Читать книгу Ein Mann und sein Rad - Wilfried de Jong - Страница 8

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Schwarze Federn

Blesshühner.

Das linkische Getrippel erkannte ich schon aus großer Entfernung. Es waren zwei. Herr und Frau Blesshuhn, wahrscheinlich. Stolz überquerten sie den Fahrradweg. Der Asphalt war nur drei Meter breit, Autos durften hier nicht fahren. Die Wasservögel hatten alle Zeit der Welt.

Ich hatte den Wind im Rücken. Auch ohne zu treten, konnte ich die Geschwindigkeit halten. Eine unsichtbare Hand schob mich auf den letzten Kilometern meiner wöchentlichen Fahrt zurück in die Stadt.

Es war Brutzeit. Unterwegs hatte ich viele Vögel gesehen, die eifrig mit Strohhalmen und kleinen Zweigen beschäftigt gewesen waren. Haubentaucher, Enten, Teichhühner. Blesshühner bauten am liebsten treibende Nester. Auf dem Wasser wähnten sie sich sicher.

Was hatte die zwei Blesshühner dazu bewogen, hier an Land zu gehen? Nahrung?

Entlang des Radwegs standen Villen. In den letzten Jahren waren hier viele freistehende Einfamilienhäuser neu gebaut worden. Wer es sich leisten konnte, entfloh der städtischen Hektik und nahm sich eine Wohnstatt mit Blick auf das beruhigende Wasser der Rotte.

Noch etwa fünfzig Meter. Jetzt mussten die Vögel langsam mal in die Gänge kommen.

»Hopp, hopp!«, rief ich.

Das vordere Blesshuhn reagierte erschrocken. Das hintere trippelte zurück und sprang von der schmalen Böschung ins Wasser. Noch dreißig Meter.

Das andere Tier blieb auf dem Asphalt stehen. Blesshuhn, im Zustand des Zweifelns. An seinen Bewegungen sah ich, dass es eine Abschätzung der Lage vornahm: vor oder zurück?

Noch zwanzig Meter. Das Tier hob den rechten Fuß und setzte ihn dann wieder an derselben Stelle auf. Es tat nichts, sondern sah mich nur an.

»Weg!«, rief ich. Ein viel zu menschlicher Ausruf, der das Blesshuhn erstarren ließ. Ich bremste.

Im Fernsehen hatte ich mal eine Verkehrssendung gesehen, in der es um die Länge des Bremswegs gegangen war. Fahrer schätzten den Abstand oft falsch ein. Sie neigten dazu, ihren Bremsen überproportionale Kräfte anzudichten und ihre tatsächliche Geschwindigkeit zu unterschätzen. Wie vernichtend die Wirkung eines Zusammenstoßes sein kann, wird einem erst bewusst, wenn man den Unfall noch einmal in Zeitlupe sieht.

Mein Bremsweg war eindeutig zu lang. Mit lautem Quietschen scheuerten die Bremsbeläge an den Felgen, mein Hinterrad rutschte weg. Das Blesshuhn erschrak von dem Geräusch. Es machte sich kleiner, indem es die Krallen unter sein Gefieder steckte.

Ich musste dem Tier ausweichen. Nach links oder nach rechts?

Wo befand sich bei einem Blesshuhn die Knautschzone?

Das Tier zog den Kopf ein und schien abzuwarten. Mit seinen Kulleraugen schaute es mir entgegen. Noch ein Meter. Unerwartet machte das Blesshuhn einen Sprung. Es hatte sich für die Flucht entschieden. In die falsche Richtung.

Es war nicht mehr zu verhindern.

Mit hoher Geschwindigkeit prallte mein Vorderrad auf die Brust des Tieres. Ich verlor das Gleichgewicht und musste höllisch aufpassen, nicht zu stürzen. Schwarze Federn wirbelten durch die Luft. Flügel ratterten an meinen Speichen entlang. Mit Hüftbewegungen versuchte ich den Sturz aufzuhalten. Das Blesshuhn drehte sich im Vorderrad mit und wurde dann zwischen den Speichen und der Gabel eingequetscht. Das Vorderrad blockierte, der Vogel klemmte in der Gabel fest, das Hinterrad ging hoch. Ich ließ die Bremsen los. Unter meinen Pedalen plumpste das Blesshuhn auf den Asphalt.

Schwarz auf schwarz.

Im nächsten Augenblick rollte mein Hinterrad über das Tier hinweg. Ich hörte ein Knacken. Wie wenn man bei einem Brathähnchen an einer Keule dreht, bis der Knochen vom Fleisch abreißt.

Erst ein paar Meter weiter kam ich zum Stillstand, mitten auf dem Fahrradweg. Das Tier lag reglos da.

Tot?

Ein paar Daunen wirbelten noch um das Blesshuhn herum. Der Kopf des Tiers war seltsam abgeknickt. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich wendete das Rad und fuhr zurück. Das eine Kullerauge war halb geöffnet. Ich konnte kein Anzeichen von Leben darin erkennen, es blickte an mir vorbei. Wie das schwache Auge des Nachbarjungen aus meiner Kindheit, wenn er vor dem Schlafengehen von seiner Augenklappe erlöst wurde. Ein benommener, unscharfer Blick.

Langsam hob sich der linke Flügel vom Asphalt. Ein letztes Zucken? Die Federn standen wild in alle Richtungen ab. Der Wind fuhr hinein und blies sie auseinander. Dann sank der Flügel wieder zu Boden.

Ich schaute um mich. Musste man nach einer Kollision mit einem Wasservogel den Tierrettungsdienst rufen? Das Blesshuhn und ich befanden uns auf Höhe einer Villa mit einem frisch gedeckten Reetdach. Hinter den Fenstern war niemand zu sehen.

Vom Wasser schallte ein hervorgestoßener Kehllaut herüber. Das Geräusch kehrte alle paar Sekunden wieder. Hinter dem Schilf erschien das Blesshuhn-Weibchen. Unruhig schwamm es im Fluss hin und her.

Wann ist ein Vogel tot? Ich hatte schon Menschen sterben sehen. Wenn die Hautfarbe sich veränderte und die Totenstarre eintrat, wusste man, dass jetzt das Leben einen Körper verließ. Wie ein Geist die Flasche. Bei einem sterbenden Menschen war der Unterschied zwischen noch am Leben und schon tot klar zu erkennen. Bei einem Tier wusste ich nicht, worauf ich achten musste.

Gaben die Hirnzellen des Blesshuhns noch irgendwelche Reize an den verunstalteten Körper weiter, oder war das, was ich vor mir sah, nur noch ein zusammengeknüllter Packen von Knochen und Federn? Der eingedrückte Brustkasten des Tiers bewegte sich nicht mehr. Aber ich musste mich selbst davon überzeugen, dass das Tier tot war. Wankelmut wäre feige gewesen.

Mit der Spitze meines Fahrradschuhs stieß ich vorsichtig den Kopf des Blesshuhns an. Der Schnabel öffnete sich leicht.

Leben. Verdammt.

Ich umklammerte den Lenker und rollte das Rad über den Hals des Blesshuhns. Vor, zurück, vor, zurück. Zu meinem Schrecken fing der Flügel wieder zu schlagen an. Das letzte bisschen Leben? Sicherheitshalber drückte ich mit dem Reifen den Hals noch einmal platt. Wieder eine Bewegung des Flügels. Weniger hoch als davor, aber doch deutlich wahrnehmbar.

Vielleicht drückte ich dem Blesshuhn ja nur die Luft ab. Um es von seinem Leiden zu erlösen, musste ich das Gehirn zertrümmern. Ich hob mein Vorderrad an und rammte es dem Tier ein paar Mal auf den Kopf. Kleine Teile des weißen Hornschilds lagen jetzt auf dem Asphalt. Aus dem offenen Schnabel lief Blut. Das Auge war zerquetscht. Das Blesshuhn hatte kein Gesicht mehr. Totalschaden, hätte die Feststellung bei einem Auto gelautet. Das Tier konnte man abschreiben.

Adrenalin schoss durch meinen Körper. So musste sich ein Mörder fühlen, nachdem er seinem verstümmelten Opfer den Gnadenstoß verpasst hatte.

Jetzt war es tot, ja. Das Blesshuhn war tot. Da war ich sicher. Ganz sicher. Mir war speiübel.

Unwillkürlich war ich in die Rolle eines Verbrechers geraten. Was sollte ich mit der Leiche machen? Sollte ich ein weißes Taschentuch darüberlegen oder das tote Tier an den Beinen in die Böschung ziehen? Ich nahm meinen eigenen Körpergeruch wahr. Das war kein Schweiß vom Radfahren. Das war Angstschweiß.

Wieder sah ich mich um. Niemand. Nur das schneidende Gequäke des anderen Blesshuhns, das mich vom Wasser aus beobachtete.

Ich konnte den verwüsteten Kadaver wohl kaum so liegen lassen. Wenn ich das tote Blesshuhn in den Schilfgürtel des Flusses warf, würde es niemand merken.

Ich sah zu dem unruhig hin und her schwimmenden Weibchen. Es waren Tiere, keine Menschen. Aber trotzdem, mit einem toten Blesshuhn nach einem lebenden zu werfen, das konnte ich wirklich nicht bringen.

Vor dem Haus mit dem Reetdach war der Garten bis zum Fahrradweg umgegraben. Lose, nicht festgetretene Erde. Ich legte mein Rad am Rand des Wegs ab und hob das schlaffe Blesshuhn an den Beinen hoch. Der blutige Kopf baumelte über dem Asphalt.

Ich legte das Tier vorsichtig auf die umgepflügte Erde und fing schnell zu graben an. Es ging leicht. Ich musste nur ein paar Mal kräftig mit den Händen hineingreifen, dann hatte ich die gewünschte Tiefe erreicht. Ich legte das Blesshuhn in die Kuhle.

Friedlich lag es da, mit schlaff aus dem Gefieder hängenden Beinen und vorgeneigtem Kopf. Es erinnerte mich an einen alten Mann mit schwarzem Pullover, der in seinem Sessel vor dem Fernseher eingedöst ist.

Während ich die aufgeschüttete Erde auf den toten Tierkörper schaufelte, sah ich auf. In der Ferne waren zwei Rennradfahrer zu sehen. Sie kamen näher. Hastig plättete ich den Boden. Man konnte kaum erkennen, dass hier jemand gegraben hatte. Noch ein letztes Mal fuhr ich mit den Fingern durch die Erde.

Die beiden Radfahrer waren ziemlich schnell. Sie trugen Trikots von bekannten Radsport-Teams. Sky und Leopard.

Ich wischte mir die Finger an der Radhose ab und stellte mein Fahrrad in Fahrtrichtung. Pro forma fummelte ich ein bisschen an der Hinterradbremse herum. Zwischen den Schilfhalmen gab das Weibchen immer noch seine alarmierenden Kehllaute von sich. Damit konnte es jetzt aber auch langsam aufhören.

Hinter mir erklang eine Fahrradklingel. Derselbe helle Klang wie bei der Glocke im Restaurant, wenn der Koch sein fertiges Gericht unter eine rote Warmhaltelampe schiebt.

Die beiden Männer fuhren an mir vorbei. Der hintere Fahrer, der im Sky-Trikot, warf mir einen Blick zu. War er neugierig, was an meinem Rad kaputt war? Kurz begegneten sich unsere Blicke. Dann fuhr er in schnellem Tempo hinter dem Rücken seines Fahrradkumpels her.

Hatte er mich beim Graben gesehen?

Ich schaute zu der Stelle zurück, wo der Vogel unter der Erde lag. In meiner Jugend hätte ich mir mehr Mühe mit dem Grab gegeben und aus Stöcken und einem Gummiband noch ein Kreuz zusammengezimmert. Jetzt kam es mir mehr auf Anonymität an. Es war ein Unfall. Ein Unglück, Schicksal, bloßes Pech.

Das Blesshuhnweibchen trieb nun still auf dem Wasser. Es hatte aufgehört zu quäken, schaute mich aber immer noch an.

Der Fahrradweg lag einsam und verlassen da, die beiden Rennradfahrer waren außer Sichtweite. Als ich mich mit dem freien Fuß abstieß, wurde mein Blick von der Villa angezogen, vom Wohnzimmerfenster. Durch einen Spalt zwischen den Gardinen sah ich die Umrisse eines Gesichts und ein graues Haarbüschel. Spähte da eine Frau hinaus? Wie lange stand sie dort schon? Schnell wandte ich mich ab und trat kräftig in die Pedale. Ich wagte mich nicht mehr umzuschauen.

Es war um dieselbe Zeit herum, eine Woche später, etwa zwölf Uhr mittags. In den letzten Tagen war es wärmer geworden. Man konnte den Sommer schon riechen.

Ich fuhr den Fahrradweg an der Rotte entlang und schaute auf mein Vorderrad. Auf dem Gummiprofil des Reifens waren rote Flecken gewesen. Mit Scheuerschwamm und warmem Wasser hatte ich das Blut abgewischt. Nach ein paar Mal Wischen war es weg gewesen. Auch das letzte Beweismaterial hatte ich verschwinden lassen. Ich hatte den Schwamm in den Abfall geworfen und gleich noch den Müllsack gewechselt. Erst als der Müllmann am nächsten Tag den Sack in das gähnende Loch an der Hinterseite seines Wagens geworfen hatte, war ich sicher gewesen, dass alle Spuren getilgt waren.

Bei diesem schönen Wetter waren auch die Wasservögel wieder aktiv. Gerade tauchte ein Haubentaucher geschmeidig unter Wasser. Ich fuhr zu schnell, um zu sehen, wo er wieder hochkam. Kurz hinter der Zugbrücke lag ein Nest im Schilf. Ein Blesshuhn brütete darin, wachsam streckte es den Kopf hoch. Lagen da schon Eier unter den Federn?

In der Ferne tauchte das Reetdach der Villa auf. Um nicht wiedererkannt zu werden, hatte ich mein blaues Italien-Trikot gegen ein älteres von Acqua & Sapone eingetauscht. Ein knallrotes. Außerdem trug ich eine Sonnenbrille, obwohl der Himmel halb bewölkt war.

Noch eine Kurve, dann sah ich die Villa vor mir liegen.

Gegenwind. Ich schaltete einen Gang herunter und musste kräftig treten, um das Tempo zu halten. Noch knapp zweihundert Meter. Wie oft hatte ich diesen Teil meiner festen sonntäglichen Tour nicht schon gedankenlos abgefahren? Jetzt nahm ich alles ganz genau wahr: die Böschung, die Sträucher, die Breite des Flusses, die Laternenpfähle, den Schilfgürtel.

Neben der Villa parkte ein Geländewagen mit einem Anhänger. Noch dreißig Meter. Ich nahm die Beine hoch und verringerte mein Tempo. Auf der Heckklappe des Autos stand VAN WEELDEN TUINARCHITECTEN. Ein Gartenarchitekt. Ein Mann im Overall lehnte mit dem Rücken an der Seite des Wagens. Er telefonierte und trat dabei mit den Hacken seiner Stiefel gegen den Hinterreifen. Kleine Erdbrocken fielen zu Boden.

Ich schaute schräg zur Seite. Zu der Stelle. Zu dem Blesshuhngrab. Meine Augen suchten den Garten ab. Lose, dunkle Erde war nirgends mehr zu sehen. Und doch war ich sicher, dass es hier gewesen war. Jetzt erst sah ich es. Sie hatten Grassoden über die Erde gelegt. Man konnte noch sehen, wo zwischen den einzelnen Plaggen die Fugen verliefen.

Vor der Hauswand war ein Streifen Erde frei geblieben. Ein Junge in einem Overall saß dort auf den Knien. Neben ihm stand ein Holzkasten mit knallorangen Samtblumen. Er grub keine Löcher in die Erde.

Mitten auf dem frischen Rasen standen ein paar Gartenmöbel zusammen. Auf einem der Liegestühle saß eine Frau, die eine Zeitschrift las. Ich erkannte sie wieder. Hinter der Umschlagseite ragte ihr grauer Haarschopf hervor. Schnell trat ich wieder in die Pedale.

Am Rand des Rasens, vor dem Fahrradweg, standen zwei Glasschalen im Gras. Als ich daran vorbeifuhr, warf ich einen Blick hinein. Kleine Stücke Weißbrot. Ohne Rinde.

Dann war ich vorbei. Dem anhaltenden Gegenwind zum Trotz schaltete ich hoch. Links neben mir wiegte sich das Schilf. Im Fluss schwammen Blesshühner. Es waren mehr als je zuvor.

Ein Mann und sein Rad

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