschichtlichen Lebens. Es gleicht jener Kerze, von der Tolstoi am Ende des Romans Anna Karenina schreibt, dass in ihrem Licht es Anna kurz vor ihrem Freitod möglich wird, in dem „von Unruhe, Täuschungen, Kummer und allem Bösen erfüllten Buch ihres Lebens“ zu lesen. Der Zeitpunkt ihres Todes und der tödliche Augenblick der Erkenntnis ihres Verlorenseins konvergieren, wenn das Licht dieser Kerze heller aufstrahlt denn je, noch einmal alles beleuchtet, was bisher in undurchdringlichem Dunkel für sie gelegen hatte, schwächer wird und für immer erlischt. Die Pointe der von Tolstoi gestalteten Sterbeszene liegt auf dem Erlöschen der Kerze. Das Wunder eines plötzlichen Lesens in dem verwirrenden Text eines Lebens, wie es Anna kurz vor ihrem Ende zuteil wird, führt trotz aller blitzhaften Erhellung der in ihm enthaltenen Dunkelheiten zu keinem endgültigen Verstehen. Unmittelbar vor seinem Durchbruch wird es durch das Erbarmungslose eines tödlichen Schlages zerstört. Das bedeutet für eine der menschlichen Situation angemessene Selbstbescheidung einer jeden Theorie des Verstehens: Der Tod ist die Grenze, an der die hermeneutische Reflexion, die den verschlungenen Wegen unseres Daseins nachgeht, scheitert. Was vor dieser Grenze am Ende bleibt, sind nur Fragen, denen keine Antwort zuteil wird: „Wo bin ich? Was tue ich? Warum?“ (Tolstoi, Anna Karenina)

Gadamers überlegene Weisheit hat das Fehlen abschließender Antworten auf diese Fragen nie verleugnet. Er hat sie jedoch in der Wachsamkeit des philosophischen Gesprächs lebendig gehalten und dadurch dem menschlichen Dasein die Würde einer eigentümlichen Spannung von Wissen und Nichtwissen zurückgegeben. In dieser sokratischen Haltung seines Denkens, die sich jedem dogmatischen Glauben ebenso verweigert wie einem skeptischen Nihilismus (Nietzsche), liegt ihr größtes Verdienst für ein philosophisches Verständnis der Philosophie. Dass sie in keiner Wissenschaftstheorie aufgeht, verdanken wir ihr.

In der Reflexion auf unsere Endlichkeit und durch sie hindurch „spricht sich unser menschliches Todesbewusstsein aus, das sprachlos und sprachsuchend dem eigenen Ende entgegenstrebt.“5 In jedem poetisch-bildlichen Denken, das dem fließenden Seinscharakter der menschlichen Lebensvollzüge unvergessliche Ausdrucksmomente abzuringen weiß, kommt etwas von dem zum Ausdruck, das der Mensch sich durch die Sprache mit dem Wissen um seine Endlichkeit zu versöhnen vermag. Steigert sich das Sprechen zur „Sagkraft“ der Dichtung, so scheint das ihr eigentümliche Melos das Vergessen zu überdauern, das unserem kurzen Leben als Los beschieden ist. Anlässlich seiner späten Überlegungen zu einem Gedicht des westfälischen Dichters E. Meister (GW 9, 345 f.) hat Gadamer angemerkt, dass die einzige Antwort auf die Frage „Geht alles vorbei?“ das Gedicht selbst ist. Es steht durch die ‚Tragkraft‘ seiner Worte in sich selbst: „eh alles / vorbei“ (Meister).

„Wir philosophieren nicht, weil wir die absolute Wahrheit haben, sondern, weil sie uns fehlt“, schreibt J. Grondin in seiner Einführung in die philosophische Hermeneutik (2001). Es ist der Mangel, das unser Denken wie ein Schatten begleitende Wissen um den Tod, das das Philosophieren aus sich heraus antreibt. Auch das macht uns die Hermeneutik Gadamers bewusst.

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