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Sonntag, 10. August 2014
Оглавление»Wie weit ist es denn noch?«, wollte Lisa Luft wissen. Sie saß neben ihrem Kollegen und Partner Heiko Wüst in dessen M3, einem BMW, der sein ganzer Stolz war. »Nicht mehr weit«, informierte der Kriminalkommissar. Auch nach anderthalb Jahren in Hohenlohe staunte die ursprünglich nordrhein-westfälische Lisa noch immer über die Weitläufigkeit der Landschaft. Hier in der Gegend konnte man manchmal kilometerweit durch die sanft gewellten Hügel fahren, ohne auch nur auf ein Dorf zu treffen. Einige der Weiler, durch die der Weg dann doch führte, bestanden aus nicht einmal 20 Häusern. Man konnte es nicht anders sagen – hier, zwischen Goldbach und Schwarzenhorb, war die Landschaft die reinste Idylle, voller Obstbäume, die schon lange nicht mehr blühten, aber dafür bereits kleine Früchte trugen, die schnell wachsen würden. Und auf den Wiesen leuchteten Hahnenfuß, Lichtnelken und Ochsenaugen. Die Luft flirrte vor Hitze, und selbst im Vorbeifahren konnte man das ohrenbetäubende Zirpen der Grillen hören. Die Wälder waren düster und schwer von einem satten Dunkelgrün, das es nur zu dieser Jahreszeit gab. Es war ein schöner Spätsommertag, und sie fuhren mit offenem Dach. Denn der M3 war ein Cabrio. Ein Auto, das die beiden Kommissare auch als Dienstwagen benutzten. Aber momentan waren sie nicht im Dienst. Sie waren privat unterwegs, auf dem Weg zum Sommernachtsfest des Fischereivereins. Heikos Vater war ein langjähriges Mitglied dieses Vereins, und so war es Ehrensache, dass die ganze Familie bei diesem Fest dabei war. Die Veranstaltung fand im und ums Fischerheim am Asbacher Weiher statt. Lisa war noch nie dort gewesen, aber Heiko hatte versprochen, dass es dort schön sei. Sie bogen in Waldtann nach links ab und folgten einer Straße, die eher ein Feldweg war. Trotzdem gab es hier Straßenschilder, an einer Gabelung ging es links nach Wüstenau und rechts nach Asbach. Heiko folgte dem Weg, der sich etwa einen weiteren Kilometer durch sanfte Hügel und weite Felder schlängelte, bis sie schließlich an ihrem Ziel waren.
Der hohenlohische Kriminalkommissar parkte den Wagen, und sie passierten eine kleine Allee, neben der der Bach plätscherte, der den Weiher speiste. Verstohlen musterte Heiko seine Freundin. Sie sah umwerfend aus in ihrem leichten, rotgeblümten Sommerkleid, das ihr kaum bis zum Knie reichte. Die langen blonden Haare hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden. Außerdem trug Lisa hochhackige Pumps, was zwar gut aussah, wie Heiko fand, aber in diesem Fall doch ziemlich unpraktisch war, weil sie ja immerhin durch die Wiese laufen mussten. Sie hatten die Allee umrundet, und zu ihrer Rechten lag jetzt ruhig und friedlich der Asbacher Weiher, wo schon mehrere Kinder am flachen Wasser spielten. Geradeaus entdeckte Lisa ganze drei Häuser, die wohl Asbach bildeten. Und links war geschäftiges Treiben im Gange. »Lisa! Heiko!«, ertönte eine Stimme. Es war Heikos Mutter, die aufgeregt winkte und auf sie zukam. Die Kommissarin registrierte das Fischerheim links, das im hellen Sommerlicht düster und höhlenartig wirkte. Die meisten Menschen saßen allerdings an Tischen, die unter einem gewaltigen weißen Zelt aufgestellt waren. Ein Duft nach Würstchen und gebratenem Fisch erfüllte die Luft. »Lisa, mei Madle!«, begrüßte Doris Wüst ihre Schwiegertochter in spe und umarmte sie stürmisch. Auch Heiko wurde geknuddelt, nur weniger auffällig, weil ihm das immer so peinlich war. »Papa hat sich schon hingesetzt. Wir sind da drüben«, erläuterte Doris und wies auf einen der Tische.
Wenig später hatten sie alle ein Getränk vor sich stehen. »Und das ist jetzt also der Angelverein«, stellte Lisa fest und nippte am Apfelsaftschorle. »Der Angelsportverein!«, präzisierte Werner Wüst. »Und heute wird der neue Fischerkönig prämiert«, erklärte Doris, und ihr Tonfall verriet ergebenes Interesse an der Materie, wohl ihrem Mann zuliebe. »Fischerkönig?«, fragte Lisa zweifelnd.
»Ja, der wird beim Königsfischen ermittelt.« Werner Wüst nahm einen Schluck von seinem Hefeweizen. »Und was macht man beim Königsfischen?« Werner brummte. »Ja. Das ist immer an irgendeinem Gewässer des Vereins. Jedes Mitglied des Fischereivereins, das Zeit und Lust hat, kann mitmachen. Alle treffen sich an der Jagst oder an einem Weiher, und dann geht es darum, wer in der vorgegebenen Zeit den größten Fisch fängt. Das geht dann nach Gewicht.« »Ah!«, machte Lisa.
»Und jeder der Herren hat natürlich so seine eigenen Methoden und Mittelchen, auf die er schwört«, präzisierte Doris mit ironischem Unterton, den Werner aber gar nicht wahrzunehmen schien. Beseelt nickte er. »Ich persönlich gehe beim Königsfischen ja immer auf Hechte. Die bringen ordentlich Kilo und sind außerdem eine Herausforderung, weil sie Raubfische sind. Friedfische sind mir zu langweilig, weil …«
»Was sind denn Friedfische?«, unterbrach Lisa.
»Ja, solche, die höchstens mal eine Muck fressen, aber sonst ganz brav sind!«
»Wie langweilig!«, befand Lisa und zwinkerte Doris zu. Nun schien der Angler die Ironie zu ahnen und musterte seine Frau mit kritisch-prüfendem Blick. Er trank wieder einen Schluck Weizen und schwieg verstimmt. Heiko rettete die Situation, indem er fragte: »Und wer ist dieses Jahr Fischerkönig?« Werner entspannte sich. »Der neue oder der alte?«
»Beide?«
»Also der alte ist der Walter Siegler.« Prüfend ließ er seinen Blick über die Feiernden schweifen. »Aber ich sehe ihn nirgends. Das wird ihm arg schwerfallen, die Kette abzugeben.«
»Die Kette? Welche Kette?«, fragte Lisa.
»Die Fischerkönigskette. Der Fischerkönig darf sie für ein Jahr tragen.«
»Und dann?«
»Na, dann kriegt sie der neue König, wieder für ein Jahr. Und so weiter und so fort.«
»Und wer wird der neue?«, hakte Doris nach.
»Der Hintermanns Heinz, soweit ich weiß«, informierte Werner Wüst.
»Warst du auch mal Fischerkönig?«, fragte Heiko seinen Vater. Der nickte und wirkte auf einmal tatsächlich königlich. »1985«, erzählte er. »In den letzten Jahren hab ich allerdings nur noch so hobbymäßig mitgemacht. Es gibt aber manche, die denken an nichts anderes.«
»Ist ja auch sehr kleidsam, die Kette«, befand Doris und trank Weißherbstschorle.
»Ja? Wie sieht sie denn aus?«, wollte Lisa wissen.
»Na, das wirst du schon noch sehen, nachher, bei der Krönung!«
Es sollte nicht zur Krönung kommen. Denn Walter Siegler blieb natürlich verschwunden. Die Feiernden kannten den wahren Grund dafür noch nicht, vielmehr wurde im Flüsterton gemutmaßt, dass Siegler nicht willens sei, seine Insignien abzugeben. So oder so kam der Vorstand allmählich in die Bredouille, weil der wesentliche Programmpunkt des Tages, nämlich die Krönung des neuen Fischerkönigs, ohne die Kette auch nicht stattfinden konnte. Heinz Hintermann hingegen hockte mit triumphierend-herausforderndem Grinsen an seinem Tisch vorne rechts und konnte sich den einen oder anderen dummen Witz über seinen Amtsvorgänger nicht verkneifen. Lisa und die Wüsts hatten sich inzwischen gebratenes Karpfenknusper mit Pommes bestellt und taten sich bald daran gütlich. Der Vorsitzende des Fischereivereins, Otto Waller, sah gerade zum wohl hundertsten Mal auf die Uhr und nickte schließlich dem wohlgenährten Alleinunterhalter zu, der sogleich einige Schlager zum Besten gab. Nach einer weiteren halben Stunde wurde auch dieser Puffer allmählich unglaubwürdig, und Waller betrat die Bühne. Er räusperte sich und klopfte unauffällig gegen das Mikrofon, bevor er sagte: »Guten Abend, meine Damen und Herren, und herzlich willkommen zum Sommernachtsfest des ASV Crailsheim!« Verhaltener Applaus. Noch einmal suchte Waller mit seinen Augen die Szenerie ab, ob der amtierende Fischerkönig nicht doch noch aufgetaucht war. Dann fuhr er fort: »Ich möchte Ihnen einen kleinen Abriss der Geschichte des ASV geben.« Er setzte eine weihevolle Miene auf, und sein silberner Schnurrbart bebte ehrfürchtig, als er begann: »Der ASV wurde gegründet im Jahre …« Ein Schrei unterbrach den Redner, ein Schrei, der so laut und entsetzlich war, dass er alle verstummen ließ, weil jeder hörte, dass dies ein Kinderschreien war, das erschreckenderweise etwas Tierisches, Gehetztes hatte. Die Tonlage war hoch, der Schrei verriet blankes Entsetzen und kam schnell näher. Wie in Zeitlupe richteten die Anwesenden ihre Blicke auf das etwa neunjährige Mädchen im rosa gestreiften Kleid, das soeben das Fischerheim passierte. Das Kind stand unter Schock. Eine Frau, wohl die Mutter der Kleinen, sprang nach einer Schrecksekunde auf und eilte auf das Mädchen zu, um es schließlich hochzunehmen und wie ein Kleinkind zu wiegen. Das Mädchen wimmerte nun, aber es war klar, dass sie nicht weinte, weil sie hingefallen war. So weinte ein Kind nur, wenn Schlimmeres passiert war. Alle starrten gebannt auf die seltsame Szene, und jetzt flüsterte die Kleine ihrer Mutter etwas ins Ohr. Die erbleichte und barg das Mädchen an ihrem Hals, um dann schnurstracks auf die Bühne zuzukommen und Waller die Schreckensnachricht umgehend mitzuteilen.
Minuten später standen Lisa, Heiko, der alte Herr Wüst und der Vorsitzende des ASV vor der Leiche. Der Tote lag in dem kleinen Waldstück, das sich dem Parkplatz gegenüber befand, und war nur unzureichend hinter einem Baumstamm versteckt. Nun war auch das Rätsel der fehlenden Fischerkette gelöst, denn die Trophäe war ganz eindeutig die Mordwaffe. Tief hatten sich die einzelnen Elemente der Kette in den seltsam dünn wirkenden Hals des Opfers eingegraben und dort rote und blaue Stellen hinterlassen. Die Augen waren hervorgequollen, und der Tote streckte auf skurrile Art die Zunge heraus. Als wolle er dem Tod mit einem grausigen Lachen entgegentreten. Waller war sichtlich erbleicht, während Heikos Vater die Leiche mit einer Art von wissenschaftlichem Interesse studierte und Heiko sein Handy zückte, um die Kollegen von der Spurensicherung zu rufen.
Uwe strich sich über die rasierte Glatze. »Also, Erdrosseln schaut echt böse aus«, meinte er und schüttelte mitleidsvoll den Kopf. Er machte einige Fotos, es würde dauern, bis die Haller Spurensicherung hier wäre, denn nach Asbach war es doch noch eine Ecke weiter als nur nach Crailsheim. Zu größeren Sachen, und da gehörte Mord ganz eindeutig dazu, kam nämlich immer die Haller Spurensicherung. »Weiß man schon, wer der Kerl ist?«, fragte Uwe. Heiko sah Hilfe suchend zu seinem Vater. »Wie heißt er noch mal?«
»Siegler. Walter Siegler. Der Fischerkönig.«
Uwe runzelte die Stirn und fragte sich wohl, um welche Art von Titel es sich dabei handelte. »Scheiße, der Mann ist verheiratet und hat eine kleine Tochter«, ließ sich Waller vernehmen, der wirklich sehr blass um die Nase war und bisher ansonsten noch gar nichts gesagt hatte. »Dann müssen wir die Frau informieren«, stellte Heiko fest. »Das wird nicht nötig sein«, ließ sich der Vereinsvorstand wieder vernehmen. »Sie ist schon auf dem Weg hierher. Sie hat vorhin meine Frau angerufen und gefragt, ob der Walter hier sei, und Gerda hat dann gesagt, der käme bestimmt bald und sie solle halt hier vorbeischauen.«
»Aha. Na dann. Kann man schon was sagen, Herr Spurensicherer?« Uwe Walter schürzte die Lippen. »Der Kerl wurde erdrosselt. Es muss gestern Abend gewesen sein, so zwischen acht und zehn, würde ich sagen. Wahrscheinlich wurde er überrascht, es sieht nicht so aus, als hätte er groß Zeit gehabt, sich zu wehren.«
»War das was Spontanes?«, wollte Lisa wissen.
»Schwer zu sagen. Woher hat der Mörder gewusst, dass der Mann die Kette umhaben würde? Und wieso hat er die Leiche nur so unzureichend versteckt?«
»Das spricht doch eher für einen Mord im Affekt, oder nicht?«
»Kann sein. Andererseits: Wenn der Mörder das mit der Kette gewusst hat, dann könnte es sich ja immerhin auch um eine geplante Tat handeln. Und wenn es Mord im Affekt war, dann muss die Kette voller DNA und Fingerabdrücke sein.«
Von der Straße her näherten sich Schritte, brachen aber in einiger Entfernung zum Waldrand ab. »Heiko?« Es war Doris. Heiko ging zu ihr, um ihr den Anblick der Leiche zu ersparen. »Die Frau ist da. Mit dem Kind.« Der Kommissar brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, welche Frau mit welchem Kind.
Eine Viertelstunde später saßen die beiden Kommissare einer hübschen blonden Frau im grünen Kleid gegenüber. Sie war keinesfalls älter als 25 und ausnehmend geschmackvoll geschminkt. Das Kind auf ihrem Arm war vielleicht zwei, drei Jahre alt. Lisa hatte Irina Siegler eine Cola gebracht, und nun klammerte sich die Frau mit ihrer feingliedrigen und perfekt manikürten Hand am Glas fest, während sie mit der Linken das Kind an sich presste. »Kann ich ihn sehen?«, fragte sie sehr leise und mit einer für eine so junge Frau recht tiefen Stimme. Ein kaum merklicher Akzent, den sie aber geschickt zu verbergen suchte, verriet, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache war. Lisa schüttelte den Kopf. »Ersparen Sie sich das, es ist kein schöner Anblick!« Die Frau protestierte nicht und fügte sich sichtlich erleichtert.
»Wann haben Sie denn bemerkt, dass Ihr Mann nicht da ist?«
»Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Und er ist auch nicht an sein Handy gegangen.« Heiko registrierte sehr große und sehr grüne Augen, die ihn durchdringend und sehr ernst musterten. »Und haben Sie sich da nicht gewundert?« Die Frau, die ohne Probleme Model hätte werden können, wirkte nun etwas verlegen. »Wissen Sie, das war nicht das erste Mal. Er geht ab und zu in die Mauerklause. Und da ist er öfter schon mal so spät nach Hause gekommen. Oder gar nicht.« Heiko nickte wissend, während Lisa beschloss, ihren Freund später zu fragen, was denn die Mauerklause war, auch wenn sie es sich bereits denken konnte.
»Und ist das sein Kind?« Lisa wies auf die kleine blonde Gestalt.
Irina Siegler nickte. »Das ist Viktoria.«
»Ein hübsches Mädchen.«
»Ja, nicht?« Ein Lächeln, das gleich wieder erstarb, huschte über die vollen Lippen.
»Sie wissen also gar nicht, wo Ihr Mann sich gestern Nacht aufgehalten hat?«
»Nein.«
»Woher kommen Sie denn ursprünglich, wenn ich fragen darf?«, fragte Lisa nun vorsichtig. »Aus Russland«, gab die Frau Auskunft. »Wir haben uns im Internet kennengelernt.« Lisa beschloss, dieses Thema momentan nicht weiter zu vertiefen. »Hatte Ihr Mann denn Feinde?«, fragte sie weiter. Irina dachte angestrengt nach, aber selbst dann zeichnete sich kaum eine Linie auf ihrer schönen, glatten Stirn ab. »Nicht, dass ich wüsste. Diese Fischerkönigsache war immer recht anstrengend. Aber dass da jemand einen Mord begehen würde …, nein, das glaube ich nicht!« Heiko brummte. »Sonst noch was?«, bohrte er weiter. Irina zuckte nach einer Weile die schmalen Achseln. »Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmern kann?«, fragte Lisa. Die Frau nickte und bestätigte mit einem tonlosen »Ja«.
Das Sommernachtsfest war schnell beendet gewesen. Otto Waller war zum Mikrofon getreten und hatte mit knappen Worten verkündet, was geschehen war. Seine Stimme hatte gebebt und er hatte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel gewischt. Dann hatte er an das Verständnis der Leute appelliert, dass man unter diesen Umständen nicht hier sitzen könnte und feiern und den neuen König krönen, und alle nach Hause geschickt. Mit betretenen Blicken hatten die Leute ihre Gläser geleert und waren still heim gegangen.
Heiko und Lisa hatten im Fischerheim ein provisorisches Verhörzimmer eingerichtet, um die ersten Befragungen vorzunehmen. Lisa hatte den neuen Fischerkönig und Waller gebeten, noch dazubleiben und einige Fragen zu beantworten. Das Fischerheim war ein Ort, dessen Staffage überaus grotesk wirkte. Ganz im Stil einer Jagdhütte waren auch hier Trophäenköpfe an der holzgetäfelten Wand angebracht. Nur, dass es sich dabei nicht um Hirsche und Wildschweine handelte, wie man das so kannte. Nein, an der Wand, auf kleinen, schmucken Holzbrettchen montiert, hingen Fischköpfe. Große, kleine, manche mit Zähnen, aber alle mit starrem Blick. Ihre harte Oberfläche glänzte speckig, und sie alle waren dem Betrachter direkt zugewandt. Fische in Angriffsposition sozusagen. Das beeindruckendste Exemplar war zweifellos ein zwei Meter langer Fisch mit riesigem säbelartigem Maul, als einer von wenigen seitlich aufpräpariert.
»Wie kommt ihr denn an den? Ich dachte immer, Schwertfische seien Salzwasserfische«, begann Lisa, als sie Otto Waller, den Vorsitzenden des ASV, befragten.
»Das ist kein Schwertfisch«, dozierte Waller, »das ist ein Segelfisch. Aus der Gattung der Fächerfische. Und ja, das ist ein Salzwasserfisch.«
»Und wie kommt er dann in Hohenloher Gefilde?«, wollte die Kommissarin wissen.
»Eines unserer Mitglieder, der Mann ist bereits verstorben, hat den Fisch 1978 gefangen. In Acapulco. Mexiko.«
»Unglaublich«, meinte Lisa. »Und dann?«
»Der Mann hat den Fisch präparieren lassen, vor Ort. In Mexiko. Alles andere wäre ja auch der reinste Frevel gewesen.« Lisa murmelte zustimmend. »1981 kam der Fisch dann nach Hohenlohe und hängt seither hier im Fischerheim in Asbach.«
»Ein wahrhaft kapitales Exemplar«, lobte die Westfälin.
Heiko, der die Geschichte bereits gekannt hatte, war der Meinung, dass sie nun genug Small Talk praktiziert hatten und dass es nun an der Zeit war, sich endlich dem brandheißen Mordfall zu widmen. »So, Herr Waller«, begann er. »Können Sie sich denken, was das Mordopfer gestern Abend hier wollte?« Waller schürzte die Lippen. Seine gesamte Mimik verriet Nervosität. Seine Hände lagen ineinander verkrampft auf dem Tisch, die Fingerknöchel traten schneeweiß hervor. »Ich, äh, keine Ahnung.«
»Wirklich nicht? Denken Sie nach.«
Auf Wallers Stirn bildete sich eine Steilfalte. Dann blitzte eine Erkenntnis in seinen braunen Augen auf. »Ich könnte mir vorstellen, dass er den Kassenbericht noch mal prüfen wollte. Der sollte heute vorgestellt werden.«
»Und wo hätte er das gemacht?«
Waller erhob sich umständlich, trat dann hinter die Theke, zog eine Schublade auf und fand das Kassenheft. »Hier!«, meinte er und brachte das Heft an den Tisch. Behutsam, als wäre es ein unvorstellbarer Schatz, legte er das Heft vor den Kommissaren ab. Heiko benutzte die Spitze eines Kugelschreibers, um das Heft vorsichtig zu öffnen. Ohne die Ecken zu berühren, blätterte er zum letzten Eintrag. Und tatsächlich, die letzte Eintragung war datiert auf den 9. August 2014. Sie lautete lediglich ›Geprüft‹ und war unterschrieben mit einer jener Signaturen, die Männer ab einem gewissen Alter fabrizieren, um Gelassenheit und Lebenserfahrung zu suggerieren, die aber gerade deshalb umso bemühter wirkten. Heiko drehte die seltsamen Schnörkel ins Licht. »Heißt das Siegler?«, wollte er wissen. Waller musterte den Eintrag und stimmte dann zu. »Hat es denn in der Kasse jemals Unregelmäßigkeiten gegeben?«, wollte Lisa nun wissen. Waller schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Wissen Sie, da sind eh keine Millionen drin. Wir gehen von dem Geld auf Ausflüge oder pachten einen neuen Weiher. Aber große Sprünge kann man nicht damit machen. Und bisher war immer alles okay, der Walter hat das sehr gewissenhaft gemacht …« In diesem Moment schien dem Vorsitzenden die Lage wieder so recht bewusst zu werden, sein Blick verdüsterte sich, und eine Träne schimmerte in seinem Augenwinkel.
»Hatte der Herr Siegler denn Feinde?«, fuhr Heiko fort. Waller fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, wohl, um die Träne unauffällig fortzuwischen. »Na ja, also sagen wir mal, er hat polarisiert. Aber er war im Grunde ein ganz netter Kerl, ein wirklich netter!«
»Wer konnte ihn denn nicht leiden?« Hinter Wallers Stirn arbeitete es. Er schien abzuwägen, ob es nicht unanständig sei, auf diese Frage zu antworten. »Sie helfen damit, den Mörder ausfindig zu machen.« Jetzt schüttelte der Mann den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von uns …«
»Das kann man sich niemals vorstellen, Herr Waller. Also?«
»Wie wäre es denn beispielsweise mit dem neuen Fischerkönig?«, schlug Lisa vor. Der Mann wartete draußen vor der Tür und rauchte eine Zigarette nach der anderen, wie die Rauchschwaden, die an einem der beiden Fenster vorbeiwaberten, verrieten. »Wie war noch sein Name … Hintermann, Heinz. Also, wie wäre es mit dem Herrn Hintermann?« Der Vorsitzende blickte zum Segelfisch auf, als wäre der ein Gott, der ihm die Antwort ersparen könnte. Als nichts geschah, sagte er: »Das Königsfischen ist ein Sport. Ein Sport, bei dem es einen Gewinner gibt.«
»Einen Gewinner und ansonsten lauter Verlierer«, präzisierte Heiko.
»Da haben Sie schon recht«, gab Waller zu. »Aber der Wettkampf ist nur die eine Seite. Im Grunde verstehen wir uns alle sehr gut. Die meisten sehen das sportlich.«
»Die meisten?«, hakte Lisa nach. Waller zierte sich und fuhr schließlich fort: »Naja, also gerade der Walter hatte da ein etwas seltsames Verhältnis zum Titel … und vor allem zu der Kette.«
»Inwiefern?«
Waller schluckte. »Nun, wissen Sie, die Königskette wird üblicherweise zu besonderen Gelegenheiten getragen. Wenn es darum geht, den ASV zu repräsentieren. Es steht dem Fischerkönig natürlich frei, die Kette auch sonst zu tragen …« Er machte eine Pause, aber Heiko forderte ihn mit einer Geste zum Weiterreden auf. »Jedenfalls hat meine Frau ihn mal im Handelshof getroffen, und selbst da hatte er die Kette um.« Lisa unterdrückte ein Grinsen, während Heiko fragend die Augenbrauen hochzog. »Verstehen Sie, was ich meine, ich meine, man kann durchaus stolz sein auf diese Kette, durchaus, aber …«
»Sie meinen also, bei Herrn Siegler hätte dieser Stolz tendenziell krankhafte Züge angenommen?« Waller schnalzte mit der Zunge. »Krankhaft würde ich nicht sagen. Aber vielleicht lag er – hm, über dem Normalmaß.«
»Und hätte es da nicht sein können, dass er mit dem neuen Fischerkönig ein Problem hatte?«, schlug Lisa vor. Der Mann beugte sich vor, sodass Lisa jedes einzelne Haar in seinem Schnurrbart sehen konnte. Alle Haare waren akkurat ausgerichtet. »Jeder hat ein Problem damit, die Kette abzugeben, ganz klar. Aber wäre es dann nicht sinnvoller gewesen, wenn der Siegler den Hintermann … und nicht umgekehrt … ihr versteht.«
»Wir verstehen genau, was Sie meinen«, bestätigte Heiko. »Uns interessiert allerdings noch eine andere Sache. Die Frau Siegler …«
»Sie meinen, weil sie so jung ist?«
Heiko lächelte verlegen. Waller atmete tief durch und fixierte kurz den riesenhaften Segelfisch, der hinter der Kommissarin hing, bevor er antwortete: »Es heißt, er hätte sie vom Internet!« Lisa und Heiko wechselten einen vielsagenden Blick, den Waller bemerkte. Schnell setzte er hinzu: »Aus einem Chatforum, hat er mal erzählt!« Lisa räusperte sich. »Also, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber, nun ja, die Frau Siegler ist eine bildhübsche junge Frau, bedeutend jünger als ihr Mann.« Waller zuckte die Achseln. »Geld macht attraktiv«, vermutete er.
»War der Herr Siegler so reich?«
Wallers Schnurrbart vibrierte kurz. »Seine Familie hat ein bisschen Land. Und er hatte halt das, was man sich in einem ganzen Leben so abknausern kann, also nicht wenig. Und ob die Irina aus dem Katalog ist, das kann ich Ihnen nicht sagen, da müssen Sie Sieglers Schwester fragen.«
Heinz Hintermann wirkte, als säße er auf glühenden Kohlen. Gleich zu Beginn des Verhörs hatte er gefragt, ob er rauchen dürfe, und klammerte sich seither wie ein Ertrinkender an den Glimmstängel. Quasi aus Solidarität hatte sich Heiko auch eine angezündet, was bei Lisa zu einem vorwurfsvollen Wedeln mit der Hand führte. »Soso, und Sie sind also der neue Fischerkönig«, begann Heiko. Hintermann nickte. Er trug das Haar etwas länger, als Männer in seinem Alter es üblicherweise taten. Jeanstyp, stellte Lisa fest. Nicht unattraktiv. »Tja, so ist nun mal das Leben. Mal gewinnt man, mal verliert man«, meinte Hintermann, und Lisa fragte sich, ob er sich der Doppeldeutigkeit seiner Aussage bewusst war. »Anscheinend hatte Herr Siegler ein Problem damit, die Königskette abzugeben?«, half die Kommissarin. Hintermann schnaubte. »Wissen Sie, also ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, die Kette sei mir egal. Ich freue mich über den Titel. Aber beim Walter … also, das war schon nicht mehr normal, wenn Sie mich fragen.«
»Inwiefern?«
»Der hatte die Kette immer um. Immer. Die Irina hat meiner Frau mal erzählt, manchmal sei er sogar damit ins Bett gekommen. Das ist doch krank, ich bitte Sie.« Lisa stimmte dem Mann aus vollem Herzen zu und stellte sich unwillkürlich vor, Heiko käme in solcher Montur zu ihr ins Bett. Wahrscheinlich würde sie in einem derartigen Moment ernsthaft an ihrer Beziehung zweifeln. Was sie sonst eigentlich nie tat. Seit anderthalb Jahren waren sie und ihr Kollege bereits ein Paar, und sie waren sehr glücklich miteinander. Gut, es gab durchaus Dinge, die man an Heiko noch ändern konnte. Was das Rauchen betraf, so weigerte er sich hartnäckig, dieses Laster aufzugeben. Und mit Komplimenten ging er, typisch Hohenloher, recht sparsam um. Denn Hohenloher lebten nach der Devise ›Nix gsocht ist gloubt gnuach‹ – ›Nichts gesagt ist ausreichend gelobt‹. Aber abgesehen von diesen kleinen Mankos war Heiko nahezu der perfekte Partner – lieb, ohne zu soft zu sein, männlich, ohne zu sehr den Macho raushängen zu lassen. Wohl ganz anders als das Mordopfer, ein Mann, der seine sicherlich nicht unbeträchtliche Selbstachtung aus dem Triumph bei einem jährlich stattfindenden Wettkampf bezog und dann zweifellos noch aus der Tatsache, dass er sich als alter Knacker eine so junge und bildschöne Frau geangelt hatte – wie auch immer er das angestellt hatte. Lisa konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Walter Siegler ein Charmebolzen gewesen war. »Ist das Ihr erster Königstitel?«, fragte Heiko. Hintermann blies Rauch aus und verschränkte dann die Arme vor der Brust, ohne die Zigarette aus der Hand zu legen. »Hört mal, also ich bringe doch wegen so einem Scheiß nicht den Walter um!«
»Sie missverstehen uns, Herr Hintermann!«, beruhigte Lisa. »Wir verdächtigen Sie nicht. Wir sammeln Informationen!« Es passierte oft, dass Leute, von denen sie lediglich etwas erfahren wollten, sich automatisch verdächtigt fühlten.
»Sie brauchen mich auch gar nicht zu verdächtigen. Ich war’s nämlich nicht.«
»Können Sie sich denn vorstellen, wer es war?« Der ungekrönte Fischerkönig entknotete umständlich die Arme, rauchte nachdenklich und sagte dann: »Nein. Keine Ahnung. Der Walter war, wenn ihr mich fragt, ein ziemlicher Depp.«
»Inwiefern?«, wollte Lisa wissen.
»Ein Möchtegern. Einer, der sich über Statussymbole definiert hat. Die Irina. Sein Mercedes. Sein Job.«
»Was hat der Herr Siegler denn gearbeitet?«, fragte Heiko.
»Versicherungsfritze«, informierte Hintermann und wechselte einen Blick mit dem gewaltigen Hechtkopf an der gegenüberliegenden Wand. »Nicht wenig erfolgreich. Das ist ein Job, in dem diese spezielle Mischung aus Glaubwürdigkeit, Geschleime und Spießertum gut ankommt. Und das hatte er drauf, der Herr Siegler.« Lisa blickte nachdenklich zu einem monströsen Karpfenkopf, der genau über Hintermann hing. Sein Maul war so überdimensional groß, dass es beinah grotesk wirkte. »Besonders leiden konnten Sie sich wohl nicht?«, stellte sie dann fest. Hintermann verzog den Mund zu einem freudlosen Grinsen. »Wer konnte den schon leiden.«
»Wieso?«
»Ach. War halt insgesamt ein Arschloch.«
Heiko schwieg eisern und forderte lediglich mit einer Handbewegung zum Weiterreden auf. Der Typ ließ sich ja alles aus der Nase ziehen. »Na ja, also dass er die Irina gekauft hat, liegt ja wohl auf der Hand.«
»Wissen Sie das?«, hakte Lisa nach. Hintermann drückte nun endlich die Zigarette aus und lehnte sich dann in den ältlichen Stuhl zurück, der bedenklich knarzte. »Wie kann man das wissen. Glauben Sie etwa, er hätte das zugegeben? Trotzdem: Das kann gar nicht anders sein.« Lisa stimmte dem Mann innerlich zu, während Heiko »Hm« machte.
Lilli legte den Hörer auf. Sie tat es sanft, nicht laut und schnarrend, wie es in einer solchen Situation angebracht gewesen wäre. Requiescat in pace, mein Geliebter. Agnes hatte es ihr gesagt. Sie telefonierten viel miteinander, obwohl sie fast direkt nebeneinander wohnten. Zuerst hatte sie nicht viel gesagt. ›Der Walter ist tot.‹ Und dann: ›Es tut mir leid.‹
Sie, Lilli, hatte eine Schrecksekunde gebraucht, um zu verstehen. Dann war es aus ihr herausgebrochen. Wie? Wann? Warum? Agnes wusste nur, dass er erwürgt worden war. Gestern Abend. Schlagartig überlegte sich Lilli, was sie gestern Abend getan hatte. Wo sie gewesen war. Zu Hause, würde die Antwort lauten, wenn jemand fragen würde. Allein. Natürlich allein. So allein, wie sie seit 30 Jahren war, seit Walter sie verlassen hatte. Trennung auf Probe, hatte er damals vorgeschlagen. Probeweise. Nur so. Obwohl sie schon verlobt gewesen waren und laut übers Heiraten nachdachten. Und sie war sich sicher gewesen, er würde zurückkommen. Er würde sich austoben müssen, sich die Hörner abstoßen. Ein bisschen rumhuren. Und dann, dann käme er zurück zu ihr, zu seiner Lilli, die ihn doch liebte und er sie auch. Hatte sie zumindest gedacht. Aber dann hatte er sich vor vier Jahren diese Russenschlampe geholt. Lilli wusste überhaupt nicht, was er mit der wollte. Die konnte locker seine Tochter sein. Sie selbst hatte keine Kinder. Nicht, dass sie keine gewollt hätte. Es hatte sich einfach nicht ergeben. Denn der Mann, den sie als Vater ihrer Kinder ausgesucht hatte, hatte sie nicht gewollt. Sie wäre sein Bestes gewesen, aber das hatte er nicht erkannt, nicht erkennen wollen. Nicht, dass ihm das alles ganz recht geschehen wäre. Bestimmt nicht. Langsam stand Lilli auf. Es war so still. Sie ging in die Küche und setzte sich auf den Stuhl, auf einen von zweien. Lange, lange blieb sie so sitzen.
Die Spurensicherung hatte den Wald zum Sperrgebiet erklärt. Kaum war der VW-Bus der Haller Einheit angekommen, hatten die weiß gekleideten Männchen den Wald besetzt. Heiko fühlte sich wie in einem dieser schlechten Science-Fiction-Filme aus den 70er-Jahren. Irgendwie surreal. Es war ein heißer Tag. Die Luft war drückend schwül, Mückenschwärme umsurrten die Gegend um den Asbacher Weiher. Grillen zirpten, und im Wald knackten immer dann, wenn jemand eine unbedachte Bewegung machte, die trockenen Äste. Gleichzeitig stieg aber eine gewisse Kühle vom Waldboden auf. Der Waldduft wäre betörend gewesen, hätte sich da nicht ein erster Verwesungsgeruch breitgemacht.
»Todeszeitpunkt?«, fragte Heiko Uwe, der sich soeben mit einem Kollegen der Haller beriet.
»Die Kollegen sagen das Gleiche wie ich. Abends.«
»So zwischen acht und zehn«, bestätigte der Kollege, ein kleiner, untersetzter Mann in mittleren Jahren. »Und haben Sie irgendwas gefunden?«, forschte Lisa. Uwe schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber die wenigsten Mörder hinterlassen überhaupt keine Spuren.«
»Na dann. Der Vorsitzende hat gemeint, das Mordopfer hätte gestern wohl noch die Kasse geprüft. Im Fischerheim.«
»Okay.« Der Spurensicherer strich sich wieder über die Glatze. »Wir kümmern uns drum.«
Heiko fluchte leise. Verdammt, so hatte er sich diesen Tag nicht vorgestellt. Es hatte ein schöner Tag werden sollen, mit einem Fest, und jetzt hatten sie eine Leiche. In Asbach. Das war bisher Rekord, denn Asbach bestand wirklich nur aus drei Häusern. Vor einem von ihnen, nämlich vor dem, das dem Fischerheim am nächsten gelegen war, standen Lisa und Heiko nun und warteten darauf, dass ihnen die Tür geöffnet wurde. Genauer gesagt: Sie hatten sich das nächstgelegene Wohnhaus gesucht. Denn das Steinhaus, das ganz aus grauem Granit bestand und ein kunstvolles Relief über dem Türsturz trug, war offenbar nicht mehr bewohnt und diente – wie ein Blick durch das ebenerdige Fenster vom gepflasterten Hof aus verriet – lediglich als Scheune. Sie hatten sich also für das Haus daneben entschieden. Erneut drückte Lisa den Klingelknopf. Aber nichts geschah. Dann, als sie sich gerade zum Gehen gewandt hatten, schwang die altertümliche Holztür mit leichtem Knarren auf. Eine alte Frau stand in der Tür, mit schwarzem Pullover unter einem rosafarbenen Kleiderschurz und mit wachen blauen Augen unter einer korrekt gelegten silberfarbenen Dauerwellenfrisur. »Grüß Gott«, sagte die Frau, und es hörte sich fragend an. »Ja, Grüß Gott, Frau …«, Heiko schielte auf das Klingelschild, »… Sauer. Wir sind von der Polizei.« Ein wachsamer Ausdruck erschien in den alten und sehr hellen Augen. »Is ebbes bassiert?«, fragte die Frau mit sorgenvollem Unterton. Heiko räusperte sich. »Kennen Sie einen Herrn Walter Siegler?« Die Frau dachte kurz nach, drehte sich dann in Richtung der Wohnung um und rief: »Elsbeth! Kumm amol!« In der Tür erschien nahezu sofort eine Endvierzigerin mit einer sehr ähnlichen Frisur, wie die ältere Frau sie trug. »Kennsch du oon, wo Walter Siegler haaßt?«, wiederholte die Alte und warf dabei einen prüfenden Blick zu den Kommissaren, um sich zu vergewissern, dass sie den Namen richtig im Kopf behalten hatte. Durch die offene Dielentür erhaschte Lisa einen Blick auf ein altertümliches Buffet in Eiche rustikal mit Kunstblumen auf der Ablage.
»Nooh! Wieso? Was issn mit dem?«, wollte nun die jüngere Frau wissen und sah fragend zu Heiko hin.
»Der wurde gestern Abend umgebracht!«
»Ja und? Was gätt uns des ou?«
»Hier!«, präzisierte Heiko. »Er liegt im Wald.«
»Also noh!«, entfuhr es der Oma, und sie hielt sich mit einem Gestus des Entsetzens die aderdurchzogenen Hände vor den Mund, während die Endvierzigerin sich darauf beschränkte, fassungslos den Kopf zu schütteln.
»Des kou awwer net sei, do hanna gibt’s sou ebbes net!«
»So was gibt’s überall, Frau Sauer!«, erläuterte Lisa, die nach anderthalb Jahren in Hohenlohe den Dialekt schon fast perfekt verstand und nahezu mühelos den Gesprächen folgen konnte. Nahezu. Denn immer noch gab es Dinge, die ihr suspekt waren. Einerseits an diesem seltsamen süddeutschen Dialekt, andererseits aber auch an den Menschen selbst.
»Wor des ooner von denna Angler?«, fragte Elsbeth. Lisa bestätigte und beschrieb den Toten: »1,75 groß, eher schmächtig, graue Haare, Halbglatze.« Sie verstummte, weil sie sich partout nicht an die Augenfarbe des Mordopfers erinnern konnte. Nur daran, dass die Augen weit aufgerissen gewesen waren und dass in ihnen ein Ausdruck nackten Grauens gestanden hatte, den Lisa so schnell nicht vergessen würde, vielleicht sogar niemals.
»Sou ooner is öfter doghoggt!«, bestätigte die Frau.
»Gestern auch?«
»Waaß ii doch net. Moona Sie, ii hobb nix anders zum doona, wie da ganza Dooch nach denna Spinnada z’glotza?« Lisa blinzelte. Das war nun doch zu schnell gegangen.
»Wieso Spinnerte?«, fragte Heiko.
»Haja, bei manchana könnt mer ja grood moona, die müssda a Grooßfamilie mit ihrana Fisch ernähra!« Heiko grinste. »Ihnen ist also nichts aufgefallen«, resümierte er. Beide Damen schüttelten gleichzeitig ihre sehr ähnlichen Köpfe, die sich im Wesentlichen nur durch das Alter voneinander unterschieden. »Na dann.« Heiko zückte seine Visitenkarte. »Wenn Ihnen was einfällt, rufen Sie mich jederzeit an, gell?«
Lisa und Heiko hatten sich wenig später in den M3 gesetzt und waren in Richtung Goldbach gefahren. Denn in Goldbach wohnten nicht nur die Frau und die Tochter des Mordopfers, sondern auch dessen Schwester, wie Waller erwähnt hatte. Sie folgten der Landstraße in Richtung Goldbach und sahen schon von Weitem ein Stoffbanner, das sich beim Ortseingang quer über die Straße spannte. »52. Goldbacher Lichterfest«, las Lisa. »Was ist das denn?« Heiko stutzte. »Waren wir letztes Jahr nicht auf dem Lichterfest?« Lisa schüttelte den Kopf und meinte ein bisschen beleidigt: »Sonst würde ich ja nicht fragen.« Heiko überlegte kurz, dann fiel ihm ein, dass sie letztes Jahr um diese Zeit ja im Urlaub gewesen waren. »Das Lichterfest ist das Goldbacher Aushängeschild«, erläuterte er.
»So wie das Volksfest für Crailsheim?«
»Genau!«
Lisa schwieg auffordernd. »Ja, und siehst du die Hügel da hinten?« Heiko wies auf den linksseitigen Hang, wo sich mehrere Hügel sanft bis zum Waldrand hin wellten. »Mmh?«, machte Lisa.
»Da stellen die Goldbacher ihre Figuren auf. Das sind so Gestelle, wo sie farbige Papierbecher einhängen. Und anders als bei den Hallern und ihrem Sommernachtsfest ergeben die Becher nicht bloß Muster, sondern richtige Figuren. Schaut echt schön aus, da sollten wir unbedingt hin.« Lisa unterdrückte ein Grinsen. Stets war eine latente Konkurrenz zwischen Schwäbisch Hall und Crailsheim zu spüren. Die beiden Städte an Kocher und Jagst, die gleich groß und auch etwa gleich alt waren und dennoch unterschiedlicher nicht sein konnten. Während Schwäbisch Hall mit einer schmucken Altstadt glänzen konnte, war Crailsheim in den letzten paar Kriegstagen zu 92 Prozent dem Erdboden gleichgemacht worden und atmete dementsprechend den zweifelhaften Charme der Fünfziger. Während beide Städte geografisch zu Hohenlohe gerechnet wurden, sahen sich die Crailsheimer als ›echte‹ Hohenloher an, da der Haller Dialekt eher zum Schwäbischen hin tendierte. Und schließlich gab es seit ein paar Jahren einen handfesten Kulturstreit, bei dem Schwäbisch Hall zugegebenermaßen vorne lag – immerhin hatte Hall eine private Kunstakademie und die Kunsthalle Würth. Inzwischen hatten sie den Ortseingang passiert, und Lisa entdeckte außer einer Metallkonstruktion, die wohl bereits für das Lichterfest aufgestellt worden war, ein Hinweisschild auf das ›Freibad‹. »Dieses Kaff hat ein Freibad?«, wunderte sie sich. Heiko bestätigte und referierte: »25-Meter-Becken, solarbeheizt. Wirklich nett! Wenn du willst, schauen wir nachher noch kurz vorbei.« Lisa hatte nichts einzuwenden. Sofern sich keine neuen Erkenntnisse ergäben, könnte man die weiteren Ermittlungen durchaus auf morgen verschieben. Die Ergebnisse der Spurensicherung dauerten sicher auch noch. Und sie hatten sich angewöhnt, bei diesem Wetter immer ihre Badetaschen im Kofferraum zu haben, um nach der Arbeit je nach Laune noch ins kühle Nass hüpfen zu können.
Im Dorf bogen sie nach der Kirche schließlich rechts ab, gerade vor einer Villa im toskanischen Stil, die so gar nicht zum restlichen Ort passte. Schließlich parkten sie vor einem netten Einfamilienhäuschen mit weiß getünchtem Jägerzaun und meterhohen Sonnenblumen im Vorgarten. Die Blumen verströmten ihren charakteristischen ölig-würzigen Duft. Lisa blieb kurz vor dem Anwesen stehen und atmete tief durch. Gut. Die Sonne stand bereits etwas tiefer und übergoss die Szenerie mit goldenem Licht. Das tiefe Blau des Himmels hatte etwas beinah Smaragdfarbenes. Es war Spätnachmittag. Die Ermittler folgten dem adretten Gartenweg und klingelten schließlich an einer Haustür mit Milchglasscheiben. Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür, und eine üppige Frau um die 60 erschien. Ihr Gesicht war rund und reizlos, außergewöhnlich waren allein ihre langen grauen Haare, die sie weder geflochten noch aufgesteckt trug, sondern die ihr wie ein steinerner Vorhang über die Schultern fluteten. Und obwohl sie sonst wenig auffällig war, verliehen ihr die Haare doch etwas Geheimnisvolles, nahezu Magisches. »Ja?«, krächzte sie und räusperte sich gleich anschließend. »Frau … Siegler?«, versuchte Heiko. Die Frau schüttelte den Kopf. »Geborene Siegler. Ich heiße Morgner. Ich bin Witwe.«
»Natürlich. Bitte entschuldigen Sie. Wüst und Luft von der Polizei.« Heiko trat nervös von einem Bein auf das andere. Er war unglaublich schlecht in solchen Dingen. Er wusste einfach nicht, wie er anfangen sollte. Aber Frau Morgner nahm ihm den Einstieg ab.
»Ihr kommt wegen meinem Bruder?«, fragte sie und trat beiseite. »Kommt rein.«
Wenig später saßen die beiden Kommissare an einem Tisch, der so akribisch und geschmackvoll dekoriert war, dass man ihn ohne Probleme genau so, wie er war, für ein Schöner-Wohnen-Magazin hätte ablichten können. In der Mitte thronte ein kunstvolles Gesteck aus echten Blumen. Ikebana, wie Lisa feststellte. Heiko war sichtlich erleichtert gewesen, als er bemerkt hatte, dass die Frau bereits vom Tod ihres Bruders wusste und auch über die Einzelheiten durchaus informiert war.
»Der Hintermanns Heinz hat mich angerufen«, erklärte sie nun, während sie ungefragt zwei Gläser Sprudel vor den Kommissaren abstellte.
»Was hat er denn gesagt, der Herr Hintermann?«, wollte Lisa wissen, griff zum Glas und trank in großen Zügen. Wasser war bei diesem Wetter wirklich das einzig Wahre.
»Dass man den Walter im Wald gefunden hat. Beim Angelvereinsfest. Dass ihn jemand erwürgt hat.«
»Erdrosselt«, präzisierte Heiko, bereute seinen Einwurf aber, als er den entgeisterten Blick der Frau auffing.
»Jedenfalls ist er tot.«
»Wann haben Sie Ihren Bruder denn zum letzten Mal gesehen?«, fragte Heiko. Frau Morgner winkte ab. »Ach. Keine Ahnung. Aber ich kann euch sagen, wer ihn auf dem Gewissen hat. Das erspart euch ein Haufen Gschäft.«
Lisa beugte sich verbindlich vor. »Nämlich?«
Frau Morgner runzelte die Stirn und sagte dann: »Na, die Russenschlampe natürlich. Weiß doch jeder, dass es bei denen Auftragskiller gibt.«
»Na na, Frau Morgner«, tadelte Heiko.
»Bitte, wenn Sie mir nicht glauben! Ich hab nämlich recherchiert!« Sie stand auf und schwang ihre Leibesfülle zu einer Kommode, wo sie schließlich einen dünnen Schnellhefter aus einer der Schubladen zog. »Diese Irina ist nämlich aus dem Katalog«, triumphierte sie und legte den Ordner mit vielsagendem Lächeln auf den Tisch. Lisa zog die Augenbrauen hoch. »Also, ich bitte Sie, Frau Morgner, selbst wenn es so wäre, dann macht sie das noch lange nicht zur Mörderin.« Die Frau schnaubte. »Denen geht es doch nur ums Geld!«, befand sie. »Und wenn der Mann tot ist, kommt sie noch leichter dran. Praktisch, nicht?« Lisa schwieg. Es war wohl wenig sinnvoll, hier zu diskutieren. Sie hatte einmal eine Fernsehreportage über solche Frauen gesehen. Häufig hatten sie in ihren Heimatländern keine Perspektive. Manche von ihnen hatten ein Kind, das sie alleine durchbringen mussten. Viele waren arbeitslos, und in den Schwellenländern und in der Dritten Welt sah es naturgemäß nun einmal schlecht aus mit Sozialleistungen. Hinzu kam, dass von dem ›Taschengeld‹, das ein Mann seiner Frau bezahlte, in der Heimat oft eine Großfamilie ernährt werden konnte. Die Frauen verkauften sich, sicher. Aber sie taten es aus dem Wunsch heraus, sich und ihren Angehörigen ein besseres Leben zu ermöglichen. Dafür opferten sie ihr persönliches Glück. Natürlich war das eine Frage der Prioritätensetzung. Aber so konnte man leicht reden, wenn man im wohlbehüteten Deutschland lebte. Lisa taten Frauen wie Irina leid. Stöhnend ließ sich Frau Morgner jetzt wieder auf ihren Stuhl fallen. »Wissen Sie, ich hab den Namen von dieser Vermittlung einmal aufgeschnappt. Und dann hab ich da hingeschrieben und mich als mein Mann ausgegeben. Und das da haben sie mir geschickt.« Sie wies mit einer energischen Handbewegung auf den Schnellhefter. Heiko nahm das Ding auf und las: »Agentur Sonnenstrahl – bringen Sie Licht und Wärme in Ihr Leben!«
»Dürfen wir das mitnehmen, Frau Morgner?«, fragte Lisa. Ein zufriedenes Lächeln, in dem auch irgendwie Überheblichkeit mitschwang, erschien auf dem runden Gesicht. »Gern. Dafür ist es ja da.« Lisa nickte unverbindlich und steckte den Ordner ein. »Nun gibt es ja sicherlich noch andere Leute, die ein Motiv hätten«, fuhr sie dann fort. »Mit wem hatte Ihr Bruder denn Probleme?« Frau Morgner leckte sich die Lippen, bevor sie antwortete. »Also, ganz ehrlich: Ein Menschenfreund war er nicht. Er war schon recht egozentrisch.«
»Inwiefern?«
»Naja, eigentlich hat er sich so ziemlich mit den meisten angelegt. Auf den Hintermann Heinz war er beispielsweise gar nicht gut zu sprechen, obwohl der ja eigentlich ein echt netter Kerl ist.«
»Und wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder?«
»In Anbetracht der Tatsache, dass ihr das sowieso rausfinden werdet, sag ich es euch lieber selber: Ich persönlich hatte ziemlichen Krach mit ihm, weil er unser Elternhaus verkauft hat. Wisst ihr, so was tut man einfach nicht. Das ist charakterlos.« Heiko wiegte den Kopf hin und her. »Nun, in der heutigen Zeit kann man sich derlei Sentimentalitäten oftmals nicht leisten«, gab er dann zu bedenken. Frau Morgner schnaubte verächtlich. »Darum ging es dem nicht. Der hat bloß einen neuen Mercedes gebraucht, das war alles.«
»Ihr Bruder hat Sie natürlich ausgezahlt?«, vermutete Lisa. Auf dem Gesicht der Morgnerin erschien ein etwas verlegener Ausdruck. »Da ihr auch das rausfinden werdet: Nein, hat er nicht. Er hat mich immer wieder vertröstet. Aber mir war das egal. Ich hab mein kleines Häuschen und die Rente von meinem Mann und damit komme ich ganz gut zurecht.«
»Nun hat sich aber Ihre Chance, an das Geld zu kommen, deutlich erhöht, nicht?«, warf Lisa ein. Frau Morgner grinste unfroh und entblößte dabei einen Goldzahn hinten links. »Ich war’s nicht. Auch wenn er ein ziemlicher Depp war. Umgebracht habe ich ihn nicht. Immerhin war er mein Bruder.«
»Wo waren Sie eigentlich gestern Abend?«, fragte Heiko.
»Ich war beim Landfrauenabend.«
»Was gab’s denn?«, hakte Lisa nach.
»Einen Vortrag über Wildkräuter.«
Irina schrie. Nicht, weil ihr Mann tot war. Sie war selbst überrascht gewesen, wie egal ihr das alles war. Sie hatte diesen Fall in Gedanken durchgespielt, hundertmal, tausendmal. Immer, wenn er zu ihr ins Bett gekommen war. Immer, wenn eine seiner Spinnereien ihr den Tag versaut hatte. Komm nach Deutschland, hatte die Agentur gesagt. Die Männer sind reich. Sie tragen dich auf Händen. Sie hatte kein Problem damit gehabt, dass er alt war. Damit hätte sie leben können. Aber wie er war, damit konnte sie nicht leben. Es war mehr, als sie ertragen konnte. Die russischen Männer waren auch stark. Dominant. Sie tranken zu viel. Walter hatte selten getrunken. Aber er hatte andere Angewohnheiten gehabt, die ein Leben mit ihm zur Hölle machten. Sie hatte sich hundertmal vorgestellt, wie es wäre, einfach in die Küche zu gehen, zum Messerblock, das Fleischmesser herauszunehmen und es ihm in die schmale Brust zu rammen. Voller Genugtuung hatte sie sich ausgemalt, wie ein ungläubiger Ausdruck seinen Blick trüben würde und wie er dann leblos zusammensacken würde. Hundertmal. Aber das war Theorie gewesen. Wie konnte er nur! Jetzt schrie sie, denn das hier war keine Theorie, das hier war die Realität, und der Mörder war schlichtweg durchgeknallt. »Was hast du gemacht?«, brüllte sie ins Telefon, und ihre Stimme überschlug sich. »Was?« Sie wusste, dass ihr Gesprächspartner rauchte. Sie hörte das schmatzende Geräusch, das entstand, wenn man an der Zigarette zog. Das machte sie wütend, nur noch wütender. »Beruhige dich. Ich war’s nicht«, versicherte er.
»Ich glaube dir nicht.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Nahezu hörbares Schulterzucken. Es war ihm egal. Es war belanglos für ihn. Sie atmete tief aus und legte dann einfach auf.
Lisa und Heiko hatten den M3 auf dem kleinen Parkplatz abgestellt und liefen auf den Eingang des Goldbacher Freibades zu. Kinderlachen und lautes Geschrei drangen zu ihnen herüber, dazwischen das Geräusch von Körpern, die ins Wasser platschten. »Und, was hältst du von ihr?«, fragte Lisa. Heiko brummte. Dann meinte er: »Ziemlich abgebrüht, wenn du mich fragst! Aber irgendwie – unehrlich fand ich sie nicht.« Lisa stimmte zu. Sie hatte einen ähnlichen Eindruck von der Frau bekommen. Aber das konnte täuschen, und häufig war am Ende der der Mörder, von dem man es am wenigsten erwartet hatte. Sie betraten einen überdachten, zu den Seiten hin offenen Bau, in Italien hätte man eine solche Konstruktion Loggia genannt, in Hohenlohe eher nicht. In einem kleinen Kabuff saß eine Frau, die 1,50 Euro für den Eintritt kassierte. Dann ging sie zusammen mit den Kommissaren ums Eck, um sich wieder ihrer zweiten Rolle als Kioskverkäuferin zu widmen. »Das ist ja süß!«, befand Lisa, als sie einen ersten Blick auf die Szenerie warf. An den Bierbänken und alten Holztischen des überdachten Kiosks hockten Kinder und aßen Pommes, an einem Tisch saßen sogar mehrere ältere Männer und tranken Bier. Sie trugen auch keine Badekleidung, sondern waren ganz normal angezogen, die meisten mit eher hässlichen Stoffbermudas und T-Shirts oder Hemden. Einige Outfits verrieten, dass die betreffenden Herren offenbar Singles waren, denn keine Frau ließe ihren Mann so herumlaufen. Eine Treppe, die sie nun hinabstiegen, führte zur Liegewiese, rechter Hand befand sich ein winziges rechteckiges Planschbecken, in dem zwei junge Mütter mit ihren Kleinkindern saßen. Hinter einer Hecke entdeckte Lisa das ›Große Becken‹, wie Heiko erläuterte. Es maß wohl 25 Meter in der Länge und vielleicht zehn in der Breite. Etliche Kinder tummelten sich im Wasser, um sie herum paddelten die mehr oder weniger sportlichen Schwimmer. Zwei Bahnen wurden von drei älteren Damen belegt, die hässliche Badekappen trugen, ein Styroporschild auf den Rücken geschnallt hatten und sich strampelnd im Wasser fortbewegten. Sofort verglich Heiko die Frauen mit ertrinkenden Landschildkröten, wurde aber von Lisa mit dem Hinweis, es handele sich um Aqua-Jogging, korrigiert.
Sie wählten einen Platz auf der Liegewiese, der nicht so ›kinderbelastet‹ war, weil er unter hohen Bäumen im Halbschatten lag, und zogen sich um. Während Heiko jedes Mal gleich schwimmen gehen wollte, zog Lisa es vor, sich immer zuerst ein bisschen aufzuwärmen. Und da er ja ein Gentleman war, ließ er sich neben Lisa auf der gemeinsamen Decke nieder. Verhalten streichelte er ihren Rücken, der recht braun gebrannt war. Für eine echte Blondine wurde Lisa ziemlich braun, ihre Haut nahm dann einen sanften Goldton an. Heiko küsste ihren Nacken, und Lisa drehte sich lächelnd zu ihm um. Es war traumhaft schön, hier zu liegen, an diesem Hochsommertag, in der Sonne, in der Nähe einer zwar künstlichen Wasserfläche, trotzdem konnte man sich mit ein wenig Fantasie ausmalen, in südlichen Gefilden zu sein. Lisa zog etwas aus ihrer Badetasche, Heiko erkannte den Schnellhefter, den die Morgnerin ihnen gegeben hatte. Er stöhnte, schon wieder Arbeit, er hatte sich doch mindestens ein, zwei Stunden seine Ruhe gewünscht. Aber natürlich hatte Lisa recht, es war vernünftig, so schnell wie möglich so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Lisa schlug geräuschvoll den Ordner auf, und Heiko schloss die Augen. Ein warmer Wind strich durch sein Haar, und er genoss den Moment.
»Sieh dir das an!«, forderte Lisa.
»Lies vor!«, bat Heiko, unwillig, die Augen zu öffnen.
Lisa begann zu lesen: »Herzlich willkommen bei der Agentur Sonnenstrahl, wo auch Sie Ihre Traumpartnerin finden werden. Für jeden Mann gibt es bei uns die richtige Frau, bitte wählen Sie aus unseren zahlreichen Partnervorschlägen und fordern Sie unser unverbindliches Angebot an.« Lisa blätterte die Seite um und lachte dann laut auf. »Das ist unglaublich! Das musst du dir ansehen!« Heiko öffnete nun doch widerstrebend die Augen und rollte sich herum, sodass er direkt neben seiner Freundin zu liegen kam. Und wirklich konnte er kaum glauben, was er da sah. Neben dem Foto einer überaus hübschen, vielleicht 20-jährigen Brasilianerin stand: »Die Brasilianerin. Die Brasilianerin ist von Natur aus sehr temperamentvoll und sinnlich. Gleichzeitig sind diese Frauen auch überaus lebenslustig und liebevoll und können gut tanzen. Eine Brasilianerin bringt Leben in Ihr Heim und wird Ihnen eine fröhliche, immer glückliche Partnerin sein!« Darunter war eine Frau mit kleiner Nase und sehr hellem Teint abgebildet. Dabei stand: »Die Russin. Die Russin ist eine sehr warmherzige Frau, die Ihr Leben mit Freude und Zufriedenheit füllt. Die Russin ist außerdem bemüht, ihrem Mann das Leben so behaglich wir nur irgend möglich zu machen, und akzeptiert seine Entscheidungen. Die Russin hat auch ein besonderes Gespür dafür, ihr Heim geschmackvoll zu dekorieren und ist eine fleißige Hausfrau und liebevolle Mutter.«
Das nächste Bild zeigte eine schwarze Afrikanerin mit kleinen Zöpfen. Heiko las: »Die Afrikanerin. Geheimnisvoll wie die Nacht ist die Afrikanerin. Ihre sinnliche Ausstrahlung verzaubert jeden Mann. Die Afrikanerin ist von Natur aus anschmiegsam und fühlt sich gerne geborgen, genauso, wie sie selbst auch gerne Geborgenheit gibt. Die Afrikanerin verstellt sich nicht und ist immer ehrlich, dabei aber durchaus in der Lage, auf die Wünsche und Bedürfnisse eines Mannes einzugehen.« Heiko schüttelte fassungslos den Kopf. »Weißt du, woran mich das erinnert?«
»Hm?«
»Als Kind hatte ich ein Buch über Hunderassen. Da waren ganz ähnliche Beschreibungen drin.« Lisa nickte. »Ja, genau den Eindruck hatte ich auch.« Sie blätterte weiter und überflog die geschmacklosen Worte über das Wesen der Thailänderin, der Philippina, der Polin, der Rumänin, der Chinesin und der Vietnamesin. Danach folgten diverse konkrete Partnervorschläge, Frauen aller ›Rassen‹, die mehr oder weniger schüchtern in die Kamera lächelten, die meisten blutjung und hübsch, viele mit Angaben zu Körpermaßen und Vorzügen, die wenigsten mit eigenen Forderungen. Lisa taten all diese Frauen plötzlich wahnsinnig leid. Denn diese Farce war wohl ihre einzige Chance, einem ärmlichen Dasein zu entkommen. »Mir wird schlecht.« Heiko streichelte Lisas Rücken. »Ja, denk immer daran, nicht jeder kriegt einen solchen Prachtkerl wie du.« Lisa schnaubte. »Ja, genau. Ein barbarischer schwäbischer Schweinebauer wie du kann froh sein, dass er mit einer solch kultivierten Frau wie mir liiert sein darf.« Heiko grinste. Lisas Mutter war auch nach anderthalb Jahren noch nicht davon abzubringen, dass ihr Schwiegersohn in spe ein schwäbischer Bauernlümmel sei. »Wenn du nicht lieb bist, wirst du nachher getunkt.« Lisa blickte ihn herausfordernd an. »Das würdest du niemals wagen.«
Kurze Zeit später schwammen die beiden ein paar Bahnen im kalten, aber klaren Wasser. Heiko hatte nach einem strengen Blick seiner Freundin tatsächlich darauf verzichtet, sie zu ›tunken‹, und nun zogen beide relativ unabhängig voneinander ihre Bahnen und genossen die Bewegung und die Schwerelosigkeit.
Als sie aus dem Wasser stiegen, entdeckte Heiko glitzernde Wassertropfen auf Lisas Körper. Sie perlten auf der gebräunten Haut rund um den pinkfarbenen Bikini herunter. Lisa lächelte ihm verführerisch zu, als sie Hand in Hand miteinander zu ihrem Liegeplatz gingen. Heiko war froh, dass er Lisa hatte. Und es war damals gar nicht leicht gewesen, sie zu erobern. Immerhin war ihr Ex aufgekreuzt, und Simon und Uwe wären auch nicht abgeneigt gewesen. Aber mit seinem Hohenloher Charme und einem Höchstmaß an taktischer Klugheit hatte Heiko das Rennen gemacht. Und darüber war er sehr froh. Er liebte Lisa, das wusste er, und das konnte er von nicht vielen Frauen in seinem Leben sagen. Sicher, er hatte Affären gehabt, Liebschaften, One-Night-Stands. War ja nicht so, dass die Frauen ihn nicht mochten. Aber das mit Lisa, das war etwas ganz Besonderes. Er beobachtete sie, wie sie ihre lange blonde Mähne ausschüttelte und trocken rubbelte. Schön war sie, seine Lisa, sehr schön. »Was denkst du?«, fragte Lisa, und Heiko lächelte verlegen. »Ich überlege gerade, ob wir nicht einen Kaffee trinken sollen«, log er.
»Gute Idee«, fand Lisa.
Bald darauf saß das junge Paar, halbwegs bekleidet, unter dem schattigen Kioskdach, ganz in der Nähe von mehreren pummeligen Achtjährigen, die begeistert Pommes mampften. Außerdem nicht unweit des improvisierten Stammtisches. »Die sind nicht zum Schwimmen da, oder?«, vermutete Lisa und wies dezent auf die Herren mit den Hefeweizen.
»Nein. Die halten hier ein gemütliches Beisammensein ab.«
»Du meinst ein kollektives Feierabendbesäufnis«, stellte Lisa richtig. Heiko grinste. »So könnte man das auch sehen. Denen bleibt aber auch nichts anderes übrig, als sich hier im Freibad zu treffen. In Goldbach gibt es nämlich keine Kneipe mehr, und von der nächstgelegenen kann man schlecht heimlaufen.« Die Bedienung kam, und Heiko bestellte einen Kaffee, während Lisa sich für Eiskaffee entschied. Latte Macchiato gab es ja nicht.
»Des is sou a Sach mim Walter«, schallte es vom Stammtisch herüber. Die Kommissare horchten auf. »Die Lilli wird sicher ununterbrochen heulen, die alte Kuh«, konstatierte ein anderer.
»Ach, sei nicht so gemein. Das mit der Lilli ist auch tragisch«, rügte der Dritte. »Quatsch, die ist doch selber schuld«, befand wiederum der Erste. Heiko und Lisa wechselten einen kurzen Blick, bevor sie aufstanden und sich zu den Herren gesellten. Die blickten fragend und etwas unwillig auf, als sie die Störung bemerkten. »Ja?«, meinte der Erste. Er war vielleicht Mitte 40 und trug das blonde, sehr volle Haar zum Mittelscheitel frisiert.
»Entschuldigt, wir haben da grad was aufgeschnappt. Uns geht’s auch um den Herrn Siegler, und wir wollten fragen, ob ihr uns weiterhelfen könntet?«, begann Heiko. »Was geht euch denn der Siegler an?«, brummte der Zweite unwirsch. Er war klein und dicklich und trug ein durch und durch geschmackloses Hawaiihemd. Wohl einer von denen, die zu Hause keine weibliche Hand hatten, sinnierte Lisa. Eine Fliege setzte sich auf seiner schweißnassen Stirn nieder. Er verscheuchte sie mit einer ungeduldigen Bewegung seiner wulstigen Finger. »Wenn das jemanden was angeht, dann uns«, hielt Heiko dagegen. »Wir sind nämlich die ermittelnden Kommissare.« Sofort nahmen die dicklichen Züge einen devoten Ausdruck an, und der Mann hob relativierend die Hände. »Ou, da müsst ihr entschuldigen. Des kann mer ja net wissen. Es gibt ja so viel neugierige Leut heutzutag.« Lisa unterdrückte die Bemerkung, dass drei davon ja wohl hier saßen. Sie wunderte sich allerdings nicht im Geringsten, dass der Mord schon jetzt, etwa sechs Stunden nach seiner Entdeckung, ein Thema im Freibad war. Denn sie wusste seit ihrem ersten Mordfall um das Informantennetz, das immer dann in Aktion trat, wenn mehr oder weniger weltbewegende Neuigkeiten zu vermelden waren. Heiko stellte sich und Lisa vor, und die Stammtischler folgten seinem Beispiel. Aus den Augenwinkeln registrierte er außerdem, dass die Bedienung die Getränke an ihren ursprünglichen Tisch brachte. Der blonde Mittelscheitel hieß Mauser, der schwitzende Dicke Bittlinger und der Dritte, der bisher eher still gewesen war, nannte sich Wegner.
»Uns würde interessieren, von wem ihr gerade gesprochen habt?«, begann Heiko und lehnte sich mit herrschaftlicher Pose in den knarzenden Stuhl zurück. Die drei Herren wechselten einen Blick, bevor Wegner, ein älterer Herr mit gewaltigen silberfarbenen Koteletten, antwortete: »Es ging um die Lilli. Die Frau Hegenbach.« Heiko forderte ihn mit einem Wedeln seiner Hand zum Weiterreden auf. Der Mann sog hörbar die Luft ein und sprach dann weiter: »Ja, die Hegenbacher Lilli, die war mit dem Walter liiert.«
»Vor ewigen Zeiten«, gab Mauser zu bedenken und hob aufmerksamkeitsheischend den dürren Zeigefinger. »Vor 30 Jahren«, präzisierte er anschließend. Heiko zog die Augenbrauen hoch.
»Und?«
»Die Leute sagen, der Walter hätte Schluss gemacht. Und sie hätte trotzdem auf ihn gewartet. Immer. Die ganze Zeit.«
»30 Jahre lang, um genau zu sein«, fügte der Erste hinzu. Sogleich fühlte sich Lisa an das Lied ›En el muele de San Blas‹ erinnert, an die tragische, durchaus authentische Geschichte von einer jungen Frau, die an der Mole von San Blas auf ihren Geliebten wartet, der ihr ja versprochen hat, zurückzukommen. Sie wartet und wartet, aber er kommt nicht. Und sie wird darüber alt, aber sie verliebt sich in das Meer. Lisa musste immer heulen, wenn sie das Lied hörte, immer. Nur daran zu denken, verursachte ihr schon eine Gänsehaut. »Und warum?«, hakte Heiko nach.
»Die liebt ihn halt. Hat ihn geliebt«, meinte Mauser, und sein Blick bekam etwas Träumerisches.
Der Dicke schnalzte mit der Zunge. »Also bitte. So doof kann mer doch net sein!«
»Außerdem hat die fette Morgnerin sie ja immer noch angestachelt«, gab Bittlinger zu bedenken. »Inwiefern?«, fragte Heiko.
»Na, die hat immer auf die reingeschwätzt, dass sich der Walter schon noch besinnen wird und so. Die beiden sind beste Freundinnen.« Lisa runzelte die Stirn. Komisch, dass Frau Morgner davon gar nichts erwähnt hatte. Vielleicht aus gutem Grund? Sie wechselte einen Blick mit Heiko, der offenbar einen ähnlichen Gedanken hatte.
»Und die Irina?«, versuchte Heiko.
»Ja, mit der tät ich au mal gern!«, lachte Wegner und grinste dabei vielsagend. »Also, die ist wohl freiwillig bei ihm geblieben!«, gab Bittlinger zu bedenken. »Ich hab nämlich mal gehört, dass die Katalogtussis drei Jahre lang verheiratet sein müssen, bevor sie die deutsche Staatsbürgerschaft kriegen. Und darum geht’s ja den meisten.«
»Und die Sieglers waren schon wie lange zusammen?«, insistierte Heiko.
»Och. Vier Jahre? Fünf? Irgendwie so.« Die anderen bestätigten durch nachdenkliches Nicken. »Der hat sich um die Lilli überhaupt nicht mehr geschert. Und dann, so vor fünf Jahren, hatte er die Idee mit der Katalogfrau. Alt bin ich selber, hat er damals gesagt, dann will ich wenigstens eine Junge.«
»Der war ja auch sonst kein Kostverächter. Hat immer mitgenommen, was gegangen ist!«, schaltete sich nun Wegner wieder ein. Ein bisschen erinnerte er Lisa an Petrosilius Zwackelmann aus dem ›Räuber Hotzenplotz‹. »Hm«, machte Heiko. ›Hm‹ war die hohenlohische Universaläußerung und konnte einfach alles bedeuten. Geübten Hohenlohern erschloss sich die Bedeutung eines jeden ›Hms‹ aus den fein intonierten Nuancen, in denen es gesprochen oder gebrummt wurde. Auch Lisa war inzwischen besser darin geworden, die einzelnen ›Hms‹ zu interpretieren. Perfekt war sie noch nicht.
»Und sonst? Hatte er Feinde?«
»Also, was einige ihm übel genommen haben: dass er das Lichterfest abschaffen wollte«, erläuterte der Dicke. Heiko zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Der Walter war ja auch Ortsvorsteher.«
»Ortsvorsteher?«, fragte Lisa verständnislos.
»Sozusagen Bürgermeister vom Dorf«, erläuterte Heiko.
»Und in seiner Rolle als Ortsvorsteher hat er eben laut darüber nachgedacht, ob man das Lichterfest nicht abschaffen sollte, weil es in den letzten Jahren ein paarmal geregnet hat und das Ganze ein totales Fiasko war.«
»Aber das kann er doch nicht ernst gemeint haben!«, ereiferte sich nun sogar Heiko. »Das Lichterfest ist eine Institution! Das kann man nicht so einfach abschaffen!« Der Dicke haute mit der flachen Hand auf den Tisch, dass das Bier in den Gläsern schwappte. »Das finde ich auch. Aber der Walter war halt so. Der wollte seine Ideen immer durchdrücken.«
»Vielleicht ist ihm ja grade das zum Verhängnis geworden«, gab Wegner zu bedenken.
»Vielleicht«, meinte Heiko unverbindlich. »Fällt Ihnen sonst noch was ein?« Nach einer Weile schüttelten die Herren einvernehmlich die Köpfe. »Na, dann bedanken wir uns recht schön«, meinte Heiko, und er und Lisa erhoben sich, setzten sich zurück an ihren eigentlichen Platz und widmeten sich endlich dem schon etwas lauwarmen Kaffee und dem auch nicht mehr ganz so eisigen Eiskaffee. »Na, was denkst du?«, fragte Heiko seine Freundin, die nachdenklich an ihrem Röhrchen schlürfte und gedankenverloren im Vanilleeis stocherte. Lisa leckte sich die Lippen, bevor sie antwortete. Die schönen, vollen, küssenswerten Lippen. Heiko drückte einen flüchtigen Kuss darauf. »Also, wenn du mich fragst, ist es etwas verwunderlich, dass Frau Morgner gar nichts von der Verflossenen erzählt hat.« Heiko nahm einen Schluck Kaffee. Obwohl er nicht mehr ganz heiß war, war er gut und stark. »Na ja«, gab er zu bedenken, »für die steht eben der Mörder schon fest.«
»Du meinst die MörderIN«, korrigierte Lisa. »Beziehungsweise diejenige, die den russischen Auftragskiller angeheuert hat.«
Heiko grinste. »Also, das ist schon reichlich abstrus.«
Lisa zuckte die Schultern. »Bei aller Toleranz aber immerhin eine Möglichkeit, das musst du zugeben.«
»Na. Sind ja auch nicht alle Italiener bei der Mafia.«
»Aber manche«, beharrte Lisa. »Ich bin bestimmt der letzte Mensch auf der Welt, der mit Menschen mit Migrationshintergrund ein Problem hat.« Heiko blinzelte. Ach ja. Menschen mit Migrationshintergrund. Das war der neue Begriff, den man als Beamter benutzen musste, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, als latenter Nazi abgestempelt zu werden. Dabei kannte Heiko keinen einzigen Ausländer, der sich selbst als ›Mensch mit Migrationshintergrund‹ bezeichnete. War auch kein Wunder, da war ja der Tag vorbei, bis man das ausgesprochen hatte. Und Lisa war ganz bestimmt nicht ausländerfeindlich, immerhin zählten zum Kreis ihrer Exfreunde ein Latino und ein Araber, woraus unter anderem ihre hervorragenden Fremdsprachenkenntnisse resultierten. »Es gibt aber durchaus solche Strukturen in manchen Volksgruppen, das musst du zugeben«, beharrte Lisa. Heiko brummte. Konnte alles sein, oder auch nicht. »Jedenfalls ist diese Frau Hegenbach interessant, oder findest du nicht?« Lisa bestätigte durch Nicken und schlürfte wieder Eiskaffee. »Lass uns doch grad noch kurz bei der vorbeigehen.« Der Kommissar brummte. »Oder hast du eine bessere Idee?«
»Feierabend?«, schlug Heiko, halb im Spaß, vor.
»Komm, das packen wir noch«, bestimmte Lisa.
Eine halbe Stunde später standen die beiden vor dem Haus von Lilli Hegenbach, das nicht weit von dem der Morgnerin gelegen war. Der Himmel hatte sich inzwischen leicht zugezogen, weiße Wolkenfetzen waberten umher, und trotzdem waren das Vogelgezwitscher und das Zirpen der Grillen allgegenwärtig. Schon etwas verdächtig, dass die Frau gänzlich unerwähnt geblieben war. Nun, wenn es sich dabei um beste Freundinnen handelte, war es andererseits verständlich, dass die eine die andere nicht bei der Polizei anschwärzen wollte. Heiko und Lisa betrachteten die moderne Haustür, die so gar nicht zu dem quaderförmigen kleinen 50er-Jahre-Haus passen wollte. Im Vorgarten war allerlei Dekokitsch aufgestellt, mal mit mehr, mal mit weniger Geschmack. Die Türmatte war mit dem Namen der Bewohnerin bedruckt. In Schnörkelschrift. Wie einfallsreich, dachte sich Lisa, und ein klein bisschen tat ihr die Frau leid. Sie hatte so eine Ahnung, dass es sich da um eine sehr unglückliche Person handeln musste. Wie die Alte in Muele de San Blas. Als sich nichts tat, trat Lisa einen Schritt zur Seite und blickte durch das Fenster in den erstbesten Raum hinein. Es dauerte einige Sekunden, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Was sie aber dann sah, veranlasste Lisa, augenblicklich Heiko zuzurufen, er solle die Tür eintreten, während sie ihr Handy zückte und eine Nummer wählte.
Die Tür flog mühelos aus dem Schloss. Mit einer Hand an der Dienstwaffe stürmten die beiden in den Raum, der durch das Fenster einsehbar gewesen war. Es handelte sich um die Küche. Es war eine alte Küche, in Beige, mit orangegrünen Ranken auf den Fliesen und hellen Massivholzfronten. Ein Küchentisch mit einer langweiligen Wachstischdecke stand zentral im Raum. Und auf dem hellen gefliesten Boden lag eine Frau. Auf den ersten Blick schien sie tot zu sein. »Den Notarzt bitte«, sagte Lisa gerade in ihr Handy, während sich Heiko neben den leblosen Körper kniete und am Hals nach einem Puls fühlte. Lisa nannte die Adresse und sah gleichzeitig fragend Heiko an. Der nickte aufgeregt und bedeutete, dass die Frau noch am Leben war. »Machen Sie schnell«, sagte Lisa, bevor sie noch ein paar Informationen gab und dann auflegte.
Die Minuten vergingen, und der Atem der Frau flatterte, aber ihr Puls ging regelmäßig. Lisa betrachtete die Liegende. Sie war früher einmal sicher hübsch gewesen. Nun war sie ausgezehrt, in jeder Hinsicht. Gram und Kummer hatten ihre Haltung gekrümmt, das war sogar jetzt, im Liegen, zu erahnen. Dunkelgraue Strähnen hatten sich aus ihrer sonst sehr ordentlichen Frisur gelöst. Die Hegenbacherin trug ein Twinset, das an jeder anderen Frau adrett gewirkt hätte. An ihr sah es irgendwie trist aus. Die Frau, auch die ganze Wohnung, schien eines auszustrahlen: Warten. Warten auf das Glück. Auf das Leben. Wie tragisch, fand Lisa.
Minuten später beugte sich ein junger Mann im hellroten Kittel des Notarztes über die am Boden liegende Frau. Seine drei Assistenten standen mit großen Taschen in den Händen herum. Der Mann zückte eine Taschenlampe und öffnete eines der Lider der Frau, um ihr dann ins Auge zu leuchten. Er schien nicht völlig zufrieden, aber auch nicht gänzlich beunruhigt. »Also toll ist das nicht«, urteilte er dann. Einer der Rettungshelfer hatte ein Päckchen von der seitlichen Ablage erbeutet und reichte es dem Arzt. ›Dormiben‹, las der. Auf den Zügen des jungen Arztes zeichnete sich nun doch Besorgnis ab. »Wir müssen schnell sein! Infusion!«, wies er an und gefühlte drei Sekunden später tröpfelte eine klare Flüssigkeit in den Kreislauf der Patientin. »Frau Hegenbach? Hören Sie mich?«, fragte der Notarzt sehr laut. Die Lider flatterten unstet, aber eine echte Reaktion blieb aus. »Wird sie es schaffen?«, fragte nun Lisa. Auch Heiko hoffte es inständig. Er hasste solche Situationen. Neben einer Leiche zu stehen, war schon hart für ihn, aber lange nicht so aufwühlend. Denn die Leiche war schon tot. Diese Frau da war noch am Leben. Das hieß, man konnte etwas falsch machen und wäre schuld an ihrem Tod. Aber sie hatten ja nichts falsch gemacht. Sie hatten im Gegenteil alles richtig gemacht, indem sie gestürmt und den Arzt gerufen hatten. »Kann ich noch nicht sagen«, antwortete der Arzt. Er bedeutete seinen Helfern, die Frau auf die Trage zu legen, und trat beiseite. »Wenn sie es schafft, dann könnt ihr aber sicher sein, dass ihr der Frau das Leben gerettet habt. Eine halbe, dreiviertel Stunde später wäre sie garantiert weg gewesen.« Heiko war plötzlich sehr froh, dass sie sich gegen eine weitere Runde Schwimmen und für den spontanen Besuch entschieden hatten.
Als die Rettungssanitäter mit der Liege aus dem Haus kamen, hetzte gerade die Morgnerin die Straße herauf. Echte Besorgnis zeichnete sich auf ihren Zügen ab. Sie schlug die Hände vor den Mund und rief laut den Namen ihrer Freundin. Endlich war sie bei der Trage, wechselte ein paar Worte mit den Assistenten und stieg dann zu ihrer Freundin in den Rettungswagen. Lisa sah sich um und bemerkte, wie sich in den Fenstern der umliegenden Häuser verstohlen die Vorhänge bewegten. Ein Mann aus dem Garten gegenüber starrte sogar ganz ungeniert herüber. Was besonders grotesk aussah, weil eine hüfthohe Hecke das Grundstück umschloss und der Mann somit große Ähnlichkeit mit einem Foto einer Dame ohne Unterleib hatte, die in einem von Lisas Schulbüchern eine Kurzgeschichte geschmückt hatte. Ah. Das war also das Informantennetz, stellte Lisa fest. Die Tür des Rettungswagens fiel schnarrend ins Schloss, und mit Blaulicht und Sirene wurde Lilli Hegenbach ins Krankenhaus gefahren.
Lisa und Heiko verschnauften im Kaffee Kett auf dem Crailsheimer Schweinemarktplatz. Lisa trug noch immer ihr grünes Kleid, fror aber selbst jetzt, da sich die Röte der Abenddämmerung über die Szenerie legte, nicht. Es war ein schöner Sommerabend, und aus den Blumenkübeln, oder besser gesagt: Aus den Baumkübeln zirpten die Grillen. Lisa nippte an ihrem Erdbeersaft, während Heiko ein ganz normales Cola bestellt hatte. Manchmal brauchte er diesen kalten Koffeinkick. Außerdem taten sich beide an einem Toast Hawaii gütlich, den der Inhaber des Kaffee Kett ganz hervorragend beherrschte.
»Das ist ein Schuldeingeständnis«, vermutete Lisa. »Oder eine Verzweiflungstat.«
Heiko wiegte den Kopf. »Hoffen wir, dass wir es bald erfahren werden.«
»Was glaubst du?«
»Also ich weiß nicht. Kannst du dir vorstellen, dass diese Frau sich aus dem Hinterhalt auf Siegler hechtet und ihn erdrosselt?« Lisa trank einen Schluck von dem Saft, der ungefähr die Farbe ihrer Lippen hatte. »Aus Liebe wird schnell Hass«, gab sie zu bedenken. »Überleg mal, ich würde mit dir Schluss machen.« Heikos Lächeln blieb, aber innerlich wollte er gar nicht daran denken. Das wäre keine gute Idee. Denn ohne Lisa wäre das Leben nur noch halb so schön. Er war sehr glücklich mit ihr, sehr, und er konnte sich nicht vorstellen, dass es eine Frau gab, die besser für ihn war. »Rein hypothetisch«, beruhigte Lisa, die offenbar wieder mal Gedanken lesen konnte. »Und dann würde ich dich hinhalten, immer wieder sagen, wer weiß, vielleicht, mal schauen, Jahr um Jahr, und du würdest älter und älter werden, hättest keine Kinder …« – gut, damit könnte Heiko leben – »und irgendwann wäre dein Leben gelaufen. Gibt es dann einen Moment, einen Punkt, wo man das feststellt?« Heiko grübelte. Vielleicht. Vielleicht nicht. Schwer zu sagen. »Ich kann mir jedenfalls vorstellen«, fuhr Lisa fort, »dass so jemand einen ziemlichen Hass auf die Person kriegt, die ihn beziehungsweise sie quasi um das ganze Leben betrogen hat.«
»Naja«, unterbrach Heiko den pathetischen Redeschwall, »irgendwie ist sie doch aber selbst schuld. Sie hätte ja nicht auf ihn warten müssen.«
»Nein, das hätte sie nicht«, gab Lisa zu. »Aber wenn sie ihn doch geliebt hat?«
»Da kann er ja nichts dafür.«
»Du hast schon recht. Trotzdem. Es wäre ein Motiv.«
»Wir müssen warten, bis die Frau aufwacht.«
»Ja. Wenn sie aufwacht.«
Heiko schloss die Tür auf. Sofort stand Sita neben ihm und taxierte ihn mit vorwurfsvollen Blicken. Die Rauhaardackelhündin war immer gar so beleidigt, wenn er sie lange alleine ließ. Alfred, der Deutsche Riesenschecke, der seit dem Mord am Kleintierzüchter Rudolf Weidner bei ihm wohnte, war da genügsamer. Momentan wohnte Alfred auf dem Balkon, da es Sommer war. Heiko streichelte Sita, und gemeinsam gingen die beiden hinaus auf den Balkon zu Alfreds Käfig. Nach etwa einem Jahr war der riesige Hase ausgewachsen gewesen. Seine Ohren maßen nun gute 30 cm, Lisa hatte spaßeshalber einmal nachgemessen. Das ganze Vieh war über einen halben Meter lang. Eigentlich war Sita nicht viel größer. Und die beiden Tiere verstanden sich ausnehmend gut, gerade jetzt begrüßte Sita ihren Kumpel durch lautes freudiges Schnauben und Schwanzwedeln. Obwohl sie so verschieden waren. Heiko umklammerte den riesigen Löwenzahn, den er auf dem Heimweg noch schnell gepflückt hatte. Das gewaltige Kaninchen hatte ihn bereits entdeckt und stemmte seine Pfoten, oder eigentlich musste man sagen: seine Tatzen, gegen das Gitter. Heiko musste immer lachen, wenn Alfred so erwartungsvoll tat. Er entfernte den Stein vom Käfig und öffnete die Klappe. Es lag immer ein Stein auf dem Käfig. Und außerdem waren die Ecken der Behausung rundherum mit Draht festgezurrt. Und schließlich war noch der Käfig mit der Unterschale durch Draht verbunden. Heiko hatte dazu extra ein Loch in das Plastik bohren müssen. All das war nötig, weil Alfreds liebstes Hobby das Ausbrechen war. Und er hatte verschiedene Möglichkeiten entdeckt und erfolgreich probiert: Anheben der Klappe mit der schwarzen Schnauze, ›Aufziehen‹ der Käfigwand mit den Krallen, zuletzt hatte er herausgefunden, dass das Oberteil nur lose auf der Plastikwanne saß und hatte so lange dagegengestupst, bis es sich beim Herunterfallen so weit verschoben hatte, dass er ausbrechen konnte. Alfred war kreativ. Aber Heiko hatte jeden seiner Versuche mit einer Sicherheitsmaßnahme beantwortet, und momentan stand es 3:3. Und vor allem den Draht zwischen Käfig und Plastikwanne entdeckte der Hase nicht. Dabei war es nicht so, dass er keinen Auslauf hatte. Heiko ließ ihn auf dem Balkon oder auch mal in der Wohnung laufen, sooft es ging. Er war nur gerne dabei, wegen der Bussarde. Denn obwohl es für einen erwachsenen Mann etwas kindisch war, ein Kaninchen liebzuhaben – Alfred würde ihm schon fehlen. Er streichelte den Kopf mit den mahlenden Kiefern, die mit unglaublicher Geschwindigkeit den Löwenzahn vernichteten. Mit Lisas Kater Garfield dagegen kam er überhaupt nicht klar. Das Vieh konnte ihm gestohlen bleiben, denn die Katze hasste ihn bis aufs Blut, weil sie wahnsinnig eifersüchtig war. Heiko war eben auch ein Hundemensch. Nachdem er auch Sita, die die ganze Zeit anklagend danebengestanden hatte, gefüttert hatte, legte er ihr das Halsband um und machte mit ihr einen ausgedehnten Spaziergang.
Der junge Mann triumphierte. Das geschah dem Alten ganz recht. Es war nicht unbedingt so, dass er sein Leben zerstört hätte. Das wäre definitiv zu viel gesagt. Aber man konnte durchaus sagen, er hatte verschiedene Dinge verzögert. Angenehme Dinge. Einfach hinausgeschoben. Dinge, auf die er jetzt warten musste, länger als seine Kumpels, länger als nötig. Nicht zuletzt verschlechterte das Ganze seine Chancen bei den Frauen. Es ging ihm ja nicht darum, eine großmächtige Beziehung zu haben. So mit Verlobung nach einiger Zeit und so. Noch nicht. Später einmal ja. Dafür war er gerade aber definitiv noch zu jung. Momentan ging es ihm um andere Sachen. Er würde nämlich schon mal gern zum Zug kommen. Nicht, dass es ungewöhnlich gewesen wäre, mit 19 noch Jungfrau zu sein. Da hatte er kein Problem damit. Seine Kumpels taten zwar alle so, aber von all den Storys, die sie so zum Besten gaben, stimmte maximal die Hälfte, maximal, das wusste der junge Mann. Er machte sich keinen Stress. Aber das, was der alte Sack ihm weggenommen hatte, hätte seinen Teil zu diesem Projekt, mal eine aufzureißen, beigetragen, da war er sich ganz sicher. Und deshalb geschah es dem alten Sack recht, ganz recht. Er wusste zwar, dass es nicht okay war, geradezu unanständig. Aber erst gestern, als es klar gewesen war, auf dem Angelvereinsfest, da hatte er sich dabei erwischt, wie er sich ausgemalt hatte, wie die Kette in den dürren Hals eingeschnitten und ihn zugezogen hatte. Und er hatte sich irgendwie darüber gefreut.