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Manon
ОглавлениеSeit Tagen stand ein blauer Himmel über der Stadt. Mütter mit ihren Kindern saßen im Schatten der Bäume, vereinzelt Lesende genossen die Sonne.
Die gepflegte Grünanlage strahlte eine friedliche, beruhigende Atmosphäre aus. Nicht weit entfernt lag der kleine Teich mit seinem Springbrunnen, eine Wasserfontäne spritzte in die Höhe, dessen Nebel je nach Windrichtung, eine Abkühlung bereit hielt.
Unter den Bäumen am Teich würde sie entspannen.
Manon sah eine niedliche Entenfamilie, die kleine Wellen auf ihrer Reise durch den Teich hinterließ. Sie setzte sich unter eine Eiche, mit dem Gesicht zum Wasser, legte sich mit dem Rücken ins Gras, schaute, der Sonne abgewandt, in den wolkenlosen Himmel.
Heute Abend kämen die Eltern, um die Aufführung zu sehen. Manon dachte an den Moment, an dem sie den Brief öffnete und die Zusage für ihre Bewerbung bekam.
Luftsprünge vollzog sie, ihre Seele umarmte die Welt: ’Carmen’ von Georges Bizet. Die beliebteste Oper der Welt, als Musical aufgeführt. Im Chor mit anderen, spiele sie ein Mädchen aus der Zigarettenfabrik. Mit Tanz und Darstellung. Die Termine lagen in den großen Schulferien, für sie, als Lehrerin optimal. Eine tolle Möglichkeit ihr Hobby, das Chorsingen, unter professionellen Bedingungen ausüben zu können. Nach der ersten Euphorie zweifelte sie: Worauf habe ich mich da eingelassen, habe ich mich überschätzt?
Der Tag kam und die chaotische Organisation verstärkte die Bedenken: verschiedene Hotels, verschiedene Mitspieler. Nachdem die Chorleiterin die Gruppe in die ungewohnte Welt eingeführt hatte, probten sie täglich vier Stunden. Bis das alles saß, die Lieder, die Tanzfolgen, die richtigen Einsätze.
Der Tag der Premiere kam, das Fieber und die Nervosität stiegen, in der kompletten Gruppe ging die Hektik reih um. Trotz dieser erregten Atmosphäre: Die Erstaufführung gelang, abgesehen von kleinen Fehlern, die niemandem auffielen. Das Publikum applaudierte frenetisch, sie genoss die stehenden Ovationen, es war Balsam für ihre Seele. Wir spielen Tag für Tag besser, stellte sie, mit einem Grinsen in den Himmel, fest.
Manon stand auf, streifte Falten und Gras aus dem Rock, ging gemütlich und zufrieden in ihr Hotel.
Am Essenstisch erzählte sie Swetlana und Pavel aufgeregt, die Eltern kämen, um sie auf der Bühne zu sehen. Hoffentlich sei sie nicht so nervös.
„Ach, das machen wir schon“, sagte Swetlana.
Nachmittags trafen Vater und Mutter nach dreistündiger Autofahrt im Hotel ein. Manon holte die Eltern am frühen Abend ab und sie spazierten gemeinsam Richtung Oper.
„Moment, ich gebe euch die Karten.“
Sie wühlte in ihrer Tasche.
„Sag bloß, ich hab sie im Hotel liegen lassen. Hier mein Schlüssel, ich muss hinter die Bühne, die Karten liegen auf dem kleinen Tisch.“
„Die finden wir schon.“
Kurz vor Beginn der Aufführung lugte Manon durch den geschlossenen Vorhang, ihre Augen tanzten die mittleren Reihen ab. Dahinten saßen sie, wunderbar.
Das Publikum nahm die Aufführung, wie an den vorangegangenen Tagen, begeistert auf.
Nach der Vorstellung warteten die Eltern auf ihre Tochter, umarmten und beglückwünschten sie. Morgen Vormittag würden sie sich wiedersehen.
In jener Nacht ging sie ermattet zum Gästehaus. Sie stand vor dem Eingang des Hotels, suchte in der Tasche nach dem Schlüssel: Verdammt, Haupt- und Zimmerschlüssel sind bei den Eltern. Kein Nachtservice. Ach, zwei Kilometer Fußweg zu ihrer Pension und wieder zurück. Taxi? Nein, ich krieg’ das hin.
Erschöpft bei der Pension angekommen, machte keiner die Tür auf. Wirt und Gäste schliefen, es nützte nichts, sie klingelte so lange, bis in dem Haus das Licht anging. Nach zehn Minuten öffnete ein missmutiger Wirt die Tür. Es dauerte, bis er begriff.
„Moment, ich wecke ihre Eltern.“
Mutter erschien.
„So was Dummes. Manon meine Ärmste, hier der Schlüssel. Entschuldigung.“ Sie umarmte ihre Tochter.
„Schon gut, Mutti. Schlaf gut.“
„Du auch mein Schatz. Warte, ich rufe dir ein Taxi.“
„Lass mal, ehe das hier ist, liege ich schon im Bett.“
Manon würde die Abkürzung durch den Park nehmen. Ein beklemmendes Gefühl erfasste sie, aber das sei eine friedliche Gegend, beruhigte sie sich. Und es sind weniger als zwei Kilometer. Sie schwankte Richtung Park. Müde von einem langen anstrengenden Tag, nachts, einsam, führte der Weg über die große Wiese in eine kleine Gasse, flankiert von Bäumen und hochgewachsenen Büschen. Der ohnehin schlecht beleuchtete Park war an dieser Stelle stockdunkel. Noch fünfzig Meter bis zum Licht der Straße. Schwer setzte sie einen Fuß vor den anderen. Plötzlich hörte sie ein Rascheln im Unterholz. Sie blieb erstarrt stehen, sah den Umriss eines Tieres den Baum hinaufschnellen. Puuhh, ein Eichhörnchen. Sie musste diesen Weg gehen, bald hatte sie es geschafft, gleich, es war nicht mehr weit. Die Schatten, die ihren Weg verfolgten, bemerkte sie nicht. Hinter dem nächsten Gebüsch lag die hell erleuchtete Straße. Sie hörte Stimmen, zwei Männer. Wo kamen sie her, was wollen sie von mir? Weglaufen! Schnell!
„Hallo, wir möchten mit ihnen reden“, rief einer.
Manon erschrak, sie brachte keinen Ton raus, ihr Herz klopfte rasend. Fremde, die sie bedrängten, keine Hilfe weit und breit. Dunkle Gestalten die immer näher kamen. Was wollen die von mir? Sie brach zusammen.
Jo fing sie auf, legte sie behutsam auf den Boden.
„Oh Jo, oh Jo, was jetzt?“, rief Ricky ängstlich.
Schlagartig ernüchterte er. Dass so etwas passiert, das hatte er sich nicht vorstellen können. Sein Bruder war genauso hilflos, stand wie angewurzelt da.
„Ich weiß nicht — erst aus dem Dunklen hier raus. Pack mit an, da hinten auf der Bank neben der Laterne legen wir sie hin und rufen einen Notarzt.“
Rickys Hände zitternden, die Stimme bebte hektisch.
„Toll! Wonach sieht das Ganze hier aus? Nachts im Dunklen eine ohnmächtige Frau und zwei Typen? Ich sage es dir: Überfall, versuchte Vergewaltigung. Aus der Nummer kommen wir nicht raus.“
„Wenn die Frau ehrlich ist, dann ja.“
„Und das weißt du?“
„Natürlich nicht, fühl ihren Puls. Wenn der zu schwach ist, rufe ich sofort den Krankenwagen an.“
Ricky zitterte. „Mach du, ich krieg’ im Moment nichts geregelt.“
Jo nahm ihre Hand, fühlte oberhalb ihres Handgelenks die Arterie nach der Herzfrequenz ab.
„Mist, ich finde nichts.“ Jo drückte den Daumen fester. „Leg ihre Füße hoch, setz dich und leg ihre Füße auf deinen Schoß.“
Jo suchte weiter. „Ich habe was, schwach und unregelmäßig. Sie muss was trinken. Wasser. Wo kriegen wir Wasser her?“
„Vom Teich“, sagte Ricky. „Ist was dreckig, giftig ist es nicht.“
„Bleib bei ihr“, befahl Jo.
In einem Papierkorb fand er einen alten Kaffeebecher, spülte ihn im Teich gründlich aus und füllte ihn an einer sauberen Stelle im Gewässer. Er lief rasch zurück, das Wasser schwappte aus dem Becher. Noch zur Hälfte gefüllt, tropfte er ihr das Wasser in den Mundwinkel.
„Das nutzt, der Puls ist stärker.“
Im Licht der Laterne sah Jo in ihr Gesicht.
„Sie hat Ähnlichkeit mit Mutter, ja, aber eine Doppelgängerin ist sie nicht, verblendeter Ricky. Wir können nicht einfach abhauen und die Frau liegen lassen.“
„Jo, wir tragen sie zum Eingang des Parks, dann holst du das Auto und wir nehmen sie mit.“
„Mann Ricky! Weißt du, was das bedeutet?“
„Das ist doch keine Entführung oder Freiheitsberaubung, das ist erste Hilfe und es ist unsere einzige Chance, die Sache aufzuklären. Heute Mittag ist sie erholt, wir reden mit ihr, erklären, was vorgefallen ist und hoffen, sie versteht uns und sieht ein: Es ist ein Missverständnis. Und dann fährst du sie zu ihrem Hotel.“
„Ich fahr sie direkt dahin. Wir legen sie vor die Tür.“
„Mann Jo, das sieht so aus, als hätten wir ihr etwas angetan, wollten unser Opfer loswerden und schnell in der Dunkelheit verschwinden. Wenn uns jemand sieht sind wir dran.“
„Meinst du niemand vermisst sie? Freund oder Freundinnen? Morgen Vormittag ist eine kritische Phase. Guck mal, ob sie ein Handy hat.“
Hektisch wühlte Ricky ihre Tasche durch. „Hier.“
„Schmeiß weg, dahinten in dem Gang. Wir wissen nicht, wie das hier endet, ortet die Polizei das Handy, wissen sie, wo wir sind.“
„Mensch Jo, so ein teures Handy können wir doch nicht wegschmeißen.“
„Buddel es da vorne an der Kiefer ein oder wirf Laub drüber. Merk dir die Stelle. Wir holen das morgen, wenn alles erledigt ist, und geben es der Frau zurück.“
„Das sage ich zwar ungern, aber du bist ein kluges Köpfchen. Für Entführungen bist du echt gut zu gebrauchen.“
„Quatsch nicht so einen Blödsinn. Ich fühl’ mich mies.“
Die Zwei hakten die Frau unter, schleppten sie an den Fußweg zur Straße.
„Bleib mit ihr hinter den Büschen, nicht, dass einer vorbeikommt, man weiß ja nie. Bis gleich.“
Jo erreichte gerade das Auto, da verließen Gäste die Kneipe am Park, die Hönenbergs, Edith und Gerd, ehemalige Nachbarn.
Fabio, der Wirt, verlängerte bei gutem Geschäft die Sperrstunde nach Belieben. Dann schloss er die Türe ab und trank mit Stammgästen bis in die Morgenstunden. Kam eine Kontrolle, entwichen die Leute mit ihren Jacken und Getränken in einen Nebenraum der Küche mit der Aufschrift ‚Privat‘.
Die Polizei sah einen noch fleißig putzenden Wirt, der Sauberkeit zur Chefsache erklärte.
Hoffentlich sehen sie mich nicht, ging Jo durch den Kopf, oder sollte er sie ansprechen? Nein, zu kompliziert.
„Wer ist um diese Zeit noch unterwegs? Das ist ja der Jo. Was machst du denn hier?“
„Ich hole das Auto ab, brauch’ ich morgen früh, ich mein’ heute früh, in ein paar Stunden. Dann hab ich keinen Bock hier runter zu laufen, sind fünf Kilometer.“
„Das ist dir früh eingefallen. Lass es besser, du hast genug Bierchen intus, ich kenne euch Burschen. Ich fahre dich nach Hause.“ Gerd Hönenberg mit erhöhtem Alkoholspiegel war generöser denn je.
„Das wirst du nicht tun“, rief seine Frau empört. „Deine Promille reichen für hundert Punkte in Flensburg!“
„Ach, Edith Schatz, hör auf, mach’ kein Drama draus.“
„Wie viele Weinbrände hast du dir rein geschüttet?“
„Edith, Schatz, die zähl’ ich nicht.“
Jo nutzte den Streit, um ins Auto zu steigen, er hörte Frau Hönenberg noch sagen: „Wir nehmen eine Abkürzung durch den Park.“
Mist. Obwohl er mit dem Auto fuhr, musste er schnell handeln. Ricky harrte um die Ecke, hinter dem Gebüsch versteckt, kämen die Hönenbergs dort vorbei, könnten sie die Zwei entdecken.
In hundert Meter Entfernung begann der Weg durch den Park und hielte er dort an der Straße an, ehe sie die Frau ins Auto brachten, wären die Zwei gefährlich nah dran, sie sähen wie sie einen leblosen Körper in das Auto laden würden. Bei diesem Gedanken zuckte Jo.
Er wartete kurz, um zu sehen, welche Richtung die Ex-Nachbarn einschlugen. Natürlich in Richtung Ricky. Die Ex-Nachbarn wunderten sich, warum Jo nicht losfuhr.
Jo startete vom Parkplatz, fuhr langsam an ihnen vorbei, sie winkten und gingen rechts die Straße entlang, während Jo nach links fuhr. Die entgegengesetzte Richtung. Er würde eine Runde um das Areal drehen und hoffen, die Eheleute stritten immer noch und die unbekannte Frau sei noch benommen.
Ricky bleib mit ihr hinter dem Gebüsch, betete er.
Nach ein paar Minuten bog er von der anderen Seite kommend in die Straße ein und sah Edith und Gerd.
Das Gute: Sie hatten nicht den Parkweg genommen. Das Schlechte: Als ihnen Jo mit dem Auto entgegenkam, schauten sie verblüfft. Er musste ihnen zuvorkommen. Er hielt an, kurbelte das Fenster runter.
„Ich hab den Hausschlüssel auf dem Parkplatz verloren, der liegt bestimmt dort.“
„Armer, Jo“, bedauerte Frau Hönenberg.
„Na dann viel Spaß beim Suchen“, fügte ihr Mann hinzu.
„Danke.“
„Wo hast du Ricky gelassen?“
„Der wollte nicht mit mir kommen, ist weiter gegangen, liegt schon im Bett.“
„Der Glückliche.“
„Tschüss.“
Endlich war er sie los, Ricky würde bestimmt fragen, wo er bliebe. Er hielt an der Stelle zum Parkweg, in der Gegenspur.
„Verdammt, wo bleibst du?“
„Die Hönenbergs kamen mir in die Quere. Wie geht es der Frau?“
„Die schläft. Hab sie an den Baum gesetzt.“
Doppeltes Glück, dachte Jo, der Baum stand knapp am Wegesrand, die Frau saß da wie auf einem Präsentierteller.
Was soll’s. Die Jungs hakten die Frau unter, trugen sie zum Auto. Jo schaute auf die Häuser der anderen Straßenseite, die Rollos der Fenster in Parterre waren heruntergezogen, nirgendwo Licht, die Menschen lagen im Tiefschlaf. Sie platzierten die Frau auf dem Rücksitz, wobei die halb benommene Frau langsam die Augen öffnete.
Daneben Ricky. Er hielt sie fest, streichelte sie und redete beruhigend auf sie ein, es sei alles in Ordnung, gleich könne sie schlafen gehen. Ihre Augenlider fielen wieder zu.
Vor der Waldschänke bemühten sich die Jungs leise zu sein, da Tom schlief. Sie führten die Unbekannte die knarrende Holztreppe zu Jos Zimmer hinunter, legten sie auf das Bett.
„Wir schließen das Zimmer ab und ich schlafe diese Nacht bei dir“, schlug Jo vor.
Wieder öffnete die Frau ihre Lider.
„Wir geben ihr besser zwei Beruhigungstabletten, dann schläft sie bis Mittag.“
Jo schlich hoch in die Küche, holte aus dem Apothekerschrank zwei Tabletten, löste diese in Wasser auf und kam lautlos die Treppe runter. Er träufelte das Gemisch der Frau ein.
Ricky, romantisch veranlagt, holte aus dem Schankraum einen farbenprächtigen Blumenstrauß und stellte diesen auf das Beistelltischchen neben dem Bett.
„Das beruhigt“, meinte Ricky.
„Ich schreibe ihr eine Nachricht.“
Jo steckte das Papier unter die Vase.
„Bin gespannt, ob die Frau eine Zicke ist, die jedes Wort von uns bezweifelt.“
„Wie sollen wir das Tom beibringen?“, grübelte Ricky.
„Keine Gedanken mehr, ich bin platt.“
„Ich auch.“
Drei Uhr in der Früh. Tom würde in einer Stunde aufstehen und zur Arbeit fahren.
Bei leiser Musik genossen Petra und Hubert Jenin das reichhaltige Frühstück. Ein wolkenloser Sommertag lag vor ihnen, das Licht strahlte hell in den Gästeraum.
„Sie wird noch schlafen“, sagte Vater Hubert. Die Uhr zeigte halb zehn.
„Müde bin ich, ein verrückter Abend gestern: Wir die Karten, sie den Schlüssel vergessen“, blickte Mutter Petra zurück.
Hubert löffelte das Frühstücksei.
„Wirklich, eine tolle Aufführung, die Oper mein ich, nicht den Hauswirt im Schlafrock. Gestern Abend schaute ich ständig nach Manon.“
„Sie beeindruckte mit theatralischen Gesten“, stellte Petra fest. „An ihr ist eine Schauspielerin verloren gegangen.“
„Nach dem Frühstück schlendern wir durch den Park zur Innenstadt und schauen in den Geschäften nach netten Souvenirs. Was hältst du davon?“
„Machen wir, bei dem fabelhaften Wetter. Gegen elf rufen wir Manon an, dann wird sie wach sein, oder ist schon auf den Beinen.“
Hubert tupfte mit der Serviette das restliche Eigelb von den Lippen.
Die Service-Dame erschien.
„Darf ich abräumen? Oder möchten sie noch essen?“
„Ja bitte, wir sind fertig“, und in Anbetracht ihrer klebrigen Marmeladenfinger sagte Petra Jenin:
„Wir haben gegessen wie kleine Kinder.“
„Das höre ich gern, dann hat es ihnen geschmeckt“, lächelte die Bedienung.
Nach einer kleinen Erfrischung im Hotelzimmer, betraten die Eltern gut gelaunt das Pflaster der Stadt. Sie schauten hier, schauten da, saßen im Park, bereit einen unbeschwerten Tag zu genießen, und bald zeigte die Uhr elf.
Hubert Jenin rief die Tochter an, ließ es lange klingeln, Manon kam nicht ans Telefon.
„Sie schläft noch“, meinte Petra Jenin.
„Ich glaub auch“, antwortete Hubert. „Ein anstrengender und langer Tag gestern, der steckt ihr noch in den Gliedern.“
Mittags gingen die Eltern zum Hotel der Tochter. Die Dame an der Rezeption erkannte die Herrschaften und ließ sie durchgehen.
Petra klopfte an der Tür. Stille.
„Manon?“, rief Petra. „Manon?“
Petra rüttelte am Türgriff, die Tür war abgeschlossen. Undenkbar, dass sie um ein Uhr noch schlief.
Die Frau an der Rezeption wusste nicht, wann die junge Frau das Haus verlassen hatte. Das Zimmermädchen konnte nicht befragt werden, sie war schon auf dem Heimweg.
„Warten Sie, ich nehme den Generalschlüssel mit, dann öffne ich das Zimmer.“
Sie sahen einen aufgeräumten Raum, die Bettdecke gefaltet und glatt gestrichen, als hätte Manon diese Nacht nicht in ihrem Zimmer verbracht. Diese Ordnung täuscht, dachte Petra, der Service hat das Zimmer nach dem Frühstück piekfein hergerichtet. Manon hätte genauso gut hier übernachten können.
„Sie wird zur Probe gegangen sein“, sagte die Bedienstete. „Die jungen Leute, die bei uns zu Gast sind, gehen nach dem Frühstück zur ersten Probe, die um zehn Uhr beginnt, manche kommen danach zurück, essen hier zu Mittag, die meisten bleiben in der Stadt und essen dort. Um zwei Uhr beginnt die zweite Probe.“
„Haben Sie unsere Tochter beim Frühstück gesehen?“ Hubert zeigte der Frau ein Bild von seinem Handy.
„Ich kenne sie, ja, sie ist hier zu Gast, aber ich kann ihnen nicht sagen, ob sie heut Morgen hier gefrühstückt hat. Die zweite Probe beginnt gleich, vielleicht finden Sie dort ihre Tochter. Wenn ich sie sehe, spreche ich sie sofort an, sie soll sich bei ihnen melden.“
Manons Eltern dankten und gingen zur Oper. Dass sie nichts von ihr hörten, beunruhigte sie. Die Sorge sei unbegründet munterten sich Petra und Hubert gegenseitig auf. Auf dem Weg zur Oper begegneten ihnen die Mitspieler des Ensembles. Manon? Sie haben Manon nicht gesehen. Sie wird schon in der Umkleide sein.
„Kommen Sie mit“, lud ein junger Mann sie ein.
Etwas zögernd folgten sie.
„Kommen Sie, kommen Sie, wir finden sie bestimmt.“
Hinter der Bühne flattere und gackerte es wie in einem Hühnerstall, alle redeten gleichzeitig, schwirrten hin und her. Der junge Mann klatschte in die Hände, Mädels und Jungens schauten ihn an.
„Ist Manon da?“, rief er in die Runde.
Alle blickten umher. Keine Antwort. Nein sie war nicht da. Der musikalische Leiter nannte seinen Namen, erklärte, dass sie kurzfristig auch nicht krank gemeldet sei.
„Habt ihr Manon gesehen?“, fragte er nochmal in die Runde.
Nein sie hatten Manon nicht gesehen.
Die verlässliche Manon erschien nicht zur Probe, war nicht in ihrem Hotel, reagierte nicht auf Handyanrufe. Manon ließ die Eltern nie im Ungewissen. Wo war Manon? Ist etwas mit ihr geschehen?
Petra und Hubert gingen zur Polizei.
„Hören Sie“, beschwor der Wachtmeister. „Ihre Tochter ist seit ein paar Stunden weg. Sie könnte bei Freunden die Zeit vergessen haben oder der Akku ihres Handys könnte leer sein, so was in der Art. Wir rufen jetzt keine Fahndung aus. Sie sind beunruhigt, ich verstehe das. Glauben sie mir, spätestens am frühen Abend ist sie wieder da, das sagt uns die Erfahrung. Schauen Sie noch einmal, ob sie mittlerweile bei der Probe aufgetaucht ist.“ „Dass die Polizei uns nicht unterstützt, enttäuscht uns., Es geht um unsere Tochter!“, fuhr Hubert aus der Haut.
Petra beruhigte ihn.
„Komm wir gehen wieder zur Probe.“
Sie blieben bis zum Ende der Probe und marschierten zurück zum Revier.
„Die ganze Zeit hofften wir, sie würde noch kommen. Es ist drei Uhr. Seit letzte Nacht haben wir nichts mehr von unserer Tochter gehört. Da stimmt was nicht. Wenn ihr was passiert ist und sie uns weiterhin mit ihrer unverschämten Passivität provozieren, holen wir einen Anwalt und das eine verspreche ich ihnen, im Falle eines Falles ziehen wir sie zur Rechenschaft. Wegen unterlassener Hilfeleistung!“
Hubert haute auf den Tisch vor lauter Wut.
Die schichtführenden Polizisten, zwei an der Zahl, blieben gelassen. Sie versuchten, das Ehepaar zu beruhigen.
„Haben Sie ein Foto von ihr?“, fragte Wachtmeister Gehrke.
„Auf meinem Handy.“
Petra reichte es dem Beamten.
„Gut, das laden wir in unserem Computer und weisen alle Streifenwagen an, nach der jungen Dame Ausschau zu halten. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.“
Den Eltern blieb nichts anderes übrig, als warten, doch ihre Aufregung war enorm.
Auf dem Weg zum Hotel sahen sie am Himmel einen Helikopter stehen, tief stand er, die Propeller durchschnitten mit ohrenbetäubendem Lärm die Luft. Bedrohlich sah es aus, eine Riesenlibelle stand über ihnen. Ob sie nach Manon fahndeten?
Sie befragten Passanten, was hier los sei.
Die Polizei suche nach einer alten demenzkranken Frau, die aus einem Heim entlaufen war.
Das musste noch kommen: Alle Einsatzkräfte sind mit diesem Fall beschäftigt. Um Manon zu suchen blieb der Polizei keine Zeit.
Als sie durch den Park gingen, durchkämmte eine Hundertschaft der Polizei die Landschaft. Und es kam noch schlimmer. Nicht weit weg von ihnen hörten sie eine Frau schreien: „Hilfe! Mein Kind!“
Während die Mutter mit einer Freundin sprach, rollte der Kinderwagen unbemerkt den Weg hinab. Mitsamt Baby polterte der Wagen eine steile Treppe runter, überschlug mehrmals. Mit tränenerstickter Stimme schluchzte die Frau: “Oh Gott, mein Kind, mein Kind.“
Das Baby schwer verletzt, vielleicht tot? Eine Gruppe Polizisten eilte herbei. Das Baby lag nicht im Kinderwagen. Wo ist das Baby?
Hubert und Petra schauten ungläubig.
Ein nervenaufreibender Tag. Ihre Tochter vermisst, eine alte demenzkranke Frau vermisst und jetzt noch ein Baby vermisst. Unfassbar. Sie plumpsten rücklings auf eine Bank, hielten ermattet die Hände. Bestimmt zehnmal riefen sie bei Manon an, ohne Erfolg und sie versuchten es weiter. Hubert wählte erneut Manons Handynummer.
„Oberwachtmeister Gehrke, Polizeirevier Eins.“
„Nein, das gibt es nicht“, rief der Vater erstaunt.
„Jenin, Hubert Jenin, wie kommen Sie an das Handy meiner Tochter?“
„Ein junger Mann fand das im Park, unter einem Strauch. Es ist soeben abgegeben worden. Kommen Sie bitte vorbei, wir nehmen ein Protokoll auf.“
Name und Geburtsjahr, Adresse, Foto. Wer und wann sah sie das letzte Mal? Eine Vermisstenanzeige ging ans Polizeipräsidium. Die Befragung der Kontaktpersonen würde folgen. Verwandte, Bekannte, Freunde, hat sie sich bei ihnen gemeldet? Hotelgäste, das Ensemble generell musste befragt werden: Zeigte das Opfer in letzten Tagen ein anderes Verhalten? Die Finder des Handys: Wo fanden sie es? Das könnte der Tatort sein. Dringend nach Spuren untersuchen: Abgeknickte Äste und textile Fasern, die auf einen Kampf deuteten. Gab es Fußabdrücke die auf die Größe und das Gewicht der Täter Rückschlüsse zuließen? Uhrzeit des Geschehens, gab es Zeugen, ein vereinzelter Nach-Hause-Gänger oder bemerkten die nächsten Anwohner ein schnell anfahrendes Auto? Marke, Farbe, Kennzeichen? Menschen, die nachts ungewöhnliches Verhalten zeigten? Petra und Hubert Jenin blieb nichts übrig, als zu warten. Sie gingen ins Hotel, schluckten Beruhigungspillen. Wirkungslos. Ausruhen? Nicht dran zu denken.
Die Polizei fand die alte demenzkranke Frau eine Stunde später mit einem Baby auf dem Arm. Während die Mutter noch angeregt mit der Freundin erzählte, krabbelte das Kind aus dem Wagen hinter einen Baum. Die Frauen, dem rollenden Kinderwagen entsetzt nachschauend, bemerkten nicht die alte Frau. Hinter dem Baum nahm sie das Kind auf den Arm und ging unbemerkt.
Die alte Frau wollte was Kleines, Kuscheliges, Lebendiges in den Armen halten.
Manon erwachte in einem dunklen Keller, auf einem Bett liegend. Ihre Hände fuhren an ihrem Körper entlang: Kleid, Jacke, Schuhe trug sie noch. Sie hatten sich nicht an ihr vergangen, noch nicht. Sie war weder gefesselt noch geknebelt. Die Schurken mussten ihrer Sache gewiss sein, sie hätte schreien können, niemand würde sie hören. Welches Martyrium stand ihr bevor? Vergewaltigung und Tod? Wäre das nicht schon längst geschehen? Erpressung der Eltern? Bei diesen Gedanken durchzog Übelkeit ihren Körper, durch die ungewohnte Position schmerzten die Glieder. Ein kleines Gitterfenster ließ die Sonne herein. Mittag, schätzte sie. Stille, es gab keine Geräusche: keine vorbeifahrenden Autos, keinen Lärm einer Baustelle. Das Haus schien verlassen.
Suchende Blicke nach ihrer Handtasche, in der ihr Handy lag. Nichts zu sehen. Eine ausweglose Situation. Ein Blumenstrauß in einer Vase mitten auf dem Tisch, darunter ein Zettel: Keine Angst, wir tun ihnen nichts. Was sollte das bedeuten? Manon setzte sich, stützte den Kopf in beide Hände. Sie schloss die Augen. Nicht durchdrehen. Versuche dich zu erinnern. Was war letzte Nacht geschehen? Aufführung, Eltern, Karten, Weg zum
Hotel, Weg durch den Park, zwei Männer hinter ihr, dann nichts mehr. Vielleicht eine Verwechselung. Mit dem Schreiben und den Blumen wollen sie sich entschuldigen. Trotzdem, kriminelle Energie ist vorhanden, sonst hätten die Männer sie nicht entführt und eingesperrt. Vielleicht wollen sie mich mit dem Satz auf dem Zettel beruhigen, damit ich nicht in Panik gerate, bevor sie mit dem Martyrium beginnen. Oh mein Gott, ich hab’ solche Angst. Ich kann nicht hier sitzen und mich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lassen. Ich muss mich bemerkbar machen.
Der beschwerliche Weg führte mehrere hundert Meter die kleine Straße hinauf zur Waldschänke. Sein lang ersehnter Traum: die Gaststätte am Rande der Stadt. Leben konnte er davon nicht, gerade die Unkosten brachte das Lokal rein. Ohne den Job als Postbote hätte er das Lokal schließen müssen.
Die letzten Meter kosteten Kraft, der alte Drahtesel besaß nicht die beste Gangschaltung. Thomas Wächter sah Jo und Ricky auf der Eingangstreppe sitzen und sie begrüßten ihn.
„Hallo Tom, alles klar?“
„Hallo Jungs. Ich sehe, es geht euch prima. Ihr habt ein Leben, davon träume ich.“ Tom stellte das Fahrrad ab. Er atmete ein paarmal heftig durch. „Ich hoffe, ihr habt nicht den halben Tag vor der Tür rumgegammelt.“
„Wir putzten das halbe Haus“, sagte Ricky, „die Küche glänzt, die Kneipe strahlt. Ist uns verdammt schwergefallen, wir lagen spät im Bett.“
„Jungs, trinkt nicht so viel. Die Kneipe schau ich mir nachher an. Habt ihr das Mittagessen vorbereitet? Salat und Kartoffeln gekauft?“
„Natürlich Chef“, bemerkte Ricky.
Tom Wächter war Stolz auf die Jungs, sie hörten auf ihn, unterstützten ihn. Nach dem Tod ihrer Mutter, in dieser schlimmen Zeit, hätten sie aufgeben, einer Depression verfallen oder als Kriminelle enden können.
Die Entwicklung verlief in eine andere Richtung und daran gebührte Tom Wächter großen Anteil. Er erzog sie, baute sie ständig auf und die Verantwortung belastete ihn sehr. Das Jugendamt half, ein Vertreter vom Amt kam regelmäßig vorbei. Tom bewunderte das Talent der Jungen zu planen, gemeinsam zu arbeiten. Im Vergleich mit Gleichaltrigen waren sie weit erwachsener.
„Weißt du was, Onkel Tom? Wir müssen dir etwas beichten.“ Jo sagte das betont locker.
„Überfallt mich nicht direkt mit Horrornachrichten, ich muss erst mal nach Hause kommen, mich frisch machen, bin gespannt, was ihr mir zu sagen habt“, antwortete Tom, und ging dabei die Treppe hoch, stand auf der letzten Stufe und drehte sich um. „Hoffentlich ist es nicht so dramatisch.“
Gewissensbisse überfielen die Brüder, sie schauten verlegen auf den Boden. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, was sie letzte Nacht angestellt hatten.
In der Küche, gemeinsam beim Essen sitzend, fragte Tom, was sie denn auf dem Herzen hätten. Und als Jo mit den Worten begann, etwas Überraschendes sei passiert, hörten sie Geräusche aus dem Keller, als schlüge jemand mit der Faust gegen eine Tür.
„Was ist denn da unten los?“, fragte Tom.
Die Jungs schauten beschämt in der Gegend herum.
„Was seid ihr so kusch? Ihr verheimlicht mir was. Dann klären wir die Sache mal.“ Tom stand auf. Gemeinsam gingen sie die steile Treppe ins Souterrain hinunter.
Sie hörten, wie eine Frauenstimme verzweifelt rief: „Aufmachen, lasst mich hier raus! Aufmachen!“
Tom schloss die Tür auf und was er dann sah, verschlug ihm die Sprache: Eine ihm unbekannte Frau stand hinter der Tür.
Sie ging einen Schritt zurück, Tom fixierend.
Tom blieb stumm, stand mit offenem Mund da. Die Frau ähnelte seiner verstorbenen Schwester, dann platzte es aus ihm heraus.
„Ich glaube es nicht, was habt ihr gemacht?“
Ein Schrecken durchfuhr ihn: Das ist das Ende dieser Restfamilie. Die Bemühungen der letzten Jahre waren vergeblich. Wie konnten die Jungs ihn nur so enttäuschen? Jo und Ricky, standen da wie bestrafte Schulbuben, waren nicht in der Lage etwas zu sagen.
Manon schrie alle an. „Bevor hier noch irgendeiner den Mund aufmacht, gebt mir meine Handtasche zurück mit meinem Handy, damit ich auf der Stelle meine Eltern anrufen kann. Die machen sich verdammt Sorgen um mich, haben noch mehr Angst, als ich sie hatte und noch immer hab!“
„Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, Sie sind in guten Händen“, versprach Tom.
„Ricky, gehe hoch in die Küche, mach’ einen Kräutertee für die Dame. Jo, hole sofort die Handtasche“, befahl er. Jo öffnete seinen Kleiderschrank und gab der Frau ihre Handtasche. Manon schaute und durchwühlte sie.
„Verdammt, wo ist mein Handy?“
„Das hab ich letzte Nacht weggeworfen“, gestand Jo. „Damit das Teil nicht nervt.“
„Ihr habt Sie entführt? Du und Ricky? Ihr seid mit dem Auto gefahren? Hab mich gewundert, es stand schräg vor der Garage.“ Tom schaute fassungslos.
„Wir haben Sie nicht …“, Jo schluckte, „entführt, es tut uns leid. Wir wussten nicht was wir machen sollten.“
„Es ist allein meine Schuld“, gestand Ricky.
Manon schaute den Jungen genauer an, ihr war, als hätte sie ihn schon einmal gesehen.
„Ich sah diese Frau in den letzten Tagen öfter und verfolgte sie, dachte direkt an Mutti — solch eine Ähnlichkeit. Mutti ist nicht tot, sie lebt. Gestern Nacht, du lagst im Bett, da sind wir mit deinem Auto in die Stadt runter. Wir redeten über Mama, ich trank viel, und als wir nach Hause wollten, sagte Jo: Ich hab zwei Bier getrunken, wir müssen zu Fuß zurück, das Auto holen wir morgen ab. Wir sind nachts durch den Park und dann sahen wir sie. In dem dunklen Gang in der Nähe der Kirche holten wir sie ein. Ich wollte, dass Jo ihre Stimme hörte und sprach sie an, dann ist sie vor unseren Augen in Ohnmacht gefallen. Was sollten wir machen? Wir hatten Panik, hatten Angst für etwas beschuldigt zu werden, was gar nicht stimmte.“
Tom schüttelte den Kopf.
„Nachts, im menschenleeren Park, verfolgt ihr eine Frau, in einem düsteren Weg sprecht ihr, eine euch fremde Frau an. Konntet ihr euch nicht denken, dass die Frau Angst vor euch hat? Und dann entführt ihr eine wehrlose Person, Jo fährt betrunken mit dem Auto, ich pack’ es nicht.“
„Ich war nicht betrunken, hab nur zwei Bier getrunken und nicht an die null Komma null Promillegrenze gedacht.“
„Bitte, bevor ihr weiter erzählt, ich muss meine Eltern anrufen!“, unterbrach Manon.
„Ja, natürlich, hier nehmen Sie mein Handy.“
Tom reichte ihr sein Handy rüber.
Erst rief sie zu Hause an, keine Verbindung. Danach Papas Handy, das Adressenheft mit Telefonnummern fand sie noch in der Tasche.
Tom und Jo horchten gebannt.
„Hallo Papa, hier Manon. Macht euch keine Sorgen mehr, es geht mir gut. Ich komme bald zurück. Ja, nein, keine Entführung es ist alles geklärt, ich weiß nicht wo ich mich befinde.“
Tom flüsterte ihr zu: „In der Waldschänke, nördlich der Stadt, etwa drei Kilometer außerhalb, keine Polizei bitte.“
„Waldschänke, bitte keine Polizei Papa, ich bin wohlauf, alles ist in Ordnung, ich bekomme gleich einen Tee. Liebe Grüße an Mutti, ich liebe euch. Kommt vorbei und holt mich.“
Jetzt fiel alles von ihr ab, die Tränen liefen wie ein aufgedrehter Wasserhahn an ihr runter, Tränen der Erleichterung. Tom umarmte sie, drückte sie fest, und Manon zog ihn heran, ließ ihn nicht mehr los.
Fremde die wie ein Liebespaar einander hielten.
Mutter und Vater Jenin weinten vor Freude, als sie ihre Tochter in den Armen hielten.
Hubert, wütend auf die Jungs, wollte möglichst schnell weg. Er musterte die Jungs ausgiebig: Der zarte, blasse Ricky mit verspieltem Lockenkopf, ein Kind. Der größere, kräftigere Jo, dessen Kurzhaarschnitt zu einem sportlichen Jungen passte.
Beide standen mit herabhängenden Schultern und gesenkten Köpfen vor ihm. Kleinlaut und reumütig, wagten sie nicht ihn anzuschauen.
Die sehen nicht aus, als wären es Gewalttätige, dachte Hubert, die schauspielern nicht die Unschuldslämmer, ihre Reue kommt von Herzen. Es sind Jungs, die durch Alkohol benebelt in eine dumme Situation gerieten. Jeder Richter, die gnadenlosen ausgenommen, würde sie freisprechen.
„Ich bin ihnen sehr dankbar, dass Sie nicht die Polizei eingeschaltet haben“, sagte Tom.
„Natürlich stellten wir eine Vermisstenanzeige, was glauben Sie denn?“
„Dann ist die Polizei gleich hier?“
„Nein, die Bitten unserer Tochter nehmen wir ernst.“
Tom schaute Manon an, sie erwiderte wortlos seinen dankbaren Blick. „Darf ich Sie zum Essen einladen?“
„Äußerst ungewöhnlich. Nach dem ihre Jungen unsere Tochter entführten, genießen wir bei den Entführern ein Abendmahl zur Entschädigung und alles ist Friede, Freude, Eierkuchen. Fast wie unter guten Freunden, sehr nett, Herr Wächter. Sie wissen nicht was ihre Kinder uns angetan haben, welche Sorge sie uns bereiteten, welche Ängste wir ausstanden, wie verzweifelt wir waren. Wir fahren ins Hotel und werden zwei Tage schlafen.“ Und an Manon gewandt: „Vorher bringe ich dich zu einem Arzt und du lässt dich untersuchen, schließlich bist du umgekippt, das Herz-Kreislaufsystem ist vielleicht beeinträchtigt. Herr Wächter, wir wissen nicht, welch seelische Schäden unsere Tochter davon getragen hat. Das hier, das ist noch nicht das Ende.“
„Verstehe ich. Nur eines möchte ich sagen: Diese Kinder, die Kinder meiner Schwester, litten durch den frühen Tod ihrer Mutter. Ihr Vater, ein Offizier, der zwei Jahre in Afghanistan diente, kam mit psychischen Störungen zurück und wurde in eine Nervenklinik eingewiesen. Ich bin ihr Ziehvater.“
„Ist das eine Entschuldigung für ihre Straftat?“
„Natürlich nicht, vielleicht geben Sie mir die Möglichkeit etwas aus ihrem Leben zu erzählen. Ich möchte nicht, dass Sie denken, es seien Gangster, unerziehbare Jugendliche oder verhaltensgestörte junge Männer.“
„Herr Wächter, mir brauchen Sie nichts erzählen, sprechen Sie mit der Leidtragenden, mit meiner Tochter, falls sie das will.“
„Später, ich brauche langen erholsamen Schlaf und dann freue ich mich auf die restlichen Aufführungen. Ich rufe Sie mal an“, versprach Manon. „Wir müssen einiges klären.“
Die Eltern saßen schon im Auto, Manon hatte die Tür zum Hintersitz geöffnet, zögerte einen Moment, schaute den, vor der Schänke stehenden Tom an, einige Augenblicke zu lang, dann stieg sie ein.
Dieser Blick, dachte Tom, dieser warme, dankbare Blick.
Es wurde Zeit die Waldschänke zu öffnen.
Er glaubte nicht, sie jemals wiederzusehen.
Welch eine Freude, als sie anrief. Ein langes Gespräch begann und drei Wochen nach ihrer ungewöhnlichen ersten Begegnung saßen sie in einem Eiscafé in Toms Stadt.
Eine Familie nahm am Nebentisch Platz, die Kellnerin brachte riesige Eisbecher und die Kinder bekamen große Augen. Ein Pärchen in der Ecke turtelte und sie schoben einander die Eislöffel in den Mund. Die Kinder verschmierten derweil die Sahne um den Mund und das Schokoladeneis tropfte von der Nase. Die Kinder übertrieben den Spaß, ein Eisbecher kippte um, die Mutter schimpfte, der Vater sagte nichts. Manon und Tom schmunzelten. Das Liebespärchen nahm die Umwelt nicht wahr.
„Was führte Sie in diese Stadt?“, wollte Tom wissen.
„Ich schickte eine Bewerbung für die Oper Carmen. Die Musical-Version sollte aufgeführt werden, dafür benötigten sie Sängerinnen und Sänger für den Chor. Als ich die Zusage hatte, fühlte ich mich grandios.“
„Oh dann sitzt mir eine Künstlerin gegenüber“, staunte Tom.
„Sagen Sie das besser nicht“, entgegnete Manon lächelnd. „Schließlich bin ich Laie und kein Profi, singe zum Spaß in einem Chor. Von Beruf bin ich Lehrerin an einer Grundschule. Eine Anzeige in der Zeitung für ein Casting, brachte mich auf die Idee, mich hier zu bewerben. Musikalisches Gefühl ist Voraussetzung, eine gute Stimme ist wichtig und sich beim Tanz nicht ganz so ungelenkig anstellen und natürlich ein bisschen Glück, dass man ausgewählt wird.“
„Wie lange liefen die Vorstellungen?“
„Fünf Wochen verbrachte ich hier.“
Manon erzählte von den Vorbereitungen, die gute Stimmung im Ensemble, oft besuchten sie den Park, lernten Texte, alberten herum. Dann nach einem fantastischen Auftritt die schlimme Nacht.
„Plötzlich standen sie vor mir, starr vor Schreck hörte ich nicht, was sie sagten und dann bekam ich nichts mehr mit.“
Tom hörte gebannt zu.
„Erschöpfung, gepaart mit Angst ließ mich in Ohnmacht fallen und erst nachmittags erwachte ich in einem Souterrain auf. Ich hatte Angst.“
Tom schüttelte den Kopf. „Ich pack das immer noch nicht, das sind keine schlechten Jungs. Tags darauf las ich in den Zeitungen atemberaubende Geschichten über den Entführungsfall einer jungen Frau. Eine Zeitschrift berichtete, es sei eine junge Frau von einem Sado-Maso-Pärchen entführt worden. Das Blatt beschrieb detailliert bestimmte Sexpraktiken. Ein anderes Journal behauptete, letzte Nacht hätte die Russen-Mafia eine junge reiche Erbin verschleppt und forderte den Rat der Stadt auf, endlich was gegen die Einwanderung der sogenannten Deutsch-Russen zu unternehmen. Für eine weitere Illustrierte stand fest, der Menschenraub sei ein Racheakt im Streit zweier großer Familien-Clans, die sich nicht integrieren ließen. Sie forderte die Polizei auf, eine Razzia bei den Sinti und Roma durchzuführen.
Ein Fall, drei Zeitungen, drei unterschiedliche Darstellungen, da ist wohl die Fantasie der Redakteure durchgegangen. Zwei Tage später erschienen Gegendarstellungen: Es gab eine Vermisstenanzeige, die am anderen Tag aufgehoben wurde. Voreilig schloss man auf eine Entführung. Die Zeitungen entschuldigten sich bei den Lesern wegen dieses Missverständnisses.“
Tom zuckte mit den Schultern.
„Möchten Sie mit den Jungs sprechen? Denen wird ein Stein vom Herzen fallen, wenn Sie ihnen vergeben.“
„Das ist keine schlechte Idee. Noch etwas: Ich möchte mehr über Sie erfahren, Sie sind ein interessanter Mann.“
„Meinen Sie?“
„Ja, erzählen Sie mir ihre Geschichte.“
„Kommen Sie mit zu mir? Die Jungs säubern gerade die Schänke, in zwei Stunden muss ich die Gaststätte öffnen, bis dahin kann ich etwas aus meinem Leben erzählen.“
„Machen wir.“