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Entschlossen

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Manon schrieb einen englischen Satz an die Tafel und hörte hinter ihrem Rücken einige Schüler aufgeregt flüstern. Hatte ihre Lehrerin einen Fehler gemacht? Sollten sie ihr das sagen? Maike traute sich. „Frau Jenin, sie haben das Wort falsch geschrieben. Am Ende kommt ein kleines t.“

Manon, nahm einen Meter Abstand zur Tafel. „Ach, tatsächlich.“ Mit einem Lappen wischte sie den letzten Buchstaben weg, korrigierte den Fehler. Beschämend, dachte sie: Wo bin ich nur mit meinen Gedanken? Ein großes ‚T’ für meinen Tom?

„Gut aufgepasst Maike. Das habe ich extra verkehrt geschrieben, ich wollte sehen, ob ihr es merkt.“

Diese Ausrede stieß bei den Schülern auf heftige Kritik.

„Frau Jenin“, entgegnete Frederik. „Jetzt wissen wir demnächst nicht, ob ein Wort, das Sie an die Tafel schreiben richtig oder falsch ist.“

Manon kam in Erklärungsnöte.

„Da habt ihr recht. Das war ein einmaliger Test, den ich nicht wiederhole. Demnächst schreibe ich alles richtig und ist ein Wort verkehrt, dann habe ich mich wirklich vertan.“ Konnten die Kinder mit dieser Erklärung zufrieden sein? Irritierte das die Schüler? Schnell ging sie darüber hinweg.

„So, noch eure Hausaufgaben: Lernt bitte die Vokabeln von Kapitel drei. Darüber schreiben wir in der nächsten Stunde einen Vokabeltest.“

Murren unter den Schülern. Manon verließ die Klasse, mit Gedanken über ihr Verhalten: Warum hast du nicht einfach gesagt, entschuldigt, es war mein Fehler?

Froh den Arbeitstag beendet zu haben, betrat sie den Lehrerraum. Sie platzte hinein in eine erregte Diskussion über Vertretungsstunden.

Alle verstummten, schauten ihre Kollegin an, als hätten sie die Lösung gefunden.

Direktor Baumann brach die Stille. „Ach Frau Jenin, wir sind in Nöten, Frau Willems ist kurzfristig wegen Krankheit ausgefallen, wir bitten sie, die nächsten zwei Stunden Englisch in der Klasse 4A zu übernehmen.“

Der Direktor schaute sie eindringlich an.

Dieser fordernde Blick, dachte Manon, sei ein Grund mehr die Überstunden abzulehnen. Will er mich damit einschüchtern? Dann sah sie ihre Kollegen mit gepressten Lippen, hochgezogen Augenbrauen, aufgerissen Augen, erwartungsvoll am runden Tisch sitzen. Den flehenden Blicken des Kollegiums nicht mehr fähig Widerstand zu leisten, stimmte sie widerwillig zu.

„Ach, ihr seid gemein. Ihr mit euren bettelnden Hundeaugen.“

Aufatmen im Kollegium.

„Danke, Manon.“

Das wichtigste für die Schulleitung: Die Schüler noch zwei Stunden zu binden, ehe die berufstätigen Mütter oder Väter ihren Nachwuchs abholten. Und es reduzierte die Ausfall-Statistik.

Manon stand vor den Schülern der 4A, eine unruhige Klasse. Kinder, unkonzentriert und zappelig, eine Folge übermäßigen Computer- und Handykonsums. Mehrmals musste sie ihre Sätze wiederholen, damit es bei dem einen oder anderen ankam. Die übervisualisierte, blitzende und donnernde digitale Welt beherrschte ihre Gehirne dermaßen, dass sie keine innere Ruhe fanden. Oft wurden die Eltern angesprochen, den Konsum zu beschränken, gerade in diesem Alter. Es blieb wirkungslos. Sehr frustrierend. Manon fehlte die Kraft, die lärmende Klasse zur Raison zu bringen. Entnervt überstand sie die undisziplinierte 4A.

Manon klemmte ihre Tasche in den Gepäckträger des Fahrrads. Während der Fahrt dachte sie: Immer muss ich herhalten. Wieso sage ich nicht einfach nein, es geht nicht mehr? So lief es seit Jahren.

Zu Hause spürte sie die Anstrengungen des Arbeitstages, schlich an der Küche vorbei, in der Mutter gerade kochte, stieg schwer die Treppe hinauf, öffnete leise die Türe und fiel auf ihr Bett.

Die Müdigkeit siegte.

Es klopfte an der Tür, sie hörte aus weiter Ferne ihren Namen, hörte erneut das Klopfen. Langsam erwachte sie. Zwei Stunden waren vergangen.

„Warum schläfst du so lange, deine Arbeit ist doch nicht anstrengend. Ihr Lehrer habt mittags schon Feierabend. Schau dir Papa an. Er kommt erst um sechs, der schläft nicht und du bist viel jünger.“

Was sollte Manon antworten? Mutter verstand nicht, welche Plagen einer Lehrerin zusetzten. Die Sehnsucht nach Tom durfte sie nicht erwähnen. „Ich bin mit Christine verabredet. Wir gehen schwimmen und trinken anschließend einen Cappuccino.“

„Ach so, für den Sport wolltest du dich ausruhen.“

Freundin Christine gegenüber machte sie Anspielungen, sie würde nicht mehr oft mit ihr zusammen sein. Vielleicht zöge sie in eine andere Stadt.

„Wegen eines Mannes?“

„Ja.“

Die verdutzte Christine nahm das nicht ernst. Sie dachte, ihre Freundin sei überarbeitet und brauche eine Auszeit.

„Ihr kennt euch doch kaum, lass’ es erst mal laufen, bis ihr eure Macken kennt, dann kannst du immer noch entscheiden.“

„Ich habe den Mann meines Lebens getroffen, das ist er und kein anderer.“

„Kein Mann kann so toll sein, dass ich alles aufgebe. Lass dich mal eine Woche krankschreiben, dann bist du erholt, siehst die Welt mit positiven Augen. Vorsicht Manon, handle nicht voreilig.“

„Du redest wie meine Mutter.“

Aufgedreht vom Sport fand Manon keinen Schlaf, dachte an Tom, spürte plötzlich Bedenken. Ob sie den großen Schritt wagen sollte?

Sie stand auf, öffnete das Fenster, atmete die frische Nachtluft. Fasziniert von der unendlichen Weite des Himmels, den unzähligen glitzernden Punkten, suchte sie nach Sternenbildern, fand die Kassiopeia, deren Hauptsterne ein W bildeten, halb auf dem Kopf stehend. Sie beugte den Kopf etwas nach rechts und las spiegelbildlich ein M. Ein M wie Manon.

Die Sterne sind mir wohl gesonnen, dachte sie.

Ihre Blicke wanderten nach rechts, entdeckten das Viereck des Kleinen Wagens, mit dem langen Handgriff, an dessen Ende der Polarstern stand, im Mittelpunkt des Himmels. Während die ganze Welt in Bewegung war, dieser Stern hielt selbstbewusst die Stellung, gab Orientierung.

Solch einen Fixpunkt brauche ich auf Erden, dachte Manon. Kniepte Stella Polaris ihr nicht zu und sprach: Du hast ihn gefunden? Lächelnd schloss Manon das Fenster, kroch unter ihre Decke, atmete ruhig durch. Gegen zwei Uhr früh schlief sie ein.

Am Tag der Abreise gab es wieder Diskussionen.

„Ist meine Befürchtung so abwegig?“, fragte die Mutter.

„Wir sprachen oft darüber, es ist genug.“ Manon war sichtlich genervt. Sie faltete das Jeanskleid, drückte es in den Koffer. Zwei Blusen und Röcke mussten noch hereingehen.

„Ich kann dich nicht gehen lassen.“ Mutter Jenin stand auf der Schwelle des Zimmers. „Nicht aus Eigensinn, sondern aus Angst um dich.“

„Ich bin erwachsen und nicht aus der Welt.“

„Es geht nicht um die Entfernung von zwei, drei Stunden Autofahrt, es geht um viel mehr, um deinen Beruf, den du aufgibst, deine Freunde, die du verlässt, die Musik, der Chor, die Sportgruppe, mich und Papa.“

„Ich habe alles angesprochen und ihr habt es angenommen. Ihr besucht mich am Wochenende, abgemacht?“

Mutter Jenin trat ganz ins Zimmer, schloss die Tür. Kurz vor der Abreise, versuchte sie verzweifelt, ihrer Tochter ins Gewissen zu reden. Sie blickte auf die kniende Manon, der die braunen Haare in die Stirn fielen.

„Es brennt mir unter den Nägeln. Ich bin nicht argwöhnisch gegenüber Tom, die Stiefkinder beunruhigen mich. Die sind mir nicht geheuer. Hast du vergessen, was sie dir angetan haben?“

Manon drückte das Gepäck, zog den widerspenstigen Reißverschluss an der Seite zu, hob den schweren Koffer hoch und stellte ihn mit einem dumpfen Plumps auf den Boden.

„So, das ist der Letzte“, seufzte sie und an die Mutter gewandt, „ach, das sind nette Jungs, ich komme prima mit ihnen klar, für die Zwei bin ich eine große Schwester. Mach dir keine Sorgen, es ist alles gut. Tom liebt mich.“

„Du gibst deinen Beruf auf und du hast dich nirgendwo beworben. Um der Liebe wegen rennst du blind und naiv in dein Unglück. Das will ich nicht.“

„Das sagst du nun zum wievielten Mal?“, sprach Manon ungehalten. „Möglicherweise ist es blind, vielleicht ist es naiv, doch hier läuft das Leben nach dem gleichen Muster ab, ich fühl mich geborgen aber auch beengt. Der Beruf macht, trotz aller Ärgernisse, Spaß. Nur — meine Arbeit wird nicht anerkannt. In den letzten Jahren ist der Frust immer größer geworden. Auch privat. Die attraktiven Männer sind vergeben, es gibt in dieser Stadt keinen Solisten, der mein Herz erreicht. Das Thema ist erledigt. Trostlos für eine Frau, die die 30 überschritten hat. Und jetzt läuft mir Tom über den Weg.“

„Ach, über den Weg gelaufen, nennst du das.“

„Tom liebt mich und ich ihn, gibt es was Schöneres?“

Mutter Jenin wollte weiter dagegen ankämpfen, doch sie merkte: Es war zwecklos.

Dieses mulmige Gefühl in ihrem Bauch blieb vermutlich so lange, bis die Tochter eines Tages wieder bei ihr sei. Ihre Skepsis überwog, extrem ungewöhnlich lernte sie ihren Tom kennen und das verhieß in Mutters Vorstellung nichts Gutes.

„Wo ist Papa?“, lenkte Manon ab.

„Wo soll er an einem trostlosen Sonntagvormittag herumhängen? Im Keller.“

Der Duft des Kaffees lockte Vater Jenin nach oben. Sie tranken eine letzte Tasse. Wortlos saß die Familie da. Vaters Schlürfen durchbrach die Stille, es folgte noch nicht mal die sonst übliche Ermahnung der Frau.

Auf einer Beerdigung ging es ungetrübter zu.

Danach verließ Manon ihr Elternhaus. Sie wagte den Schritt ihres Lebens. Vater und Mutter winkten traurig dem kleinen roten Fiat nach, als sei es ein Abschied für immer. Ein letztes Handzeichen durch das geöffnete Seitenfenster und Manon knatterte um die Ecke, fuhr hinaus in das Abenteuer Liebe.

Während der Fahrt malte sie die kommenden Jahre in den schönsten Farben aus, sie sei für alle da. Sie dachte an die Leiden, die Tom und die Jungs anscheinend bewältigt hatten. Ein Leben mit vielen Aufgaben stand bevor.

Passend zu ihrer Stimmung klärte der Himmel auf, die löchrige Wolkendecke ließ die Sonne auf die Erde scheinen. Sie drehte den Lautsprecher des Radios auf. Hell lag die Landschaft vor ihr. Manon fuhr in ein neues Leben hinein.

Manon

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