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FÜNF

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Am folgenden Vormittag befiel mich im Büro eine Nervosität, die ich mir nicht erklären konnte. In Google Books suchte ich Jelena Karpovas erste Publikation und versuchte mit höchster Konzentration, ihren Argumentationslinien zu folgen. Mit bescheidenen Ergebnissen. Spätestens bei den komplexen Formeln, die sie entwickelt hatte, stieg ich aus. In meinem Magen begann es zu rumoren. So nahm ich die Akte unter den Arm und machte mich auf den Weg in unsere Kantine. Meistens nahm ich mir zum Essen Arbeit mit, das lenkte von der Beschaffenheit der Speisen ab. Ich bestellte eine müde, in sich zusammengesunkene Lasagne und setzte mich an einen der Plastiktische. Von den Kollegen war noch niemand da.

Plötzlich ging die Tür auf und Herbert trat herein. Das war ungewöhnlich. Herbert mischte sich mittags selten unters Fußvolk, er bevorzugte ein Haubenlokal zwei Straßen weiter. Meine Alarmglocken fingen an zu läuten.

„Hier bist du also“, sagte Herbert. Er kam auf mich zu und bemerkte mit Genugtuung, dass das Dossier Jelena Karpova neben meinem Teller lag. Geöffnet.

„Du bist neugierig geworden, stimmt’s?“

Ich ließ mir Zeit mit der Antwort.

„Die Sache ist interessant. Ohne Zweifel. Aber –“

„Du hast ein Aber. Natürlich. Wie sollte es anders sein?“

Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber.

Aufreizend langsam trennte ich mit der Gabel ein Stück von der Teigmasse ab, führte es zum Mund und begann zu kauen. Herbert verlor die Geduld.

„Nun sag endlich! Aber – was?“

„Du hast etwas vergessen.“

„Ach ja?“

„Ja. Warum um alles in der Welt sollte diese Frau Interesse daran haben, mit der Presse zu sprechen?“ Ein guter Einwand, fand ich, doch Herbert reagierte zu meiner Überraschung erleichtert. Eine Falte, die sich über seinem Nasenrücken gebildet hatte, glättete sich wieder.

„Ach, das!“, sagte er. „Kein Problem, darum kümmert sich Eva.“

„Welche Eva?“

„Frau Dr. Eva Mattusch. Eine der berühmtesten Anwältinnen des Landes. Und einer der eigenwilligsten Menschen, die ich kenne. Erzähl mir nicht, dass dir der Name nichts sagt.“

Tat er nicht. Herbert verdrehte die Augen.

„Du solltest öfter über deinen Tellerrand blicken.“

„Um was zu sehen? Andere Teller?“

„Alles eine Frage der Perspektive.“

„Wenigstens weiß ich, was ich esse.“

„Lassen wir das.“ Herbert wischte sich etwas aus dem Gesicht. Unsichtbare Spinnfäden.

„Ich habe bereits einen Termin mit Eva vereinbart. Sie ist mir noch einen Gefallen schuldig. Oder zwei.“ Er zwinkerte mir zu.

Es war mir ein aufrichtiges Anliegen, mit meinem Kollegen auszukommen. Schon aus Selbstschutz. Oder Bequemlichkeit. Doch es gab Momente, da gelang es mir nicht. Dieses Zwinkern. Jovial, ein wenig zweideutig, beseelt von der eigenen Unwiderstehlichkeit. Ein Ich-bin-mit-der-ganzen-Welt-auf-Tuchfühlung-Zwinkern. War ich ungerecht? Mag sein. Jedenfalls war ich froh, dass in solchen Augenblicken kein Brieföffner in der Nähe war.

„Alles in Ordnung mit dir?“ Herbert musste hinter meiner Stirn etwas beobachtet haben. Mit großer Konzentration schaffte ich es, meine wildgewordenen Gedanken wieder zu zähmen.

„Ja, warum?“ Fast ohne Zittern führte ich mein Glas Apfelsaft zum Mund und trank einen Schluck.

„Ich dachte nur. Dein Gesicht war so –, so –“ Er stockte. „Na, egal. Also morgen um 15 Uhr.“

„Was?“

„Dein Termin. Mit Eva. Morgen um 15 Uhr, vor dem Landesgericht Linz.“

Ein wenig Recherche konnte nicht schaden. Manchmal ist es praktisch, dass jeder im Netz so viele Spuren hinterlässt. Außer vielleicht der Mann mit dem Karton auf dem Kopf, der Autor, dessen Gesicht fast niemand kannte.

Dr. Eva Mattusch war sechsundvierzig, hatte dreitausendzweihundert Freunde auf Facebook und keine Kinder. Alle ihre Fotos sahen aus, als hätte sie ein professioneller Fotograf aufgenommen. Die meisten zeigten sie in perfekt sitzendem Business-Kostüm, dezent geschminkt, Souveränität ausstrahlend. Wikipedia bezeichnete sie als eine der angesehensten Juristinnen Österreichs, da hatte Herbert also nicht übertrieben. Sie war wohl auch ein Liebling der Presse; ich fand zahlreiche lobende Artikel und Prozessberichte.

Lange betrachtete ich das Porträt auf ihrer Homepage. Kein besonders auffälliges Gesicht. Hellbraune Augen, brünette Haare bis zu den Schultern, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. Mein Eindruck war zwiespältig. In einer Sekunde vermeinte ich einen Anflug von warmherziger Klugheit in ihrem Blick zu entdecken, in der nächsten erschien sie mir abweisend und überheblich.

Mit einem Mal kam mir meine Suche schäbig vor, unter meiner Würde. Ich schaltete den Computer aus und holte einen Ordner aus einem der Regale. Er trug die Aufschrift „Tscheko“, ich mochte ihn besonders gern.

Wer die Antwort auf eine Frage sucht, die Generationen von Wissenschaftlern beschäftigt hat, kommt oft zu seltsamen Ergebnissen. Besonders dann, wenn man sicher sein kann, dass man selbst diese Antwort niemals finden wird. Dann fällt die Wahrheit als mögliches Forschungsergebnis weg und nur das Spiel bleibt zurück, das Jonglieren mit Hypothesen, die lediglich eines gemeinsam haben: Sie sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch. Für diese Arbeit, die wie in meinem Fall nur Geschichten an Geschichten reiht, wüste Hirngespinste ebenso dokumentiert wie die Analyse von Bodenproben, verwenden Außenstehende meist einen abwertenden Begriff, den ich aus Helgas Mund zum ersten Mal in dieser Despektierlichkeit gehört habe: Hobby. Dieses Wort bremst die wilde Jagd, der sich der richtungslose Forscher hingibt, erinnert ihn daran, dass er niemals im Palast des Wissens ankommen wird, verwandelt die Kutsche in einen Kürbis, reißt den Reiter aus dem Sattel und zeigt ihm, dass sein Pferd nur aus Holz ist.

Immer wenn ich dieses Wort höre, muss ich vom Boden aufstehen, mir den Staub von der Hose klopfen, meine Nase in den Wind halten, um Luft zu bekommen, mich dann wieder niederknien und zärtlich den Stock mit dem Pferdekopf streicheln, der neben mir auf der Erde liegt. Dann suche ich Sätze, die ich den Spöttern entgegenschleudern kann.

Manchmal ist die Lüge schöner als die Wahrheit. Oder nein, nicht die Lüge: der Irrtum. Manchmal ist der Irrtum schöner als die Wahrheit. Vielen Naturwissenschaftlern ist diese Einsicht gleichgültig; wenn sie sich für Schönheit erwärmen, dann meist nur für das Ebenmaß bestimmter Gleichungen, das Leuchten des Weltalls oder die Schlichtheit einer unwiderlegbaren Theorie. Manche, die dem Metaphysischen nicht abhold sind, mögen hinter den Formeln und Berechnungen das Walten einer höheren Macht vermuten. Doch statistisch gesehen, sind die Gottsucher unter den Physikern in der Minderheit.

Der Tscheko-See ist eines der schönsten Gewässer Sibiriens. Im Sommer funkelt er inmitten von grünen Hängen wie ein flüssiger Saphir, während die Wolkenschatten über ihn hinwegziehen. Im langen Winter umgibt ihn trostlose, weißbraune Schuppenhaut und er gleicht der Pupille eines gewaltigen Reptils, das in leere Himmel blickt. Doch verlockender als seine ästhetischen Reize sind seine Geheimnisse. Sein tiefster Punkt liegt exakt acht Kilometer entfernt vom imaginären Einschlagkrater des Geistermeteoriten von Tunguska.

Diese Tatsache brachte – fast hundert Jahre nach dem Ereignis – italienische Geologen auf eine Idee. Sie untersuchten den See mit Echolot und entdeckten, dass er eine trichterartige Form besitzt. Für die Region ist er außerdem ungewöhnlich tief. Und er findet sich auf keiner Karte vor 1908. Seismische Messungen kamen zu dem Ergebnis, dass sich unter dem Grund des Sees eine Schicht aus sehr dichtem Gestein verbirgt. Luca Gasperini und sein Team von der Universität Bologna schlossen daraus, dass es sich beim Tscheko-See nur um den bisher vergeblich gesuchten Impaktbeweis handeln konnte. Ihre These war einleuchtend: Nicht einer, sondern zwei Brocken waren hier niedergegangen. Der erste verglühte vor dem Aufschlag in der Luft, der zweite, kleinere, schlug auf und bildete den kraterförmigen See. Die Lösung des Rätsels war gefunden!

Doch sie hielt weiteren Forschungen nicht lange stand. Ein paar Jahre später untersuchten russische Wissenschaftler erneut die Sedimente am Grund des Sees. Geochemische Analysen ergaben, dass die entnommenen Proben mindestens zweihundertachtzig Jahre alt waren. Mitarbeiter des Instituts für Geologie und Mineralogie konnten kurz darauf mittels Radioskopie das Ergebnis ihrer Kollegen bestätigen.

Und warum war der See dann auf keiner Karte verzeichnet? Das sei nicht weiter verwunderlich, erklärten die Forscher aus Krasnojarsk. Wegen der riesigen Ausdehnung dieses Gebietes sei seine kartografische Erfassung immer mangelhaft gewesen, und an dem Umstand, dass ein kleiner See nicht auf alten Landkarten zu sehen war, sei nichts Ungewöhnliches.

Also wieder nichts. Der Tscheko-See verlor sein Mysterium, es blieb ihm nur seine Schönheit.

Mein Lieblingsirrtum der letzten Jahrzehnte stammt ebenfalls von italienischen Wissenschaftlern. Ein Team mit dem Namen Opera verkündete 2011 Messergebnisse, die beweisen sollten, dass sich manche Neutrinos schneller als das Licht bewegten. Die Forscher hatten diese Teilchen über sechs Monate hinweg beobachtet und immer wieder sei es zur Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit gekommen. Die Partikel legten eine siebenhundert Kilometer lange Strecke zwischen dem CERN und dem italienischen Labor Gran Sasso in einem Tempo zurück, das 0,025 Promille über der Geschwindigkeitsgrenze des Universums lag. Gemäß der Relativitätstheorie war das jedoch unmöglich: Nichts kann in einem Vakuum schneller fliegen als das Licht. Die Sensation war perfekt! Das Jahrhundertgenie Einstein war widerlegt!

Fünf Monate später wandten sich die Opera-Mitarbeiter wieder an die Öffentlichkeit. Dieses Mal jedoch mit leiseren Tönen. Es seien „zwei mögliche Effekte identifiziert worden, welche die Messungen beeinflusst haben könnten.“ Ein GPS-Gerät und ein defektes Glasfaserkabel hätten zu einer „Überschätzung der Geschwindigkeit“ geführt. Die Experimente müssten wiederholt werden.

Diese Mitteilung führte in der Welt der Naturwissenschaften zu allerlei launigen Kommentaren. Das Wort Promille in der Veröffentlichung von 2011 wurde dabei nicht immer wohlmeinend interpretiert. Auf einer Karikatur sah man Männer in weißen Kitteln, mit Weingläsern in der Hand, ein wenig schwankend über ein Kabel gebeugt. Mein Gott, so schnell!, ruft einer von ihnen.

Seit damals erwartet niemand mehr bahnbrechende Nachrichten aus Gran Sasso. Ich hingegen vertraue auf die Findigkeit des kühnen Opera-Teams und halte die Daumen für neue Enthüllungen, die das Gefüge der physikalischen Sicherheiten zu erschüttern vermögen, und sei es auch nur für ein paar Monate.

Schöne Ungeheuer

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