Читать книгу Ein Mann und sein Rad - Wilfried de Jong - Страница 9

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Aufkleber

Beobachtet fühlte ich mich ganz und gar nicht, hier in der Metropole. Ich beschloss, die Gardinen meines Hotelzimmers offen zu lassen. In den Lofts auf der anderen Straßenseite hatte ich niemanden am Fenster stehen sehen.

Ich wollte gerade meine schwarze Radhose anziehen, als es an der Zimmertür klopfte. Es war ein Uhr mittags. Die Zimmerreinigung konnte es nicht sein. Ich hatte gerade erst eingecheckt.

»One moment, please!«

Hastig zog ich die Hose hoch und die Träger über die Schultern. Dann öffnete ich die Tür.

Hinter einem kleinen Wagen mit Softdrinkdosen, Nüssen, Nougat und Schokolade stand eine etwas ältere Frau, die indischer Herkunft zu sein schien. Sie hatte einen kleinen roten Punkt auf der Stirn.

»Welcome to Hotel Thompson. You want ice?«, fragte sie, mit einem Lächeln, das ein bisschen forciert wirkte.

Sie tippte auf den Deckel eines weißen Eimers, der ganz oben auf dem kleinen Wagen stand. Ihre langen künstlichen Fingernägel waren golden lackiert.

Nein, ich brauchte kein Eis.

Bevor ich die Tür wieder schloss, drückte sie mir etwas kleines Quadratisches in die Hand, dazu ein Formular. Letzteres war offenbar die Bestellliste für das Frühstück. Irish oatmeal, home-made granola, smoked salmon, skimmed milk.

An den nächsten Morgen wollte ich jetzt noch nicht denken. Heute würde ich zum ersten Mal in meinem Leben in New York Fahrrad fahren. Vor ein paar Stunden war ich auf dem Flughafen JFK gelandet.

Das quadratische Etwas erwies sich als verpackter Brownie. Eine Gratis-Nascherei, mit der das Hotel seine Gäste willkommen hieß. Auf der Rückseite stand: BAKED JUST FOR YOU, MY PRETTY. Hersteller: Fat Witch Bakery.

Ich zog mein Trikot an. Das Gebäck steckte ich in die Rückentasche. Für den Fall, dass ich unterwegs einen Hungerast bekam.

Im Internet hatte ich gute Kommentare zu einem Fahrradverleih an der West Street gelesen, Downtown Manhattan. BICYCLES, stand in großen Lettern an der Fassade über dem Laden. Ich stieg aus dem Taxi und ging hinein.

In dem kleinen Ladenraum hingen hauptsächlich Helme und Schlösser an der Wand. An der Ladentheke standen drei Stadträder und zwei verchromte Roller. Ein junger Mann mit rasiertem Kopf kam auf mich zu. Er wischte sich an einem ausgefransten Putztuch die Hände ab.

»Vermietet ihr auch richtige Räder?«, fragte ich ihn.

»Was meinst du mit richtig?«

»Na, zu Hause fahre ich ein racebike.«

Er lachte. »Nein, wir haben hier nur hybrids

Citybikes. Sportliche Stadträder, die so tun, also wären sie Rennräder. Die Transsexuellen unter den Zweirädern.

Der junge Mann bedeutete mir, mit nach draußen zu kommen. An der Wand stand ein glänzendes Rennrad. Sie vermieteten also doch welche. Es war ein Bottecchia, wie man an den großen Buchstaben auf dem Unterrohr des Rahmens ablesen konnte, mit Carbonfelgen von Ambrosio.

Der Junge mit dem kahlen Kopf sah meinen begierigen Blick. »Sorry«, sagte er. »Das war jetzt blöd von mir. Das Rad gehört dem Jungen, der hier mitarbeitet, der steht auch auf italienische Rahmen. Ist leider nicht zu vermieten. Aber du kannst unser Citybike haben.«

Er trat hinter mich und öffnete eine in den Boden eingelassene Luke aus Stahl. Über eine stählerne Rampe kam er wenig später mit einem Rad aus dem Keller hinauf.

Ich nahm das Citybike in Augenschein. Ein Biria. Ich kannte die Marke nicht. Ein wuchtiges Modell, das dafür gebaut war, beim Fahren in der Stadt keinen Schaden zu nehmen. Dicke Rohre, breite Reifen, vorn und hinten Schutzbleche, zehn Gänge und ein gerader Lenker. Vor allem beim Sattel waren Hopfen und Malz verloren. Breit, beigefarben, mit einem Loch. Ein Damenfahrrad.

Ich schlug zwei Mal kurz mit der Hand auf den Sattel und fragte: »Habt ihr noch einen anderen?«

»No, one size fits all

Der junge Mann ging zur Ladentheke und reichte mir einen Briefbogen. Der Leihvertrag. Es stand ungefähr drin, dass ich das Fahrrad heil zurückbringen musste und dass der Laden keinerlei Verantwortung übernahm, falls ich mit einem Auto zusammenknallte. Während der junge Mann eine Kopie meines Führerscheins anfertigte, unterschrieb ich das Formular.

»Helm? Korb? Schloss?«, fragte er.

Einen Helm, auf einem geschlechtslosen Citybike? Einen Korb? Ich war doch kein Modenarr auf Schnäppchenjagd. Und ein Schloss? Überflüssig. Innerhalb von ein paar Stunden wollte ich einmal um Manhattan herumgefahren sein.

Hinter mir fragte ein Junge nach »free air«. Das war kein Problem. Er nahm den Schlauch von der Außenwand und pumpte seine Reifen auf.

Free air.

Für Luft bezahlen zu müssen – in New York hätte mich das nicht verwundert. Am JFK-Terminal hatte ich einen Sightseeing-Bus gesehen, mit einem Reklameschriftzug über die gesamte Breite: ENJOY YOUR 2-HOUR TOUR MORE: CLEAN AIR IN OUR BUS.

Ob das ging, die dreckige Luft von Manhattan filtern und sie dann sauber durch einen Bus hindurchpusten?

Der Ladenbesitzer pumpte meine Reifen auf.

»Prima, dann breche ich mal auf«, sagte ich.

Das Leihfahrrad neben mir her schiebend, überquerte ich die verkehrsreiche West Street, um auf die Fahrradspur zu kommen, die bike lane. Der zweispurige Weg war auf meiner Streckenkarte grün eingezeichnet, als Klasse 1. Besser ging nicht mehr. Der Weg verlief am Hudson River entlang, vom Süden Manhattans in den Norden.

Ich stieg auf das Citybike und fuhr die ersten paar Meter Probe. Fahrradfahren in NewYork. Aufregend! Ich tauchte ein in den Verkehrsstrom einer Metropole, die für hohe Geschwindigkeiten ausgelegt war. Sie war anscheinend ein Paradies für Taxis, die mit 80 Stundenkilometern über die breiten Avenues rasten, und für Metros, die wie Klapperschlangen durch die Schächte schossen.

Rechts von mir fuhren Autos in den südlichen Teil der Halbinsel, um so schnell wie möglich in den Holland Tunnel zu kommen.

Links plätscherte der Hudson in der Sonne. Ich konnte den Fluss riechen. Ein Salzgeruch, vermischt mit dem Gestank von Altöl und toten Fischen. Es roch vertraut, nach Hafen, nach dem Wasser der Maas in Rotterdam. Kurz bevor ich angekommen war, hatte das Wasser des Flusses noch gespenstisch laut gegen die Kaimauern Manhattans geschlagen. Der Orkan Irene hatte die Ostküste der Vereinigten Staaten tagelang in seinen Klauen gehalten. Doch während ganze Landstriche des Kontinents unter Wasser gestanden hatten, war New York glimpflich davongekommen.

Ich saß nicht wirklich gut auf dem Leihfahrrad. Der Sattel war unbequem und auch noch zu niedrig eingestellt. Die Innenseiten meiner Schenkel scheuerten am Kunststoff. Aber bei den vielen Radfahrern und Joggern konnte ich auch nicht einfach anhalten und absteigen. In einem großen Bogen fuhr ich um einen Mann herum, der kiloweise blubberndes Fett durch die Hitze schleppte, und brachte das Rad am äußersten Rand des Asphalts zum Stehen. Mit dem rechten Fuß stand ich schon auf dem Gras des Seitenstreifens. Schnell löste ich den Hebel unter dem Sattel und stellte ihn ein paar Zentimeter höher. Als ich wieder aufstieg, merkte ich sofort, dass ich jetzt mehr Druck auf die Pedale brachte. Es war stickig in New York. Ich war froh, dass ich mir schon im Hotel das Gesicht eingecremt hatte. »Faktor 30«, hatte in dem kleinen Kreis auf der Tube gestanden. Das musste reichen.

Rechts von mir eröffneten sich zwischen den Häuserblocks immer wieder prächtige Ausblicke auf die Stadt. 30th Street, 31th Street, 33th Street. Die Ampeln spielten mit, ich hatte drei Mal hintereinander grün. Auf Höhe der 34th Street sah ich den oberen Teil des Empire State Building. Ob wohl von den Kissing Towers aus, in 380 Metern Höhe, jemand mit dem Fernglas zu mir hinabschaute? Ein kleiner Mann auf einem Fahrrad, am Hudson River. Der es anscheinend eilig hatte.

Ein junger Mann mit nacktem Oberkörper radelte an mir vorbei, auf einem hippen Fixie: schmaler, gerader Lenker, hellgrau lackierter Rahmen, Räder mitHochprofilfelgen und beigefarbenen Reifen. Im Fahren tippte er mit seinen Daumen eine Nachricht in die Tastatur unter dem hochgeschobenen Slider seines Mobiltelefons. Als er an mir vorbeifuhr, sah ich, dass er ein Tattoo hatte, einen Adler. Das Bild des Vogels bedeckte seinen gesamten Rücken, die Federn der Flügel waren bis ins letzte Detail ausgearbeitet, in verschiedenen Farben. Kleine Schweißrinnsale liefen über den Vogel hinab.

Ich stellte den Schalthebel am Lenker auf 6 und fuhr hinter ihm her. Seine Geschwindigkeit schätzte ich auf etwa 30 Stundenkilometer.

Der junge Mann drehte sich zu mir um.

»Hi«, sagte er.

»Hi«, erwiderte ich.

Er fuhr immer noch freihändig.

»Wie lange schaffst du das, ohne Hände?«, fragte ich neugierig.

»Von der Canal Street bis zur 125th Street ist mein persönlicher Rekord.«

»Nicht schlecht.«

Seine Finger rasten über die Tasten. Er schrieb offenbar eine ziemlich lange Nachricht.

Zwischendurch drehte er sich kurz zu mir um.

»Wo fährst du hin?«

Auf der Karte hatte ich gesehen, dass dieser Fahrradweg am Hudson River entlang bis nach Inwood führte, zu einem der am weitesten im Norden gelegenen Viertel Manhattans.

»Nach Inwood und von dort wieder zurück nach Downtown Manhattan«, sagte ich, als wäre es die normalste Sache der Welt. »Und selbst?«

»Ich fahre immer von meiner Wohnung in Brooklyn zu meiner Arbeit in Harlem, jeden Tag. Wart mal kurz.«

Er tippte wieder etwas in seine Tastatur.

»Send. Äh … ich gebe geistig zurückgebliebenen Kindern in Harlem Schwimmunterricht.«

Im Hudson River lag ein Kriegsschiff vor Anker. Auf dem Deck stand eine Reihe von Düsenjägern, ältere Modelle, die ihr Maximum an Flugstunden hinter sich hatten.

Aus dem Telefon kam ein kurzer Schlagzeugsound. Der junge Mann warf einen Blick auf sein Display.

»Fuck. Ich muss hier rechts ab. See you

Er legte jetzt doch die Hände an den Lenker.

Also heute kein Rekord. Dann bremste er und bog rechts ab, Richtung 42th Street.

Ich befand mich auf Höhe von Midtown Manhattan. Auf dem Fahrradweg wurde es allmählich ruhiger. Ob die Geschäftsleute hier weniger Fahrrad fuhren als die kulturelle Elite aus SoHo?

Mein Sattel war jetzt doch ein bisschen zu hoch. Ich musste gleich noch mal kurz anhalten, um ihn herunterzustellen.

Rechts in der Stadt erkannte ich das rote M auf dem Dach eines hohen Gebäudes wieder. Das M von Milford, vom Milford Plaza auf der 45th Street. Als ich das erste Mal in New York gewesen war, 1980, hatte ich in diesem Hotel übernachtet. Die schiere Größe der Stadt hatte ich damals nicht fassen können: ein neuer Horizont, anderes Licht, andere Geräusche. Nach dem Einchecken war ich in den Fahrstuhl gestiegen und ins zwanzigste Stockwerk gefahren. Von meinem Zimmer aus hatte ich die gesamte 8th Avenue überblickt. Endlich, zum ersten Mal im Leben, in der Stadt meiner Träume. Ausgelassen hatte ich mich aufs Bett fallen lassen, kopfüber. Das Kopfkissen hatte meinen tiefen Urschrei erstickt.

Bei einer Bank am Ufer des Hudson hielt ich an. Während der Fahrt hatte mir der Wind den Kopf gekühlt. Jetzt lief mir schon wieder der Schweiß über die Schläfen. Ich stellte das Fahrrad an die Rückenlehne der Bank und setzte mich.

In der Ferne sah ich die Konturen der Washington Bridge: eine hohe Stahlbrücke, über die der dichte Autoverkehr von Manhattan nach New Jersey fließt. Dort musste ich hin.

Ruhe schien es in New York nicht zu geben. In meinem Rücken war ein unablässiges Getöse. Dröhnende Motorräder, brummende Laster, rumpelnde Uralt-Taxis. Und Sirenen. Die Hilfsdienste schienen hier vierundzwanzig Stunden täglich im Einsatz zu sein. Brände, Herzinfarkte, Schießereien.

Auf einem flachen Felsen am Ufer des Flusses sah ich einen Mann. Er stand reglos da, die Arme ausgestreckt, die Finger gespreizt. Langsam fing er an, sich um die eigene Achse zu drehen und mit den Armen zu schwingen. Tai Chi. An den absurdesten Orten standen in Manhattan Leute wie angenagelt in der Gegend herum und machten irgendwelche Meditationsübungen. Hier musste man sich seine Entspannung selbst organisieren.

Ein Stück weiter, an der nächsten Bank, lehnte ein Damenrad. Ein relativ kleines Modell, für Mädchen im Schulalter. Ein Mann mit mattschwarzer Hautfarbe saß auf der Bank. Er trug eine schlabbrige lange Trainingshose und hatte kaputte Crocs an den nackten Füßen. Zwischen den Fingern zwirbelte er seine Dreadlocks. Die unordentlichen Zöpfe standen in alle Richtungen ab.

Der Rahmen des Damenrads war komplett mit Aufklebern zugepflastert. Produktmarken, Sportclubs, Firmennamen, verschiedene andere Namen, die mir nichts sagten. Etliche waren kaputt oder lösten sich am Rand ab. Aufkleber mit Eselsohren. Als hätte jemand die Haut des Fahrrads aufgekratzt. Nur an einzelnen Stellen konnte man noch die ursprüngliche Farbe des Rahmens erkennen: rosa.

Ich nahm mein Mobiltelefon und tat so, als würde ich auf dem Display irgendetwas anschauen. Dabei richtete ich die Kamera auf das Fahrrad und den Mann. Wegen des Sonnenlichts konnte ich nicht richtig sehen, ob der Ausschnitt gut war. Ich drehte das Handy, damit ein Foto im Querformat herauskam. Als ich das Auslösersymbol auf dem Touchscreen berührte, erklang ein »Tschack«.

Der Mann hatte das Geräusch auch gehört.

»Hey man, was machst du da?«

Erwischt.

»I like your bike.«

Freundliche Annäherung und Schadensbegrenzung. Ich steckte das Telefon in die Rückentasche meines Trikots und ging zu dem Mann hinüber.

MY NAME IS, stand in Großbuchstaben als Vordruck auf seinem Shirt. In den weißen Kasten darunter hatte jemand mit zittriger Handschrift Trouble eingetragen.

»Aufkleber sind dafür da, auf Sachen draufgeklebt zu werden«, sagte der Mann, ohne mich anzusehen. Mit der einen Hand zwirbelte er weiter an seinem Zopf, die andere streckte er mir entgegen. »Hey, mister nice guy. My name is Trouble. And yours

Ich nannte meinen Namen, den er allerdings nur halb verstand.

»Woolf? Nice

Woolf. Na ja, warum auch nicht. Dann hieß ich heute eben Woolf.

»Welche Marke fährst du?«, fragte ich und zeigte auf sein Damenrad.

»Budweiser, Dodge, Delta, Sneakers, Tamoil, New York Post, Gillette, Diet Coke. Mein Rad hat Hunderte von Namen.«

Der Form des Stahlrahmens nach zu urteilen, war das Rad schon ein paar Jahre alt. Vom Vorbau führte ein Doppelrohr in einem Bogen zum Tretlager.

»Gestern saß in dem Baum dort ein Eichhörnchen«, sagte Trouble. »Ich hab’ da gesessen, wo du jetzt sitzt, und das Geräusch gehört. Es trippelte am Stamm hinunter und ging sich im Hudson River waschen. Manchmal wurde es von einer Welle komplett überspült. Ich mag Eichhörnchen.«

Trouble sah mich an. Er hatte zwei ungleiche Augen: Das eine blickte geradeaus, das andere schien zu schlafen, halb verdeckt von einem hängenden Lid.

»Du glaubst mir nicht, Woolf, stimmt’s?«, fragte er. »Brauchst du auch nicht.«

Er zwirbelte weiter an seinen Dreadlocks und ließ sich dann die Strähnen durch die Hände gleiten. »Heute müssen die gut sitzen. Von den ganzen Abgasen werden meine Haare so schnell dreckig. Dann kommt beim Waschen braunes Wasser heraus.«

Abrupt unterbrach er sein Herumgefrickel an den Haaren.

»Sammelst du auch Aufkleber?«, fragte er aus dem Nichts heraus.

»Nein, tut mir leid.«

Trouble stand auf, nahm sein Damenrad und stellte es vor mich hin.

»Da, schau.«

Er zeigte auf die Sattelstütze. Neben einem halb abgefallenen Sticker mit der amerikanischen Flagge befand sich ein sauberer, apfelförmiger Aufkleber in Silber.

»Schön, woher hast du den?«, fragte ich neugierig.

»Von dem Pförtner des Apple Stores in der Prince Street. Der dicke Jay. Ist mit mir in Melrose zur Schule gegangen. Kennst du Melrose? Liegt am anderen Ufer des East River.«

Aus der Tasche seiner ramponierten Trainingshose holte er eine braune Papiertüte. Er schüttete sich ein paar Erdnüsse in die Hand. Dann legte er sich eine nach der anderen auf den Daumen, dorthin, wo sich früher mal ein Nagel befunden hatte, und schnippte sie in hohem Bogen geschickt in seinen Mund.

»Willst du auch?«

Er schüttete auch mir welche in die Hand.

Ich versuchte, sein Nüsse-Schnipsen zu imitieren. Gleich der erste Versuch misslang. Die Erdnuss fiel unter die Bank.

»Was machst du denn?«, fragte Trouble. Seine Stimme klang enttäuscht, wie bei einem kleinen Kind, das seinen Willen nicht bekommt.

»Sorry, hat nicht geklappt«, antwortete ich.

»Dann freuen sich die Eichhörnchen«, sagte Trouble. »Ich gebe ihnen immer etwas zu fressen, sonst überleben sie nicht. Siehst du die Krähen dort? Die versuchen immer, die Erdnüsse wegzupicken. Diebisch sind die. Sollen sich bloß vorsehen. Ich reiß’ ihnen den Kopf ab und verkaufe das Fleisch an die Chinesen in der Canal Street.«

Ohne weitere Erläuterungen fing er mit dem anderen Daumen, bei dem der Nagel noch nicht fehlte, an einem Aufkleber zu kratzen an. An einigen Stellen klebten mehrere Schichten übereinander. Auf einem gelb fluoreszierenden Sticker stand eine Telefonnummer, in derselben Kritzelschrift wie der Name Trouble. Die Nummer fing mit 212 an, der New Yorker Vorwahl.

»Sag mal, Trouble …«

Zum ersten Mal nahm ich seinen Namen in den Mund. »Was ist denn das für eine Telefonnummer, wenn ich so neugierig sein darf?« Ich deutete auf eines der Rahmenrohre seines Rads.

»Ich kenne dich nicht, Woolf. Und du kennst mich nicht. So what

Er hatte recht. Ich kannte ihn nicht. Ich konnte bloß raten, wie er wohl drauf war.

»Mir gefällt halt dein Rad, mit den vielen Aufklebern«, sagte ich.

»Du meinst kein Wort von dem, was du sagst, Woolf.«

Trouble stand auf. Mit der einen Hand umklammerte er den Lenker seines Rads, mit der anderen versetzte er dem Sattel einen kräftigen Schlag.

Ich erschrak und setzte mich kerzengerade auf.

»Okay?«, fragte er.

Noch ein Schlag auf den Sattel.

»Verstanden?«

Mit wildem Blick sah er mich an.

»Woolf, hast du mich verstanden?«, wiederholte er.

Erst jetzt, da er mich mit weit aufgerissenen Augen ansah, konnte ich Troubles Alter schätzen. Etwa fünfunddreißig, vermutete ich. Vorher hätte ich eher auf vierzig getippt, wegen der Falten in seinem erschöpften Gesicht.

»All right, all right«, sagte ich, um ihn zu beruhigen.

Auf dem Radweg näherte sich ein Mann auf einem Klapprad mit kleinen Rädern. Die Pedale drehten sich viel zu schnell. Unter seinem Hemd mit dem Logo der Chicago Bulls war ein kleiner Bauch zu erkennen.

»Wrong club, mister!«, rief Trouble ihm nach.

Der Mann tat, als hätte er nichts gehört, und fuhr in gemächlichem Tempo weiter.

Ich richtete den Blick in die Ferne. Die Segelboote, die bei den hölzernen Wellenbrechern vor Anker lagen, schaukelten auf dem Hudson River vor sich hin.

»Wohin fährst du?« Trouble sah mich eindringlich an.

»Inwood.«

»Ich muss auch in die Richtung. Zum Geburtstag meiner Tochter.«

Ich nahm den Brownie aus der hinteren Tasche meines Trikots. Vorsichtig zog ich den BAKED JUST FOR YOU, MY PRETTY-Sticker von der Cellophanverpackung ab und reichte ihn Trouble.

Ohne die Werbebotschaft eines Blickes zu würdigen, klebte er ihn auf die Vorderlampe.

Ich riss die Verpackung auf und brach den Brownie in zwei Hälften. Schweigend aßen wir ihn auf.

»Fahren wir los?«, fragte Trouble.

»Moment«, sagte ich. Beidhändig drückte ich den Sattel etwa einen Zentimeter herunter und drehte den Hebel fest zu.

Trouble nahm sein Fahrrad und schob es zum Weg, wobei er unterschiedlich fest auftrat, als hätte er einen kleinen Stein im Schuh. Wie eine Frau setzte er sich auf den Sattel. »Let’s go

Die ersten Kilometer fuhren wir stumm nebeneinander her. Bis Inwood war es noch etwa eine Viertelstunde Fahrt, schätzte ich. Worauf hatte ich mich da eingelassen?

In mäßigem Tempo fuhr Trouble Richtung Norden. Der Radfahrer mit dem Chicago-Bulls-Shirt kam uns wieder entgegen.

»I said: wrong club!«, rief Trouble.

Der Mann mit dem Bulls-Shirt bremste und machte Anstalten abzusteigen.

Trouble verlangsamte sein Tempo. Anscheinend wollte er ebenfalls anhalten.

Ich fuhr dichter an ihn heran und zog ihn an der Jacke mit.

»Lass mal. New York ist eine Nummer zu groß für die Windy City.«

Trouble spuckte, aber es kam kein Tropfen zwischen seinen Lippen hervor. Er sah mich an und ließ sich von mir mitziehen. Sein rechtes Pedal schleifte bei jeder Umdrehung am Kettenschutz.

Der Mann mit dem Chicago-Bulls-Shirt blickte uns nach. Er hielt den Mittelfinger hoch. Zum Glück sah Trouble es nicht.

Ich ließ seine Jacke wieder los. Wir fuhren weiter. Troubles Gesicht sah angespannt aus.

»Ich brauche Geld von dir«, sagte er plötzlich, in vertraulichem Tonfall.

Um Zeit zu gewinnen, schwieg ich.

»Money, Woolf«, sagte er, mit der Betonung auf money.

Vor uns erstreckte sich endlos der Fahrradweg. Die Washington Bridge kam immer näher, aber der Wendepunkt war noch Kilometer weit entfernt. Ich musste zusehen, dass ich wieder in die bewohnte Welt zurückfand. Aber von hier aus ins bevölkerte Manhattan abzubiegen, kam nicht in Frage. Auf der West Street rechts von uns brausten acht Verkehrsspuren in zwei Richtungen dahin.

Mit bösem Blick murmelte Trouble etwas in sich hinein. Er griff in seine Tasche, holte eine Handvoll Erdnüsse heraus und stopfte sie sich in den Mund. Die Hälfte fiel auf den Boden.

»Du bist ein netter Kerl, Trouble. Aber Geld? Warum? Ich hab’ sowieso kaum welches dabei. Ein paar Zehner, von denen ich noch die Leihgebühr für das Rad bezahlen muss.«

Giftig packte Trouble mich am Arm. Ich wehrte ihn ab. Fast hätten unsere Lenker sich ineinander verkeilt.

»Fass mich nicht an«, sagte ich.

Erneut streckte er die Hand nach mir aus, doch diesmal hielt er mich sanfter fest.

»Meine Tochter ist heute dreizehn geworden. Ich will eine Kleinigkeit für sie kaufen.«

Auf dem Hauptbahnhof in Amsterdam hatte ich mal einem verwirrten Mann, der zu seinem plötzlich gestorbenen Vater fahren wollte, fünf Euro gegeben. Ich hatte ihm geglaubt. Eine Woche später hatte ich gesehen, wie er einen anderen Reisenden anbettelte.

»Du glaubst mir nicht, was?«, fragte Trouble.

»Stimmt«, sagte ich.

Wir näherten uns der Washington Bridge. Mir fiel auf, wie hoch diese stählerne Hängebrücke war. Der Wind trug den Verkehrslärm zu uns hinüber. Die Autos krochen langsam vorbei, in dichten Reihen.

Der Fahrradweg führte unter der Auffahrt zur Brücke hindurch. Zehn Meter über uns donnerte der Verkehr über die Stahlkonstruktion hinweg. Ein Höllenlärm.

Trouble spuckte Erdnusssplitter aus.

»Fuck it!«, rief er.

Er überholte mich und bremste ab. Mein Vorderrad kam an seinem hinteren Schutzblech zum Stehen. Trouble hatte einen Nerventick, den ich vorhin noch nicht bemerkt hatte: Er riss immer wieder kurz die Augen auf.

»Dein Telefon. Gib mir dein verficktes Telefon!«, sagte Trouble.

Ich sah mich um. Weit und breit niemand. Ich beschloss, mit ihm zu verhandeln.

»Okay, nimm mein Geld. Aber lass mich das Telefon behalten, ja?«

Trouble schmiss sein Rad um und kam auf mich zu. Ich blieb stehen, das Fahrrad zwischen den Beinen. Er packte mich am Trikot und brachte sein Gesicht ganz nahe an meines. Seine Haut erinnerte an abgenutztes schwarzes Schmirgelpapier.

Dann schloss er plötzlich die Augen. Er seufzte ein paar Mal, sackte etwas in sich zusammen und ließ von mir ab.

»Sorry«, hörte ich ihn murmeln. Und dann noch einmal, etwas leiser: »Sorry.«

Als er sich umdrehte, sah ich, dass das Weiß in seinen Augen rot angelaufen war. Mit einem Blick, der seine Verwundbarkeit verriet, sah er mich an.

»Würdest du dein Telefon nehmen und diese Nummer für mich anrufen, Woolf? Bitte!«

Trouble hob sein Fahrrad vom Boden auf und zeigte auf den fluoreszierenden Aufkleber auf dem oberen Rahmenrohr.

»Und dann? Wen kriege ich da an die Strippe?«

»Jetzt ruf schon an.«

Seine Hitzigkeit war verflogen. Ich würde es auf den Versuch ankommen lassen.

Ich nahm das Telefon aus meiner Rückentasche und gab die Nummer ein. Trouble stand mit offenem Mund dabei, starrte mich an. Wieder dieser Nerventick.

Am anderen Ende ging jemand dran. Im Hintergrund hörte ich laute Popmusik.

»Hier ist Tracy Stanford.«

Eine muntere Mädchenstimme und pubertäres Gelächter von anderen Mädchen im Hintergrund.

Trouble bedeutete mir, dass ich etwas sagen sollte. Ich wusste nicht, was.

»Äh, hier ist, äh … Woolf.«

Trouble kam ganz dicht an mich heran. »Sag ihr, dass ich auf dem Weg bin.«

»Ich soll von äh … Trouble ausrichten, …«

Trouble wedelte nervös mit den Händen. »Von Daddy, sag: von Daddy.«

»Äh, Daddy sagt, er ist auf dem Weg«, sagte ich.

»Mit deinem rosa Fahrrad«, flüsterte Trouble mir ein. Er drängte sich ganz dicht an mich, um die Reaktion des Gegenübers mitzubekommen.

»Mit deinem rosa Fahrrad«, wiederholte ich.

Am anderen Ende blieb es still. Ich hörte nur noch die Musik. Ein Hit von Alicia Keys. Das Gekicher der Mädchen im Hintergrund war verstummt.

»Hallo?«, fragte ich.

»Tell the motherfucker he ain’t daddy anymore.« Dann ein trockenes Klicken. Die Verbindung war beendet.

An Troubles Gesicht konnte ich ablesen, dass er die Botschaft verstanden hatte.

»Was hat sie gesagt?«

»Dass du nicht willkommen bist.«

Er schüttelte den Kopf und plättete mit den Händen seine Dreadlocks.

»Schon das vierte Jahr, dass ich nicht kommen darf.«

Ich steckte das Telefon wieder ein.

»Wo wohnt sie?«

»Sie wohnt irgendwo. Okay? Bei meiner Ex.«

Ich schaute nach oben, zur Unterseite der Brücke. Der Verkehr staute sich, die Autos auf der Spur nach Manhattan klebten mit den Stoßstangen aneinander.

Trouble schubste sein Rad mit einem kräftigen Stoß von sich weg.

»Was machst du denn?«, rief ich.

Das Rad schlingerte ein Stück den Fahrradweg entlang, schwenkte dann nach rechts und fiel scheppernd zu Boden. Trouble lief hinterher und trat mit dem Fuß ein Loch in den Kettenschutz.

Im Schritttempo fuhr ich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Soll ich noch mal anrufen?«, fragte ich.

Er schob meine Hand weg und schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie will einfach nicht. Shit. Tomorrow is another day.«

Er fing an, den fluoreszierenden Aufkleber abzukratzen, bis das Rosa des Rahmens sichtbar wurde. Die kleine Kugel aus Aufkleberresten legte er sich auf einen Knöchel am Handrücken und schnipste sie weg. Dann hob er das Rad auf.

»Ich fahre wieder zurück zu meiner Bank«, sagte er.

Ich holte mein Portemonnaie hervor und nahm einen Zehn-Dollar-Schein heraus. »Hier«, sagte ich.

Trouble nahm den Schein entgegen und küsste ihn.

»Danke schön, netter Mann.« Er wedelte mir mit dem Schein vor dem Gesicht herum und steckte ihn dann in seine Hosentasche. »Für neue Erdnüsse.«

In gemächlichem Tempo radelte er davon.

Ich setzte meinen Weg fort, unter der Brücke hindurch. Er führte zu einer weiteren, kleineren Fahrradbrücke, die die verkehrsreiche West Street überwölbte. So kam ich weiter bis nach Inwood. Dort angekommen, fuhr ich ein paar Häuserblocks geradeaus, bis ich den Broadway erreicht hatte. Ich bog rechts ab, es wurde Zeit, wieder Richtung Süden zu fahren. Die berühmte Avenue verlief von der Bronx bis ins tiefste Manhattan, wie die Lebenslinie in einer alten Hand.

Daran, schön in einem durchfahren zu können, war nicht mehr zu denken. Nach jeder Querstraße musste ich wieder schauen, ob ich die nächste Ampel schaffte. Langsam und ruckweise erreichte ich Harlem. Über die Lenox Avenue fuhr ich Richtung Central Park. Dabei kam ich an einem Krankenhaus vorbei. Vor dem Eingang saß eine schwarze Frau in einem Rollstuhl. Sie hatte einen blauen Atemschutz vor dem Mund, gegen die Abgase.

Gesunde frische Luft war ein knappes Gut, auch in Harlem.

Den Verkehrsschildern zufolge hatte ich den Times Square erreicht, meine Tour war zu Ende. Ich stieg ab und sah mich um. Gigantische Videobildschirme, auf denen Fotomodelle ihre fünf Meter breiten Münder spitzten, für einen Lippenstift, der wie eine Rakete auf die Lippen zugeschossen kam.

Ob Trouble schon wieder auf seiner Bank saß und auf den Hudson River schaute?

Die Dämmerung über dem Times Square wurde von der enormen Menge künstlichen Lichts, die hier in den Himmel flutete, absorbiert. Hier war helllichter Tag, selbst in der finstersten Nacht. War das der Grund, weshalb die Menschen hier zusammenkamen, um sich des Lichts und der Wärme zu vergewissern? Die Gesichter rundum wurden rot, violett, gelb, dann weiß, vom Widerschein der Videowände.

Die Decke auf meinem Hotelbett war zurückgeschlagen. Auf meinem Kissen lag ein in Cellophan verpackter Brownie. Dieses Mal war es ein heller. Auf der Rückseite stand: THIS BABY IS A NATURAL BLONDE.

Mit den Zähnen riss ich die Plastikhülle der kleinen Blonden auf und biss in ihre sanfte Taille. Ich schlang große Happen hinunter. Es krümelte. »Da freuen sich die Eichhörnchen«, hatte Trouble gesagt.

Ich zog mich aus und streckte meine müden Beine unter die Laken.

Der Fernseher war auf ein Programm voreingestellt, in dem zu sehen war, wie die Polizei von Manhattan bei jungen Kriminellen einbrach. Mit der Kamera im Kielsog rammten sie Türen auf. Sie legten den jungen Männern Handschellen an und schleppten sie zu einem bereitstehenden Bus. Die jungen Männer versprachen der Polizei, sich zu bessern. Schon ab morgen. Ich konnte sehen, dass sie logen.

Tomorrow is another day.

Ein Mann und sein Rad

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