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Bond und wie er die Welt sieht
ОглавлениеDer Sprung in den Unglauben lässt sich auch mit einer berühmten Wendung verknüpfen, die auf den englischen Dichter Samuel Taylor Coleridge zurückgeht: der Willing Suspension of Disbelief. Coleridge meint damit das freiwillige Zurückstecken aller Skepsis angesichts eines vermeintlich unwahrscheinlichen, wenn nicht gar unmöglichen Ereignisses in einer Geschichte. Wer sich auf Märchen einlässt, darf nicht die Stirn runzeln, sobald der Frosch spricht oder das Lebkuchenhaus im Wald auftaucht. Dieser Einstiegsqualifikation bedarf es auch, wenn man in James Bonds Welt eintaucht oder aber zu Fantasy und Science-Fiction greift, also zu Genres, denen häufig mit dem Vorwurf des Eskapismus begegnet wird und die lange aus der Hochkultur ausgeschlossen wurden.
Auch Bond wird von der Kritik erst etwas ernster genommen, seitdem er sich glaubhaft zu ›unseren‹ Problemen (Ressourcenknappheit, Antiterrorkampf) bekennt und den vermeintlich aus der Luft gegriffenen Konflikten abgeschworen hat. Damit wird aber auch das Publikum aus der Verantwortung entlassen – eigentlich sollte es Bond auf halber Strecke entgegenkommen, indem es bewusst in seine Welt eintritt und die dort geltenden Regeln akzeptiert. Zu diesen gehört, dass allem ein bestimmter, mit Blick auf den Fortgang der Geschichte gewählter Zweck eingeschrieben ist. Die technischen Hilfsmittel, mit denen Bond auf Reisen geht, sind derart spezifisch entworfen, dass sie jeder Reisende als zu wenig alltagstauglich ablehnen würde (die aufblasbare Skijacke zum Schutz gegen Schneelawinen, eine Kamera mit eingebautem Geigerzähler), aber bei Bond erweisen sie sich verlässlich als genau die richtige Ausstattung. Es mag schon Bond-Filme gegeben haben, in denen 007 am Schluss ohne Partnerin dastand, aber keinen, an dessen Ende er in seinen Taschen gewühlt und festgestellt hätte: »Schau an, da ist ja noch eine Zigarette mit eingebauter Minirakete, die muss ich am Montag wohl unbenutzt zurückgeben – vielleicht ein andermal.«
Die Literaturwissenschaft kennt das als Tschechows Gewehr – wenn es im 1. Akt über dem Kamin hängt, muss es bis zum Ende des Stücks abgefeuert werden. Dieses Prinzip thront bei Bond über allem: Schurken tragen den Grund ihrer Existenz bzw. ihre Schurkenhaftigkeit im Namen (Goldfinger ist süchtig nach Gold, Le Chiffre ein Zahlenspieler, Elektra King eine Rachegöttin), und Frauen werden anscheinend bereits bei der Geburt so benannt, dass an ihrer sexuellen Verfügbarkeit kein Zweifel besteht (Pussy Galore und Chew Mee geben zumindest im Original sehr eindeutige Versprechen ab, Xenia Onatopp liegt oben). Ereignisse sind auf ihren maximalen Schauwert und auf ihre Pointe hin entworfen. Am Anfang von Leben und sterben lassen (Live and Let Die, 1973, R: Guy Hamilton) beobachtet ein Geheimagent eine Trauerprozession der afroamerikanischen Gemeinde von New Orleans. Als er einen neben ihm stehenden Passanten fragt, wessen Begräbnis das sei, erhält er zur Antwort: »Deins!«, wird erstochen und fällt tot auf die Straße, wo ihn die Sargträger sofort auflesen. Aus der gut und gern fünfzig Personen starken Prozession wird im Handumdrehen eine ausgelassene Karnevalstruppe. Welche Form von Weltgeist lenkt die Abfolge dieser Ereignisse? Man muss wohl nicht erst darauf hinweisen, dass die Szene nur in ihrer Witzstruktur schlüssig ist, sonst aber keiner Betrachtung standhält, dass der Trauerzug sich unmöglich darauf verlassen kann, den Agenten an der gewünschten Stelle vorzufinden (geschweige denn, dass er sich mit der passenden Frage ausgerechnet an seinen Mörder wendet), und dass es etliche pragmatischere Mordmethoden gegeben hätte als diese aufwendige Inszenierung. Aber es ist ja, nebenbei bemerkt, ohnehin der künstlerische Ehrgeiz der Attentäter, der Bond andauernd das Leben rettet. Sie schlagen ihn im selben Film lieber bewusstlos und setzen ihn auf einer Krokodilfarm aus, statt ihn einfach zu erschießen. Der Regisseur John Landis, der sich einmal erfolglos an einem Bond-Drehbuch versuchte, erinnert sich eines wichtigen Tipps, den ihm der Produzent gab. Die Auftaktszene müsse so gestaltet sein, dass dem Publikum unmissverständlich mitgeteilt wird: »Put your brains under the seat and say ›let’s go‹«, also Hirn ausschalten, und los geht’s. Das ist eine etwas derbe Umschreibung der Passwortabfrage, ohne die man nicht in die Geschichte eintreten sollte. Findest du das hier akzeptabel? Gut – denn in den nächsten beiden Stunden gibt’s noch viel mehr davon.
Dass uns James Bond solchen Glaubensprüfungen immer gleich am Anfang unterzieht, macht ihn ehrlicher als die Konkurrenz. Je häufiger man z. B. die Filme des genialen Tüftlers Christopher Nolan sieht, der mit Inception (2010) und Tenet (2020) mindestens zwei verkappte Bond-Abenteuer gedreht hat, desto mehr fällt an ihnen auf, dass ihre virtuose Architektur einer Wahrscheinlichkeitssprüfung kaum standhält. Die Pläne des Jokers in The Dark Knight (2008) hängen an derart vielen Unwägbarkeiten, dass der Film eigentlich nur ein hervorragend inszeniertes Kartenhaus ist, das man aus sicherem Abstand bewundern, aber besser nicht anstupsen sollte. (Dass die Bond-Macher in Christopher Nolan einen Bruder im Geiste vermuten, merkt man übrigens daran, dass sie den Batman-Plot in Skyfall [2012, R: Sam Mendes] plagiieren.)
Und weil das Bond-Publikum eine vermeintlich wohlgeordnete Welt vorgesetzt bekommt, in der alles seinen Zweck erfüllt und jeder seinen Platz kennt, wäre es wohl auch müßig, darüber nachzudenken, was das überhaupt für ein Geheimagent sein soll, der immer schon am Flughafen oder im Hotel von seinen Gegnern erkannt wird und so diskret auftritt wie ein Elefant im Porzellanladen. Beispielsweise soll sich Roger Moore in seinem letzten Einsatz als James Bond in Im Angesicht des Todes (A View to a Kill, 1985, R: John Glen) inkognito auf das Anwesen von Max Zorin (Christopher Walken) einschleichen – zur Tarnung wählt er die Identität des flirtfreudigen Playboys »James St. John Smythe«, erscheint also zum Kostümfest verkleidet als er selbst, schläft mit der Gehilfin des Gegenspielers und wird binnen eines Tages enttarnt.