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Altern und Gesellschaft

„Alle wollen es werden, aber keiner will es sein: alt.“

Gustav Knuth1

Das Alter ist nicht nur ein medizinisches und ein sozial-psychologisches, sondern auch ein gesellschaftspolitisches Problem. Welchen Wert aber das Alter(n) für unsere Gesellschaft haben könnte, zeigt sich in der folgenden Geschichte:

Eine Elefantengeschichte aus Afrika

In einen großen Safariwildpark in Südafrika kamen jedes Jahr Tausende von Besuchern aus aller Welt, die mit dem Jeep durch das Reservat fuhren, um die Tiere im Alltag zu beobachten. Das Tourismusbüro erhielt viel Lob und Anerkennung für die natürliche, tiergerechte und dennoch ungefährliche Aufmachung. Eines Tages kam ein reicher Mann zu dem Tourismuschef und wünschte sich Elefanten im Reservat. Er sagte, dass er viel Geld bezahlen würde und dafür auch Elefanten sehen wolle. Die Einheimischen im Tourismusbüro hielten Rat und beschlossen, einen jungen Elefanten aus dem Norden zu holen. Mit großer Freude über den guten Erwerb reisten sie mit dem Elefanten an und setzten ihn mitten im Reservat aus. Schon nach zwei Tagen trafen die ersten Klagen ein. Der Elefant griff die Safaritouristen an und rannte mit voller Wucht in die Jeeps, bis diese seitlich kippten. Er entwurzelte Bäume und jagte andere Tiere. Die Beschwerden wurden immer mehr und größer. Der Tourismuschef wusste sich keinen Rat, wie er auf diese Situation reagieren sollte. Kein Tierpfleger konnte ihm eine Erklärung für dieses eigenartige Verhalten geben. So wurde der Ältestenrat einberufen, um über die Vorkommnisse zu sprechen und eine Lösung zu finden. Nach langen Gesprächen stand der älteste der Männer auf und sagte: „Dem Elefanten fehlt ein Ältester. Holt einen alten Elefanten und bringt ihn in den Park, dann wird sich der Junge beruhigen.“ Nachdem der alte Mann das empfohlen hatte, wurde ein alter Elefant aus dem Norden organisiert und im Safaripark ausgesetzt. Es war wieder absolute Ruhe im Reservat. Der Alte wirkt durch sein Dasein.

Unsere weisen alten Menschen haben keinen Platz mehr in der Gesellschaft. Wer will noch die Ratschläge von ihnen hören? Und wer will noch altern beim Altwerden? Was fehlt unseren Jungen, die alles auf den Kopf stellen? Was fehlt den alten Menschen, die sich in die Demenz flüchten?

Unsere (Groß-)Väter und (Groß-)Mütter verkörpern die heimische Tradition, sie bewahren sie für die nächste Generation und schaffen mit all ihren Erfahrungen einen Raum, in dem sich die Kinder und Kindeskinder entwickeln können. Den Jungen fällt in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, das Wissen und die Überlieferung der Geschichte zu erhalten und zu erneuern. Beide sind füreinander unerlässlich. Denn ohne die Erneuerung würde die Tradition aussterben und ohne die Tradition bliebe das Neue haltlos. Dadurch sind die Alten und die Jungen gefordert, zu überlegen, was zu tun ist, damit das Generationenverhältnis für die Gesellschaft und die Zivilisation nützlich sein kann. Ob es sich dabei um die Verantwortung gegenüber den eigenen Eltern/Kindern handelt oder – wie in der professionellen Pflege – gegenüber fremden Alten, ist nicht mehr von Bedeutung. Die Funktion der professionellen Altenpflege zeigt sich – ethisch gesehen – im Generationenvertrag, das heißt, die Betreuung für jene Menschen zu übernehmen, die selbst nicht mehr imstande sind, sich aus eigener Kraft zu versorgen.

1.1 Psychische Veränderungen im Alter

Je mehr Menschen alt werden, desto mehr nehmen die psychischen Veränderungen zu. In Sozialzentren werden schon mehr als 60 % aller Bewohner als psychisch krank eingestuft. Alte Menschen waren im Leben zahlreichen Belastungen ausgesetzt, die sie mehr oder weniger gut bewältigt haben. Nun kommen im Alter zusätzlich unangenehme Veränderungen auf sie zu: Körperliche, weil der biologische Alterungsprozess fortschreitet, soziale, weil Freunde erkranken oder sterben, und familiäre, weil die Angewiesenheit auf die Kinder von Schuld- und Schamgefühlen begleitet ist. Wie ein Mensch diese Belastungen empfindet und wie er mit ihnen zurechtkommt, ist abhängig von den Bewältigungsstrategien, die er in seinen jungen Jahren gelernt hat. Wer seine physischen und sozialen Verluste nicht verleugnen oder verdrängen musste, sondern sie betrauern konnte, hat auch im hohen Alter mehr psychische Stärke, um die Mängel und Beeinträchtigungen zu verarbeiten. Menschen, die sich selbst akzeptieren, respektieren und wertschätzen, können Veränderungen, die ihnen im Alter nahegehen, leichter bewältigen. (Vgl. Bellinger 2002, S. 9)


L. Berchtold

1.2 Warum verhalten sich Menschen so?

Die biologisch vorgegebene Grundlage und die Prägung durch die Erziehung bilden zusammen mit den gelernten Copings die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen.


Prägungsgeschichte, E. Feurstein

Schon bei der Geburt sind alle menschlichen Fähigkeiten als Potentiale angelegt. Die konkrete Ausformung dieser Anlagen ist die Aufgabe der Erziehung. Das Denken und Tun ist somit weitgehend das Ergebnis der individuellen Geschichte.

Eltern versuchen normalerweise, die Kinder durch ihre Erziehung so gut wie möglich auf das Leben vorzubereiten, sie vor Gefahren zu schützen und ihnen ein angemessenes Verhalten beizubringen. Sie fördern ihre Kinder meist mit bester Absicht so, dass sie fähig sind, sich als Menschen mit individuellen Fähigkeiten in die Gesellschaft zu integrieren.

Spätestens in der Pubertät will das Kind seine eigene Identität entwickeln. Es versucht, seine ihm entsprechende Richtung zu finden, und sich von der elterlichen Autorität zu lösen.

In diesem Prozess des Erwachsenwerdens machen wir die Erfahrung, dass unsere Gefühlseinstellungen und Empfindungen auf weit in die Kindheit zurückreichende Identifikationen mit dem Denken der Eltern gründen und sie mit unserem eigenen, später entstandenen Denken gar nicht so leicht zu vereinbaren sind. Im Gegenteil: Obwohl wir bewusst längst eigene Werte entwickelt haben und diejenigen der Eltern als überholt und altmodisch ansehen, ertappen wir uns dabei, wie leicht wir alten, überwunden geglaubten Denk- und Empfindungsmustern verfallen.

Geschichte

Als ich ein kleiner Junge war, fuhren jedes Jahr Roma mit ihren großen Kastenwagen in unser Dorf ein, um hier ihre Korbwaren zu verkaufen. Wie im Flug verbreitete sich die Kunde ihrer Ankunft. Alle Bewohner des Dorfes rannten, um ihr Hab und Gut in den Scheunen und Häusern zu verstecken. Die Hühner durften ihren Stall und die Kinder das Haus nicht mehr verlassen, weil man sich erzählte, dass Roma stehlen und alles, was nicht eingesperrt ist, auf Nimmerwiedersehen verschwinde. Die Roma gingen mit ihren Körben von Haus zu Haus und verkauften, was sie im Winter hergestellt hatten. Manchmal bezahlten die Einheimischen mit Naturalien im Tauschhandel, manchmal mit Geld. Erst am Tag nach deren Abreise durften Kinder und Tiere wieder aus dem Haus.

Meine Prägung: Roma stehlen.

40 Jahre später:

Ich bin Lehrer an einer Schule für Erwachsene. Am ersten Schultag stellen sich die Schüler vor und erzählen aus ihrem Leben. Eine Schülerin erklärt, dass sie Roma sei und seit einigen Jahren hier wohne. Bei mir läuten alle Glocken Alarm: … STEHLEN … In mir entsteht ein innerer Konflikt: Muss ich jetzt die Schüler darauf aufmerksam machen, dass Roma stehlen und sie deshalb aufpassen sollen? Mir ist bewusst, dass ich ihrem Ruf schaden würde und sie keine Chance hätte, sich zu integrieren, also bin ich still. Insgeheim weiß ich, wer verdächtigt wird, wenn in nächster Zeit etwas verschwindet. 14 Tage nach Schulbeginn kommt die Roma und erklärt mir, dass sie ihren Eltern von meinem Unterricht erzählt habe und dass diese mich kennenlernen wollen. Ihre Familie feiere am Samstag ein großes Fest, dazu würde sie mich gerne einladen. Mein Blutdruck steigt und ich spüre Angst in mir. Trotzdem kann ich die Einladung nicht abschlagen. Am Samstag, auf dem Weg zum Fest, habe ich wieder Herzrasen und denke: „Augen zu und durch.“ Beim Eingang des Festsaales stehen die Schülerin und ein paar andere Leute. Mit freundlicher Geste holt mich die Schülerin ab, stellt mich ihren Eltern und Verwandten vor und schon bin ich mitten in der Festgemeinschaft. Alle sind sehr freundlich, es wird gegessen, getanzt, gesungen, die Musik spielt in einer Fröhlichkeit, die ich so nicht kenne. Diese Stimmung geht mir durch Mark und Bein. So viel Freiheit, Fröhlichkeit und Unbeschwertheit habe ich in meinem ganzen Leben noch nie erfahren. Es ist schöner als jede Erzählung von diesen rauschenden Festen. Auf dem Nachhauseweg bin ich durch und durch erfüllt von einem unbeschreiblich leichten Gefühl und ich weiß, dass Roma nicht mehr stehlen als manch andere Bürger. Sie sind gastfreundlich und freigiebig, wie ich das nicht gekannt habe. Ich bin vom ersten Moment unserer Begegnung wie einer von ihnen behandelt worden. Wenn ich heute das Wort „Roma“ höre, spüre ich als erstes die Angst und denke an Stehlen, erst im zweiten Augenblick erinnere ich mich an das rauschende Fest und die Gastfreundschaft. Ich weiß dann, dass Roma Menschen wie du und ich sind. Trotz meines eindrücklichen Erlebnisses mit den Roma ist die elterliche Erstinformation tiefer in mir verankert als meine eigene Erfahrung.

Entwicklung heißt also nicht, alles Gelernte zu vergessen; vielmehr geht es darum, die alten mit den neuen Erfahrungen zu verbinden und zu vergleichen, sie zu ergänzen, um zu einem eigenen, individuellen Denken zu gelangen. Wenn wir das nicht schaffen, bleiben wir in der anerzogenen, autoritätshörigen Normalität stecken.

Die Loslösung von der elterlichen Autorität ist also für die Persönlichkeitsbildung entscheidend. Und gleichzeitig sehen wir an der Geschichte mit der Roma-Schülerin, wie tief wir auch noch als Erwachsene im Denken in unseren Kinderschuhen stecken, wie schnell nicht bearbeitete Ängste und Affekte aus der Kindheit in uns lebendig werden und sich mit aller Macht gegen das bewusste Ich durchzusetzen versuchen.

Aber die Geschichte zeigt uns auch, dass der Mensch imstande ist, vom kindlichen Denken Abstand zu nehmen. Diese Freiheit, die erst in der Pubertät erworben wird, können wir aber im Alter in der Demenz wieder verlieren.

Was dann bleibt, ist– wie es die Methode der Validation fordert – die dementierenden Menschen in ihrer Prägung und in ihrer Gewordenheit zu respektieren. Validationsanwender holen Dementierende mit Verständnis da ab, wo sie sich im Moment befinden.

1.3 Faktoren, die zu einer Mehrbelastung im Alter führen

1.3.1 Körperliche Faktoren

(wie Gehbehinderung, Inkontinenz, Schwerhörigkeit)

Körperliche Erkrankungen können Ursache oder Folge einer psychischen Störung sein. Beispielsweise kann eine Herzschwäche zu einem gestörten Hirnstoffwechsel und somit zu Verwirrtheitszuständen führen. Umgekehrt können körperliche Leiden als Folge von psychischen Störungen auftreten, von denen dann der Verlauf der psychischen Störung negativ beeinflusst wird. Es kann zum Beispiel zu körperlichen Leiden kommen, wenn durch eine depressive Verstimmung Essen und Hygiene ver­nachlässigt werden. Infolge von Austrocknung oder Unterzuckerung kann zu der depressiven Verstimmung zusätzlich noch ein Verwirrtheitszustand hinzukommen. (Vgl. Bellinger 2002, S. 10ff.)

1.3.2 Seelische Faktoren

(wie Einsamkeit, Trauer, Depression)

 Trauer: Je älter wir werden, umso mehr Menschen sterben in unserer Umgebung. Die Überwindung der Verluste kann langwierig und einschneidend sein. Wenn der Lebenspartner stirbt, muss der Überlebende sich mit Kummer, Verzweiflung, Mutlosigkeit und vielleicht auch mit Schuldgefühlen auseinandersetzen. Die Trauerarbeit kostet viel Kraft.

 Bewältigung des Älterwerdens: Wir müssen uns alle damit abfinden, dass das Leistungsvermögen im Laufe des Lebens langsam abnimmt. Manchen Menschen fällt diese Anpassung sehr schwer, sie erleben den Prozess des Alterns als Kränkung und kämpfen gegen diese Zumutung.

 Verlust der Zukunftsperspektive: Viele Ältere rechnen mit ihrem baldigen Tod. Das Alter ist die Zeit, in der wir Bilanz ziehen: „Wie war mein Leben?“ Die Bilanz fällt nicht immer erfreulich aus und den alten Menschen bleibt oft keine Zeit oder keine Möglichkeit mehr, Schaden wiedergutzumachen oder Versäumtes nachzuholen. (Vgl. Bellinger 2002, S. 10ff.)

1.3.3 Gesellschaftliche Faktoren

(Ausgrenzung und Abgeschobenwerden)

 Verlust der bezahlten Arbeit: Der Verlust der Arbeit und der gesellschaftlichen Rolle wird von den meisten Menschen als Statusverlust erlebt. Statt Geschäftsmänner, Lehrer oder Metzger sind sie nun Rentner, fühlen sich nicht mehr gebraucht und empfinden sich und ihr Leben als nutzlos.

 Einstellung der Gesellschaft zum Alter: Auch vonseiten der Gesellschaft verlieren ältere Menschen ihren gesellschaftlichen Stellenwert. Altsein ist out. Ältere Menschen erleben sich als Belastung und nicht als Mitglieder der Gesellschaft.

 Verlust von Kontakten: Die Altersgenossen im Freundes- und Familienkreis sterben allmählich, Vereinsamung und Isolation sind die Folge.

 Verlust der vertrauten Umgebung: Wenn die Hilfsbedürftigkeit zunimmt, müssen viele ältere Menschen ihr vertrautes Umfeld verlassen und zu den Kindern oder in ein Heim ziehen. Das Wissen über die Kosten, die sie verursachen, erzeugt Schuld und Scham. (Vgl. Bellinger 2002, S. 10ff.)


Dynamik Verluste – Selbstwertgefühl, E. Feurstein

Wenn Verluste größer werden, nimmt das Selbstwertgefühl ab.

Pensionsvorbereitung, E. Feurstein


1.4 Selbstbestimmung im Alter

Brauchen alte Menschen ein Selbstbestimmungsrecht?

Ob ein Mensch die Selbstbestimmung benötigt oder nicht, resultiert aus seiner Lebensgeschichte. Es stellt sich die Frage: Wie hat dieser Mensch seine Selbstbestimmung bis jetzt gelebt und hat oder will er diese Art beibehalten oder will er sich im hohen Alter noch verändern?

Geschichte

Eine Mutter hat einen Sohn. Sie liebt ihn über alles und versucht ihn vor all dem Bösen auf der Welt zu schützen. So geht sie in den Kindergarten, um mit dem kleinen Jungen, der gestern ihrem Sohn den Bagger aus der Hand gerissen hat, zu schimpfen. Sie beschimpft auch die Kindergartenpädagogin und erklärt dieser, dass sie besser auf die Kinder aufpassen solle. Ähnliches macht sie später in der Schule mit den Lehrern, mit den Lehrherren ihres Sohnes und an dessen späterer Arbeitsstelle. Als der Junge eine Freundin findet, muss er sich entweder für die Mutter oder für die Freundin entscheiden, denn beide wollen ihn beschützen, aber keine will, dass die andere mitredet. Der Sohn entscheidet sich für die Freundin. Wie geht es wohl der Mutter jetzt?

Der Sohn heiratet die Freundin. Die Ehefrau macht sich zur Aufgabe, ihren Mann vor allem Bösen dieser Welt zu beschützen. Als der Mann an seinem Arbeitsplatz um eine Gehaltserhöhung fragt, die abgelehnt wird, sucht sie dessen Chef auf und erklärt ausführlich, warum ihr Mann die Gehaltserhöhung verdient …

Reflexion zur Geschichte

Was glaubst du: Wünscht dieser Mann im Alter Selbstbestimmung, wenn Mutter und Ehefrau gestorben sind?

Antwort

Trotz der eindeutigen Geschichte kann man diese Frage nicht eindeutig beantworten. Vielleicht will er jetzt Verantwortung für sich übernehmen und sein Selbstbestimmungsrecht nachholen oder er verhält sich nach seinem alten Muster und ist mit der Möglichkeit zur Selbstbestimmung überfordert.

Ein anderer Mann, der schon früh von seiner Mutter zur Selbstständigkeit erzogen wurde und auch in seiner Familie selbstverständlich alle Entscheidungen getroffen hat, erkrankt an Demenz. Was glaubst du? Will er, dass ihm eine Pflegerin ständig nachläuft und ihm sagt, was gut für ihn sei, was er zu tun habe?

Auch hier kommt es ganz darauf an, wofür er sich in seiner neuen Situation entscheidet. Vielleicht bringt er in der Demenz den Wunsch nach passivem Versorgtwerden hervor oder er möchte sich, wie gewohnt, von keinem eine Entscheidung abnehmen lassen und reagiert mit Abwehr, wenn Pflegende ihn unterstützen wollen.

Validation als Lebensphilosophie

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