Читать книгу Ein Mann und sein Rad - Wilfried de Jong - Страница 7
ОглавлениеMona Lisa
Der Soldat hatte einen Karabiner im Anschlag. Er blickte über mich hinweg zum Berggipfel. Die Spitze seines Bajonetts deutete schräg nach vorn, auf die imaginäre Brust eines Deutschen. Um sie zu durchstoßen, bis man die Rippen brechen hörte.
Mort pour la patrie.
Ich radelte in gemächlichem Tempo, so dass ich das steinerne Denkmal lange betrachten konnte. Wie viele Kriegsdenkmäler mochte es in Frankreich geben? Überall sah man diese jungen Männer mit fest entschlossenen Gesichtern unter ihren Helmen. Nie auch nur ein Anflug von Zweifel in den Blicken oder ein dunkler Fleck im Schritt der Kampfhosen.
Es war später Nachmittag. Vor nunmehr anderthalb Stunden hatte ich den erhitzten Kopf am Straßenrand in ein Betonbecken gehalten, unter einen Wasserhahn. Als hätte man eine glühend heiße Pfanne unter einen kalten Strahl gehalten, so groß war der Temperaturunterschied gewesen. Prustend war ich wieder hochgekommen.
Von diesem prickelnden Gefühl war nichts mehr übrig. Die Luft war stickig. Mein schneller Herzschlag pochte mir in den Schläfen.
Erst als ich aus dem Sattel ging, verschwand der Soldat langsam aus meinem Blickfeld. Ich fragte mich, ob vielleicht die Bremsbeläge am Hinterrad schleiften. Unsinn. Es war einfach steil. Ich schaute nach rechts. Die Straße, die ich hochgefahren war, schlängelte sich durchs Tal wie eine schwarze Schlange durchs grüne Unterholz. Ein Schluck aus der Trinkflasche. Es ging heute ziemlich schnell mit der Flüssigkeit.
In der Böschung rieben Grillen ihre Flügel aneinander. Es klang wie ein Notsignal. Der Berg war kurz davor, sich zu überhitzen.
Die Franzosen hier aus der Gegend suchten im Sommer ein paar Wochen Abkühlung an der 150 Kilometer entfernten Côte d’Azur. Selbst die Wachhunde der wenigen an meiner Route gelegenen Häuser lagen benommen auf den Höfen.
Ich fuhr über weiß getünchte Buchstaben hinweg, die teils vom Regenwasser fortgespült waren. Sie standen verkehrt herum auf der Fahrbahn. Der Name war nicht zu entziffern. War die Tour de France hier durchgefahren? Ich konnte mich nicht daran erinnern.
Ein Kilometerstein gab an, welche Höhe ich inzwischen erreicht hatte: 825 Meter. Der Col de l’Homme Mort, ein Berg der ersten Kategorie, war noch ein ganzes Stück weit weg.
Ich schlürfte das letzte Wasser vom Boden meiner Trinkflasche. Leer. Blöd, dass ich keinen zweiten Halter montiert hatte.
Der Asphalt ging immer weiter bergauf. Ich konnte keinen Augenblick verschnaufen. Immer weiterfahren. Nach zwanzig Metern stand ein Holzschild am Straßenrand, in der Form eines Pfeils: MONA LISA 500 M, stand darauf gepinselt.
Mona Lisa. Komischer Name hier mitten in der Landschaft der Provence. Marie, hätte man erwartet. Christine. Oder Jeanne-Marie, wenn man mit dem Vornamen etwas hermachen wollte. Aber Mona Lisa? So ein Schild gehörte doch eher nach Paris, in den Louvre, als Hinweis auf den schnellsten Weg zu dem Gemälde von Leonardo da Vinci.
Ich fuhr daran vorbei. Was konnte ich als Nächstes anvisieren?
Der letzte Schluck aus der Trinkflasche hatte nicht gegen den Durst geholfen. Die Zunge lag mir ausgetrocknet im weit offenen Mund.
Weiter vorn tauchte noch so ein Pfeil auf. Ich redete mir selbst zu: Wenn ich es bis zu diesem Pfeil schaffe, komme ich auch ohne Absteigen bis nach oben.
Genau wie bei dem vorigen Schild war jeder Buchstabe des Namens in einer anderen Farbe gemalt. Der einzige, der zwei Mal vorkam, war das kleine a. Ich musste an die Grundschule zurückdenken, an Wasserfarben. Mehr an Wasser als an Farben.
MONA LISA 100 M.
Der Pfeil wies mir den Weg zu einem Wasserhahn. Mona Lisa, das war vielleicht eine Autowerkstatt, ein Bilderrahmenmacher oder ein Hersteller von Trüffelöl. Es war mir gleichgültig, Hauptsache, es gab dort einen Hahn mit kaltem Wasser. Der Col de l’Homme Mort konnte mir gestohlen bleiben.
Der nächste Pfeil, unübersehbar. MONA LISA stand da wieder, nun doppelt so groß wie auf dem vorigen Schild. Mit dem Zusatz: LAVANDE. Der Pfeil zeigte schräg nach unten. Man sollte die ansteigende Asphaltstraße verlassen.
Ein unbefestigter Pfad führte nach unten. Ich stieg ab. Mit kleinen Schritten, die Hände an den angezogenen Bremshebeln, ging ich neben meinem Rad. Die kleinen Platten unter meinen Fahrradschuhen machten den Abstieg tückisch.
Am Ende des Pfads tauchte ein altes Steinhaus auf. Die Ziegel des schrägen Dachs waren von Efeu überwuchert. Die Tür war halb abgeschliffen und stand einen Spalt offen.
»Bonjour«, sagte ich.
Es blieb still. Nichts als das unablässige, eintönige Zirpen der Grillen.
»Allô?«, rief ich, in zweifelndem Tonfall, um anzudeuten, dass ich nichts Böses im Sinn hatte.
Keine Reaktion.
Vor dem Haus stand ein krumm verzogener Holztisch. Ein paar Lavendelsträuße, dazwischen ein Stück Pappe mit einer handschriftlichen Mitteilung.
Retour dans quinze minutes.
Ich lehnte mein Rad an einen Baum und nahm meine Trinkflasche aus dem Halter. Wie alt mochte diese kurze Notiz sein? Vielleicht kam der Hausbesitzer ja schon in ein paar Minuten zurück.
Ich schaute auf die Uhr. Es war sechs. Wenn ich umkehrte und zu meinem Hotel hinunterfuhr, konnte ich in anderthalb Stunden unter der Dusche stehen und noch vor dem Abendessen mit einem Bier auf der Terrasse sitzen. Aber gut, ich hatte mir für den heutigen Tag schließlich ein Ziel gesetzt: den Gipfel des l’Homme Mort.
Ich ging um das Haus herum und suchte nach einer Wasserstelle. Die azurblauen Fensterläden waren geschlossen. An der Hauswand standen gepflegte Kübel mit blühendem Thymian und Lavendel. Nirgends ein Wasserhahn. Ich nahm den Helm ab und hängte ihn an den Lenker.
Vor der Tür hing ein Fadenvorhang aus Plastik, damit kein Ungeziefer hereinflog.
Vorsichtig steckte ich den Kopf zwischen den Fäden hindurch.
»Allô … bonjour?«
Meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Es roch muffelig. Nach feuchtem Bettzeug.
Ich tat ein paar Schritte in den Raum hinein. Das Haus bestand nur aus diesem einen Raum. In der Ecke stand ein schmales Bett mit einem unordentlichen Laken. In der Mitte ein runder Gartentisch aus Metall, mit zwei Plastikstühlen. An der Wand eine Resopal-Küchenzeile.
Mit einem Wasserhahn, zum Glück.
Mir fielen immer mehr Details auf. Zu meiner Linken hing eine alte Schullandkarte von Frankreich. Mit Bleistift waren verschiedene Routen eingezeichnet. Neben der Karte schlichte Gemälde von Berggipfeln, manche schneebedeckt, manche im Sonnenschein.
Die Wand, an der das Bett stand, war bis unter die Decke mit Fotos von Radrennfahrern gepflastert. Ich stützte mich mit den Knien an der Matratze ab und schaute, wer es alles war. Die Fotos waren anscheinend eilig aus Zeitschriften ausgeschnitten oder herausgerissen worden. Ich erkannte das Logo von Paris Match. Auf den Rahmen der Räder und den schweißbedeckten Gesichtern spiegelte sich die Sonne. Das Blau des Himmels war das Himmelsblau meiner Jugend: klar, strahlend.
Die Wand war eine einzige Hommage an berühmte Kletterer. Die Gesichter auf den meisten Fotos erkannte ich: Bahamontes, Induráin, Bartali, Pingeon, Hinault, Simpson, Coppi, Zoetemelk, Pantani, Armstrong, Fuente, Herrera. Vereinzelt waren Schlagzeilen aus L’Équipe darübergeklebt, einer französischen Sportzeitung.
Der Besitzer dieses Hauses musste ein totaler Radsportfanatiker sein.
Ich ging zur Küchenzeile hinüber. An der Spüle lehnte ein Hinterrad mit plattem Reifen. Davor lag ein Knäuel schwarzer Fahrradschläuche. Wie leblose Aale ineinander verschlungen. Ich beugte mich vor, um nachzusehen, was sie für Ventile hatten.
»Bonjour, monsieur!« Die Begrüßung klang schrill. Ich drehte mich um. Im Türrahmen stand eine hochgewachsene Frau. Die Fäden des Plastikvorhangs hingen ihr wie Dreadlocks um den Kopf. Mit wenigen Schritten hatte sie schwungvoll den kleinen Tisch mit den Stühlen umrundet.
Jetzt erst konnte ich ihr Gesicht sehen. Oval, mit vielen kleinen Falten über den Augenbrauen. Lange rote Haare, die ihr von dem grauen Scheitel wie zwei Gardinen über die Schläfen fielen.
»Je suis Lisa.«
Sie lachte eine Spur übertrieben.
Ich schüttelte ihr die Hand und wollte mich gerade entschuldigen, dass ich einfach so hineingekommen war, aber sie ergriff sofort selbst wieder das Wort.
»Was gibt’s? Platter Reifen, kaputtes Schaltwerk? Oder brauchst du eine Zange, um die Bremsen einzustellen? Nur raus mit der Sprache.«
Ich hielt meine Trinkflasche hoch.
»Die ist leer.«
Sie nahm mir die Trinkflasche aus der Hand, ging damit zum Hahn und füllte sie randvoll mitWasser. Dann stellte sie sie mitten im Raum auf den Gartentisch.
»Allez, setz dich, dann geb’ ich dir was Richtiges zu trinken. Wasser ist etwas für Pflanzen.«
Sie zog einen Vorhang vor einem türlosen Schrank zur Seite, holte eine Karaffe mit einer roten Flüssigkeit heraus und stellte sie mit zwei Gläsern dazu auf den Tisch.
»Preiselbeersaft. Gut für den Darmkanal.«
Ich setzte mich an den Tisch. Es kam mir zwangsläufig vor, so als wäre es hier, wo diese Frau das Sagen hatte, gar nicht anders möglich.
Schweigend tranken wir den Saft. Über mein Glas hinweg schaute ich sie an. Rosige Haut, viele Sommersprossen im Gesicht, nackte Schultern und kräftige Arme. Ihre Augen sahen frisch und munter aus. Aber ihren etwas steifen Bewegungen und ihrer faltigen Haut nach zu urteilen, musste sie um die sechzig Jahre alt sein.
»Wo musst du noch hin?«
»Ich habe mich in der Nähe von Sault einquartiert.«
Sie warf den Kopf in den Nacken und kippte die letzten Tropfen aus ihrem Glas hinunter. Der oberste Knopf ihres Blumenkleids stand offen. Was darunter war, konnte man kaum Brüste nennen. Man musste Busen dazu sagen.
»Was für eine Übersetzung fährst du?«
»50/34 vorn und 13-26 hinten.«
Sie schaute auf meine nackten Beine unter dem Tisch, dann auf meinen Oberkörper, dann sah sie mir wieder in die Augen.
»So kann ich dich nicht losfahren lassen. Das schaffst du nie.«
Sie ging zur Küchenzeile, öffnete einen Schrank und holte einen Topf heraus. Füllte ihn mitWasser und stellte ihn auf den Herd. Mit einem Streichholz zündete sie die Flamme an.
»Schöne Sammlung. Von Ihnen?« Ich zeigte auf die Fotos.
Sie schaute zur Wand, während sie mit dem erloschenen Streichholz hinter ihren Schneidezähnen herumstocherte.
»Ich kenne diese Männer wie meine Westentasche. Ich weiß alles von ihnen: die wichtigen Rennergebnisse, ihre Rahmengröße, ihren Ruhe- und Belastungspuls, ihre Gewohnheiten, ihre Stammbäume, all ihr Freud und Leid.«
Die Frau steckte das hintere Streichholzende in den kleinen Spalt zwischen ihren Schneidezähnen, bewegte ihn schnell hin und her und nahm ihre Beute in Augenschein. Dann warf sie das Streichholz in einen Aschenbecher und setzte sich wieder.
Ich nahm noch einen Schluck Saft, dann stand ich auf und ging zu den Rennfahrerfotos. Ich wollte ihre Kenntnisse auf die Probe stellen. War diese Lisa eine Fantastin, oder kannte sie sich wirklich mit Radrennen aus?
»Miguel Induráin. Oder?«
Sie schaute schräg zu dem Foto hoch, auf das ich zeigte. »Ach ja, Miguel. Der Lange von Pamplona. Hat fünf Mal hintereinander die Tour de France gewonnen. Wie der 1990 beim Schlussanstieg nach Luz Ardiden den Weltmeister LeMond abgehängt hat. Das war schön. Die Hände locker am Lenker, großer Gang. Immer wenn ich diesen geraden Blick bei ihm sah, wusste ich: Das ist ein guter Tag für ihn.«
Sie ging wieder zum Herd. Den Test hatte sie gut bestanden. Ich erinnerte mich auch noch an diese Bergetappe. Induráin in Topform.
Lisa riss eine Packung Spaghetti auf und ließ den Inhalt in einen Topf mit kochendem Wasser gleiten.
»Kohlenhydrate. Die halten deinen Motor am Laufen.«
Ich wagte nicht, das Angebot abzulehnen. Außerdem hatte sie recht: Mein Magen war leer. Sah sie mir das an?
»Ich wollte eigentlich nur meine Trinkflasche auffüllen und dann weiter.«
»Typisch Rennradfahrer«, sagte sie.
Sie hatte mir den Rücken zugewandt. An den leichten Bewegungen ihres Hinterns war zu erkennen, dass sie den Topf umrührte.
Ich ging nach draußen. Die Sonne stand schon ziemlich tief, trotzdem war es noch warm. Mein Fahrrad lehnte noch an dem Baum. Ich drückte eine Taste an meinem Radcomputer. Distance: 41,7 Kilometer. So weit war ich von meinem Hotel entfernt. Wenn ich zum Essen hierbliebe, würde es spät werden. Außerdem wollte ich ja noch zum Gipfel des l’Homme Mort.
»Fertig!«, rief sie auf Deutsch.
Ich ging ins Haus.
Der Dampf frisch abgegossener Pasta hing im Raum. An der Spüle verteilte die Frau die Spaghetti auf zwei Teller und goss aus einem kleineren Topf eine rote Soße darüber. Geschickt verrührte sie das Ganze und stellte die Teller auf den Tisch.
»Essen«, sagte sie, in der Befehlsform.
Sie holte ein paar Gläser und eine offene Flasche Rotwein. Dann schenkte sie ein und hob das Glas.
»Auf alle Rennradfahrer der ganzen Welt«, sagte sie.
Wir aßen und tranken, ohne ein Wort zu sagen. Bei den ersten Bissen knurrte mir noch der Magen.
Als ihr Teller leer war, fing sie an zu erzählen.
»Mein Mann fuhr auch Rennrad. Jean Hochon. Du wirst ihn nicht gekannt haben. Er war ein mittelmäßiger Rennfahrer aus der Region hier. Hat nie irgendwas gewonnen. Tagsüber musste er ganz normal arbeiten, im Schlachthaus. Er konnte immer nur morgens eine kleine Runde trainieren. Dann wird das natürlich nie etwas.«
Sie stellte die Teller bei der Spüle ab. Die Spaghetti lagen mir schwer im Magen, aber ich merkte, dass mein Energielevel wieder zunahm. Ja, ich musste meine Trinkflasche nehmen und wieder aufs Rad steigen. Ich stand auf. Lisa kam einen Schritt näher.
»Leg dich mal aufs Bett.«
Ihre Stimme klang entschlossen.
»Äh, ich würde Ihnen eigentlich gern einen kleinen Obolus anbieten für das leckere Essen und …«
»Jetzt leg dich mal hin. Lisa macht jetzt ihre Arbeit zu Ende.«
Zugegeben, ich hatte frecherweise ihr Haus betreten und mich neugierig umgesehen. Nicht ganz die feine englische Art, aber es erwuchs daraus auch keine Verpflichtung, hier länger zu bleiben.
Lisa zeigte auf das Bett. »Ich weiß, wie schwer der l’Homme Mort ist«, sagte sie.
Es war der entschlossene, gebieterische Blick in ihrem ovalen Gesicht, dem ich mich fügte. Was konnte schon passieren, wenn ich mich aufs Bett legte? Vielleicht würde sie für mich beten. Die Gegend war stark katholisch.
Aus Höflichkeit zog ich meine Radschuhe aus. Ich stellte sie vor dem Bett ab und ließ mich langsam auf den Rücken sinken. Im Fensterrahmen hingen Spinnweben.
Das Bett fühlte sich klamm an. Auf diesen Laken hatten schon viele gelegen. Die Laken rochen nach Männern. Verschwitzten Männern.
»Wo ist denn Ihr Mann, wenn ich fragen darf? Fährt er immer noch?«
Sie ging zur Spüle und holte hinter ein paar Töpfen und Pfannen eine Sprühdose hervor, die sie kräftig schüttelte.
»Jean ist tot. Schon zwanzig Jahre. Er hat sich bei der Schlachterei eine Infektion eingefangen. Durch eine Verletzung beim Entbeinen. Sein Arm wurde ganz dick und blau. Mit hohem Fieber haben sie ihn im Krankenhaus aufgenommen, in Carpentras. Drei Tage später war er tot. Schwere Blutvergiftung, sagten sie.«
Sie setzte sich neben mich aufs Bett und zog mir die weißen Socken aus. Ich schämte mich für meine schmutzigen Fußnägel, aber Lisa schien sie gar nicht zu sehen.
»Mein Mann war vielleicht kein besonders guter Radrennfahrer«, sagte Mona Lisa mit einem verträumten Blick in den Augen, »aber er hatte die schönsten Beine von allen hier in der Gegend. Er selbst war auch stolz darauf. Alle zwei Tage hab’ ich sie rasiert. Ganz altmodisch, mit Klinge und warmer Rasierseife. Dieses angenehme, leichte Kratzgeräusch auf seiner Haut. Ich hab’ das immer noch im Kopf, als wäre es gestern erst gewesen. Jean hasste es, wenn Stoppeln zu sehen waren. Und ich auch, ehrlich gesagt. Die Frau eines Radrennfahrers kann ihren Mann nachts nicht richtig liebhaben, wenn diese kleinen Stachel in ihre weiche Haut piksen.«
Sie schüttelte die Sprühdose noch ein paar Mal und drückte dann auf den Knopf. Weißer Schaum landete auf meinen braunen Beinen. Geschickt verteilte sie ihn gleichmäßig, bis alle Stellen bedeckt waren.
»Jetzt ein paar Minuten still liegen bleiben.«
Wofür war dieses Zeug? Der Geruch erinnerte an Desinfektionsseife in Krankenhäusern. Oder vielleicht war es so eine Art Tigerbalsam. Dann würden sich meine Beine jetzt bald warm anfühlen.
Über mir erklomm Lucho Herrera in seinem Bergtrikot eine steile Asphaltstrecke. Fans mit nackten Oberkörpern feuerten ihn an. Sie streckten die geballten Fäuste in die Luft und jubelten dem Bergkönig zu, aus vollen Lungen, der dünnen Luft zum Trotz. Herrera. Auf den ebenen Strecken der Tour de France konnte der kleine Kolumbianer kaum Anschluss an das Peloton halten. Erst in den Bergen fühlte er sich zu Hause, fern von dem nervösen Gewimmel im Hauptfeld. Lenker an Lenker zu fahren, war nichts für ihn. Wie viele Kletterer war auch er ein Einzelgänger auf seinem Rad.
Lisa kam mit einem nassen, tropfenden Handtuch zurück. Sie legte es mir auf die Schenkel und fing an, es kräftig hin und her zu reiben.
»Voilà!«, rief sie aus.
Zusammen mit dem Schaum verschwanden die Haare von meinen Beinen. Durch die braune Haut schimmerten Adern hindurch, die ich noch nie so deutlich gesehen hatte.
Wenn das alles war, wovor hatte ich dann Angst gehabt? Lisa leistete gute Arbeit. Sie ging zu einem Schrank. Flaschen klirrten. Ich schaute hinüber. Sie hatte eine Flasche mit einer durchsichtigen grünen Flüssigkeit herausgenommen und öffnete den Schraubverschluss.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Mein Geheimnis«, sagte Lisa. Sie goss mir die Flüssigkeit über die nackten Beine. Die fettigen kleinen Rinnsale kitzelten die Haut. Es roch nach Eukalyptus. Ich hob den Kopf aus den Kissen, um sehen zu können, was sie machte. Mit ihren molligen Händen verrieb sie das Zeug auf meinen Ober- und Unterschenkeln.
»Sie haben alle hier auf diesem Bett gelegen. All die großen Fahrer, die da über dir hängen. Herrera. Ich konnte ertasten, wie fest seine Muskeln an den Knochen saßen. Wie kleine Schweinelenden, in der Mitte rund, zu den Enden hin immer härter. Er ist hier jedes Mal eingeschlafen. Unterhalten konnten wir uns nicht, er mit seinem Spanisch, ich mit meinem Argot aus der Gegend hier. Unmöglich. Aber meine Hände verstanden seine Beine.«
Ich ließ den Kopf wieder in das Kissen sinken. Dann spürte ich, wie sie noch einen Schuss von dem hellgrünen Zeug auf meine Beine tat. Geschickt hob sie mein eines Bein hoch. Die Flüssigkeit lief mir über die Haut. Rasch rieb sie auch die Rückseite meiner Schenkel ein, ohne dabei etwas auf die Laken tropfen zu lassen.
»Und bei Bernard Hinault, diesem verrückten Bretonen, musste ich kräftig zupacken. Der hatte so dicke Haut, so zähes Fleisch, dass ich fest mit den Daumen durchdrücken musste, wenn ich an seine Muskeln kommen wollte. Plus fort, plus fort!, rief er dann immer. Ein richtiger Wilder, dieser Hinault.«
Aus ihrem Zwerchfell kam ein sonderbares Kichern. Es klang viel höher als ihre normale Stimme.
Mit Daumen und Zeigefinger beider Hände packte sie meine Wadenmuskeln und rieb das Öl zu meinem Knie hin ein. Es fühlte sich an, als würde sie mit dem Blut herumspielen, das sich in dem Muskel gesammelt hatte. Es tat weh, aber zugleich war es angenehm.
»Koblet. Ein totales Weichei. Verweiblicht. Sie nannten ihn ja auch den schönen Hugo. Trug immer einen Kamm in seiner Trikottasche. Wie steifes Ziegenfleisch, so fühlte sich das bei ihm an. Und wenn ich ihn massierte, entstanden immer kleine Dreckwülste unter meine Fingerspitzen. Ein Radrennfahrer, der sich nicht wusch. Du bist schön sauber. Du schwitzt natürlich, aber es ist sauberer Schweiß. Fahrradschweiß. Der Geruch ist unvergleichlich.«
Lisa wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab und ging in die Mitte des Raums. Sie zog eine Schachtel Streichhölzer hervor und steckte eine große, halb abgebrannte Kerze an, die in der Mitte des Tisches stand. Der Lichtschein fiel auf ihr Gesicht. Ihre Falten bildeten ein Meer von kleinen Wellen.
Ich unterdrückte ein Gähnen. Es war stickig hier drinnen. Lisa kam zum Bett zurück und setzte sich wieder neben mich. »Fausto Coppi, den mochte ich am liebsten. Zartes Wadenfleisch, bis in die kleinste Faser durchblutet. Für ihn nahm ich mir immer alle Zeit der Welt. Fausto, das war ein Schatz. Wenn er sein Fahrrad den Pfad hier zu unserem Haus hinunterschob, pfiff er immer das Mona-Lisa-Lied vor sich hin.«
Sie fing im Flüsterton an zu singen. In schlechtem Englisch, ich musste mich anstrengen, um die Worte zu verstehen. Die Augen fielen mir zu. Sie fing an, über meine Schenkel zu reiben. Mit beiden Händen umfasste sie den größten Muskel, kniff leicht hinein und glitt dann an den Leisten hinauf. Mal um Mal wiederholte sie diese Bewegung.
Ich ließ sie gewähren. Sie drückte mir die Müdigkeit aus den Beinen heraus, die sich allmählich immer leichter anfühlten. Coppi. Hatte der italienische Weltmeister nicht einen blinden Masseur gehabt? Cavanna. Vorsichtig hatte er sich mit Stock und Sonnenbrille durch die Welt des Radsports hindurchgetastet. Aber wenn ihm der Geruch von Massageöl in die Nase gestiegen war und er die Beine seines Fausto berührt hatte, hatte er sich im Wirrwarr aus Muskeln und Sehnen zielsicher zurechtgefunden.
Ich konnte das Gähnen nicht mehr unterdrücken. Kämpfte gegen den Schlaf an. Lisa rieb über meine Oberschenkel. Sie glühten. Der ganze Raum roch nach Eukalyptus.
Ich musste das Gespräch am Laufen halten. Hier einzuschlafen, wäre ein bisschen zu weit gegangen. Ich kannte Lisa überhaupt nicht. Außerdem hatte ich bis zu meinem Hotel noch ein gutes Stück Weg vor mir. Ich versuchte mich zu konzentrieren. Kamen all die Rennfahrer hier vorbei, um in den Bergen zu trainieren? Bahamontes kam doch aus Toledo, Pantani wohnte in Italien. Was suchten sie hier?
Lisa ging wieder zum Tisch. Sie nahm einen großen Schluck aus der Weinflasche.
»Lisa, was hat diese berühmten Kletterer eigentlich hierher verschlagen?«
Sie kam wieder zu mir. Auf ihrem Hals und ihren Unterarmen waren rote Flecken entstanden. Sie sprach leiser als zuvor: »Mon ami, du fragst zu viel. Genieß es einfach, so wie deine Vorgänger.«
Ich überlegte mir noch eine neue Frage. Coppi … wie, in Gottes Namen, konnte Coppi hier auf diesem Bett gelegen haben? Der war schon 1960 gestorben, am 2. Januar. Das hatte ich mir gemerkt, seit ich seine Biografie gelesen hatte.
»Lisa, hast du Coppi noch lebend gesehen?«, fragte ich träge. »Wie alt bist du denn?« Ich fing an zu rechnen.
Sie goss noch etwas Eukalyptusöl auf meine Beine. Ich spürte, wie es mir an der Innenseite des linken Schenkels hinablief. Das vertraute Jucken. Ich war zu müde, um mich zu kratzen.
»Sie haben Angst in den Bergen«, flüsterte Lisa. »Angst, alleine zu sein, genau wie alle Menschen. Ich schenke ihnen mein Lächeln, damit sie die Angst überwinden. Wer hier gelegen hat, dem kann nichts mehr zustoßen. Alle Radrennfahrer wissen das.«
Ihre Hände glitten über meine Schenkel. Meine Muskeln fühlten sich weicher an als jemals zuvor. Ich versuchte, mich aufzurichten, aber meine Finger fanden keinen Halt, die Matratze war spiegelglatt. Ich spannte die Oberarme an, dann die Bauchmuskeln. Für einen Augenblick kam es mir vor, als hätte ich es fast geschafft.
Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Mit ihren dicken Fingern strich sich Lisa die Haare aus dem Gesicht, dann öffnete sie den obersten Knopf ihres Kleids. Und den darunter. Ihre alten Brüste hingen lose in ihrem Unterkleid, die kleinen Schweißperlen in ihrem Dekolleté glommen im Kerzenschein. Eine schwere Welle lief durch meinen Kopf, die Muskeln in meinen Oberarmen erschlafften. Ich konnte mich nicht mehr halten, musste loslassen. Los. Ich fiel. Tiefer, als ich je gefallen war.
Wie lange war ich weg gewesen?
Die Kerze auf dem Tisch spendete gerade noch so viel Licht, dass ich die Fotos über mir erkennen konnte. Lucho Herrera fuhr noch immer an derselben Stelle der Bergflanke, seine Fans machten ihm weiter Mut. Die verchromten Speichen seines Rads waren erstarrt.
Neben meinem Bett hörte ich jemanden schwer atmen. Ich drehte mich auf die Seite. Eine Mischung aus Schweiß, Eukalyptus und einer Alkoholfahne stieg mir in die Nase.
Lisa musste auf dem Boden eingeschlafen sein. Sie lag auf der Seite. Die Träger ihres Unterkleids waren ihr von den Schultern gerutscht. Ihre Hände lagen zwischen den nackten Schenkeln. Es war der größte Fötus, den ich je gesehen hatte.
Langsam richtete ich mich auf. Ihr Blumenkleid lag zusammengeknüllt neben meinem Kopf auf dem Bett. Ich drehte mich so, dass ich auf der Bettkante sitzen konnte. Meine Füße berührten jetzt den Boden, dicht neben dem schlafenden Gesicht Lisas. Es war zweifellos schon viel Rotwein durch diesen Körper geflossen. Ich betrachtete sie aus der Nähe. Das Lächeln einer jungen Frau in einem alten Gesicht. Je länger ich es anschaute, desto mehr verwandelte es sich in ein leichtes Grinsen. Ein sardonisches, glückseliges Grinsen.
Behutsam, Schritt für Schritt, schlich ich an dem schlafenden, halb nackten Körper vorbei. Sie erinnerte mich an einen treuen Hund, der in der Nähe seines Herrn schlief, aber seinen Jagdinstinkt schon verloren hatte.
Ich ging zum Tisch in der Mitte des Raums, um meine Trinkflasche zu nehmen. Wasser, dafür war ich schließlich gekommen. Es schien mir vernünftig, die Kerze auszublasen.
»Merci, Lisa«, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein.
Um nicht irgendwo gegen zu laufen, schlurfte ich mit ausgestreckten Armen zur Tür. Durch die Plastikfäden konnte ich mein Fahrrad sehen. Es war eine klare Nacht, der Mond schien. Draußen war es immer noch warm, wenn auch zum Glück nicht so stickig wie drinnen. Ich steckte meine Trinkflasche in den Halter. Dann nahm ich den Helm vom Lenker und setzte ihn auf. Ich schob das Fahrrad ein paar Schritte über das lose Geröll. Hoffentlich wurde Lisa von dem Geräusch nicht wach. Im Haus blieb es still.
Oben an der Asphaltstraße schwang ich das rechte Bein über den Sattel und klickte den Schuh ins Pedal. Besonders weit sehen konnte man nicht. Links ging es hinunter zum Hotel, rechts hinauf zum Col de l’Homme Mort.
Ich hatte geschlafen, hatte Wasser in der Trinkflasche, einen vollen Magen, Öl auf den Beinen.
Wie hatte Lisa gesagt, als ich auf dem Bett gelegen hatte? »Wer hier gelegen hat, dem kann nichts mehr zustoßen.«
Ich fuhr los, nach rechts.
Meine schläfrigen Augen folgten dem durchgezogenen weißen Streifen neben mir auf dem Asphalt. Es ging gut. Der große Gang bereitete mir keine Schmerzen.
Die Farbe des Berges veränderte sich, der Bewuchs wurde dünner. Am Straßenrand stand ein Schild: COL DE L’HOMME MORT OUVERT. Natürlich war der Pass »offen«. Ich konnte bis zum Gipfel.
Es war dunkel, so ohne Licht am Rad. Zum Glück beschien der Mond die Flanke des Bergs. Meine Beine gehorchten mir vollkommen. Ich schaltete einen Gang hoch, um noch mehr Kraft auf die Pedale bringen zu können.
Keine Schilder mehr, keine Häuser, keine Menschen. Der Tote Mann war ein stiller Berg. Meine Beine glühten. Da war wieder das Schild am Straßenrand, mit dem Namen und der Höhe des Bergs: COL DE L’HOMME MORT, 1163 MÈTRES.
Ich stand auf dem Gipfel.
Zufrieden stieg ich ab und griff nach meiner vollen Trinkflasche. Das Wasser schmeckte anders als das aus meinem Hotel. Weicher. Laternen markierten den Weg ins Tal hinab. Wo lag Lisas Haus?
Eine frische Brise trieb mir alle Müdigkeit aus, ohne jedoch meine Beine zu kühlen, die immer noch glühten. Ich trank die ganze Flasche leer. Wie von selbst wanderten meine Mundwinkel nach oben: Ich strahlte.
Ich stieg auf mein Fahrrad und machte mich im Dunkeln an die Abfahrt. Der Wind sauste mir um die Ohren. Und die ganze Zeit über stand mir ein Lächeln im Gesicht.
Ich holte tief Luft und schrie ihren Namen heraus.
Er wurde von einem Berg zum nächsten getragen.
Ich rief noch einmal, diesmal mit einer kurzen Pause.
Li-sa.
Sie war jetzt allein mit ihren Radrennfahrern. Von ihren Rädern aus schauten sie Lisa an. Niemand durfte Lisa zu nahe kommen. Sie gehörte den Kletterern. Jetzt gehörte sie auch mir.