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SIEBEN

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Herbert musste hervorragend geschlafen haben, sein Gesicht wirkte entspannt, beinahe fröhlich, als er frühmorgens bei mir hereinschneite.

„Wie war’s?“, fragte er noch im Stehen.

„Du hast ja blendende Laune“, antwortete ich. „Was ist passiert?“

„Ich habe immer gute Laune. Ist dir das noch nie aufgefallen? Also, wie ist es gelaufen?“

„Falls du das Treffen mit Frau Dr. Mattusch meinst: Es war mehr ein Test als ein Gespräch.“

„Und, bist du durchgefallen?“

„Nein.“

Herbert klopfte mir auf die Schulter und setzte sich hin.

„Ich wusste es!“

„Ich hingegen wusste einiges nicht. Zum Beispiel, dass sie deine Scheidungsanwältin war.“

Herberts Schultern bewegten sich nach vorne, die Fröhlichkeit verschwand aus seinem Gesicht.

„Das hat sie also ausgeplaudert.“

Ich war auf Ärger vorbereitet gewesen, aber ich sah nur eine tiefe Traurigkeit.

„Ich vermute“, sagte ich vorsichtig, „sie wollte nur verhindern, dass ich auf falsche Gedanken komme.“

„Falsche Gedanken?“ Herberts Stimme klang wie von weit her.

„Nicht so wichtig. Herbert, warum hast du mir nie von deiner Scheidung erzählt? Vielleicht hätte ich dir –“

„Was hättest du“, unterbrach er mich. „Mir helfen, meinst du das? Für dich bin ich doch nur ein übler Karrierist, der dem Chef … den Speichel leckt.“

Ein schwieriger Moment für die Wahrheit. Doch dreist lügen wollte ich auch nicht.

„Das auch“, sagte ich. „Manchmal. Aber nicht immer.“

„Wie großzügig von dir.“ Eine Stimme wie eine Tafel Bitterschokolade.

„Herbert, es war nicht meine Absicht –“

Auch diesen Satz konnte ich nicht zu Ende sprechen. Herbert zog seine Schultern wieder nach oben und schaute mich an.

„Wir waren einmal Freunde, erinnerst du dich?“

„Natürlich“, sagte ich so herzlich wie ich konnte. „Aber seitdem ist Vieles passiert. Du hast dich –“

„… in einen Opportunisten verwandelt und bist zum Feind übergelaufen. Ist es in etwa das, was du mir vorwirfst?“

Ziemlich exakt, war ich versucht zu sagen, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt.

„Nein, Herbert, so würde ich das nicht nennen. Es ist nur …“

Ich stockte.

Herbert erhob sich langsam, jede Bewegung schien ihn zu schmerzen.

„Könnte es nicht sein“, sagte er leise, „dass du dich einfach von mir abgewandt hast, weil ich deinen hohen moralischen Standards nicht mehr genügt habe? Dass deine unerschütterliche Selbstgefälligkeit ein Urteil über mich gesprochen hat? Verbannung aus meinem edlen Freundeskreis, so lautete die Strafe, nicht wahr?“

„Herbert, bitte –“ Ich stand auf, legte meine Hände auf seine Oberarme, versuchte ihn zurückzuhalten, doch er entzog sich meiner Berührung, drehte sich um und verließ mein Büro.

Wieder allein, noch aufgewühlt von der Auseinandersetzung mit Herbert, setzte ich mich an meinen Computer und recherchierte über die neuesten Errungenschaften am CERN, um mir bei der Unterhaltung mit Jelena keine allzu offensichtlichen Blößen zu geben. Weit kam ich nicht: Bei einem Foto blieb ich hängen. Es zeigte das Cover des Buches Inside CERN, eines Fotobands von Andri Pol.

Ein enges, auf den ersten Blick funktional eingerichtetes Büro. Die meisten Gegenstände sind weiß oder beige: Regale, Tische, Röhren, der Heizkörper. Nur die heruntergelassenen Jalousien leuchten in einem im Verhältnis zur Umgebung fast schon schreienden Hellblau. Drei prall gefüllte Regale: Unmengen Papier, darunter ein futuristischer Drucker. Was die weiteren Objekte betrifft, kann der Laie nur ahnen, worum es sich handelt. Ein silbernes Kästchen in zwei Teilen, dahinter ein Gerät, in dem etwas wie ein Griff mit angeschlossenem Kabel steckt. Arbeitet man hier mit Lötkolben? Auf dem zweiten Regal klebt ein Post-It, leider unlesbar. Geheimnisvolle Glasquadrate, an der Seite eine Reihe Steckdosen. Im dritten das nicht mehr definierbare Chaos, eine aufgerissene Schachtel mit herausgerutschten länglichen Quadern – Mini-Teilchenbeschleuniger oder doch verpackte Nespresso-Kapseln? Noch ein offener Karton, aus dem Kabel kriechen, ineinander verschlungen, ein Hochzeitstanz von weißen und schwarzen Nattern.

Das Zentrum des Bildes jedoch, oder besser: seine rechte Hälfte, zeigt einen Mann. Mit kurzen Hosen und einem Polo-Shirt, das Tausende Waschgänge überstanden haben muss. Aus dem Saum der Shorts ragen dünne, verschrumpelte Knie, abgeschnitten von der unteren Bildkante. Der Schädel des Mannes ist kahl, doch hinter seinen Ohren, einmal um den Kopf herum, verläuft ein buschiger Kranz aus weißem Haar. Und er trägt einen imposanten Vollbart, zerrupft und eisfarben wie die Gesichtshaare des Yeti auf den gefälschten Fotografien.

Soweit zum äußeren Erscheinungsbild.

Doch was mich ergriff, war eine Bewegung, die Andri Pol eingefangen hatte (einer dieser Momente, von denen alle Fotografen träumen). Eine Geste des Mannes, beide Arme weg vom Körper gerichtet, die Handflächen nach oben gewandt, die Daumen abgespreizt. Die wohlbekannte Haltung, die in etwa ausdrückt:

Was soll das?

Kann mir jemand das erklären?

What the fuck – ?

Oder, in deutschen Krimiserien sehr beliebt: Was zum Teufel …?

Der Blick des Mannes, winzige Brillen mit Drahtgestell durchdringend, richtet sich auf einen Gegenstand, der als einer der wenigen auf diesem Tableau klar zu erkennen ist.

Eine Espressomaschine.

Der Mann ist Richard Kellogg, einer der wichtigsten Physiker am CMS-Projekt, das an der Entdeckung des Higgs-Teilchens beteiligt war.

Der hochdekorierte Wissenschaftler, der vor den Tücken seiner Kaffeemaschine kapituliert. Selten hat für mich ein Bild auf so verschmitzte Weise ein Phänomen zum Ausdruck gebracht, das mich mein Leben lang beschäftigt: Der Charme des Scheiterns großer Geister an kleinen Dingen. Da ich selbst keiner war, konnte ich mich diesem Zauber uneingeschränkt hingeben.

Keine halbe Stunde später entdeckte ich jedoch das gesamte Foto der Szene. Pol hatte für den Umschlag die linke Hälfte weggeschnitten, im Buch befand sich das Bild in voller Breite. Und mit einem Mal sah es aus, als betreffe Kelloggs Unmut nicht die Maschine, sondern die Tatsache, dass sich daneben ungewaschene Tassen stapeln. (Das Chaos auf den Regalen stört ihn offensichtlich nicht.) War also meine kleine Geschichte falsch und der Professor ärgert sich nur darüber, dass niemand das Geschirr gespült hat? Wie immer konnte es entscheidend sein, das vollständige Bild zu betrachten. Jedenfalls bestellte ich sofort das Buch.

Gegen Mittag rief Eva an. Ich konnte mich nicht erinnern, ihr meine Handynummer gegeben zu haben. Ihre Stimme klang aufgewühlt.

„Herr Hollaus, wir haben es geschafft! Jelena Karpova hat dem Gespräch zugestimmt.“

„Das kann ich fast nicht glauben.“

Ich freute mich, und ich freute mich nicht. Ambivalenz, wie immer.

„Doch, es ist wahr! Anfangs dachte ich, es gäbe keine Chance. Sie war abweisend, sehr in sich versunken. Ich habe ihr von Ihnen erzählt, aber sie hat nicht reagiert.“

„Kein Wunder.“

„Ich hab alles versucht. Ihr vorgeschwärmt, was für ein toller Wissenschaftsjournalist Sie sind.“

„Das wird sie Ihnen nicht abgenommen haben. Sie ist sehr intelligent.“

Ich hörte ein Lachen. „Sagen wir so: Sie war nicht sehr beeindruckt. Da hab ich es mit der kleinen Lüge probiert, dass Sie einen großen Artikel über das CERN in einer bedeutenden Zeitung planen. Und sehr an den neuesten Entdeckungen interessiert sind.“

„Aha.“

„Sie hat mich mit ihrem müden Blick angeschaut und gesagt: ‚Heutzutage interessiert sich jeder Idiot für das CERN. Und wer es nicht tut, ist erst recht einer.‘“

„Nicht schlecht. Aber Sie haben nicht aufgegeben, vermute ich.“

„Mir ist erst nichts mehr eingefallen. Dann hab ich gedacht, wenn die Notlüge nicht funktioniert, geben wir der Wahrheit eine Chance.“

„Das ist gut. Dann weiß Frau Karpova jetzt, dass ich keine Ahnung habe, worüber ich mit ihr sprechen soll. Und erleichtert bin, wenn sie ablehnt.“

In ernstem Tonfall sagte Eva: „Ich dachte, über diesen Punkt sind wir hinaus.“

„Sie haben recht. Das war nur ein kleiner Panikanfall.“

„Panik wovor? Ihnen kann doch nichts passieren.“

Ich ging in die kleine Redaktionsküche und holte mir ein Dosenbier aus dem Kühlschrank.

„Sind Sie noch da?“, fragte Eva.

„Ja.“

„Womit, glauben Sie, hab ich sie neugierig gemacht?“

„Keine Ahnung.“

„Ach, kommen Sie. Raten Sie doch einfach.“

„Mit meiner aufregenden Biografie? Geboren in Wien, lebt in Wien, stirbt bald in Wien?“

„Falsch“, sagte Eva übermütig. „Nächster Versuch!“

Wir schwiegen. Ich wollte etwas Leichtfüßiges, Geistreiches sagen, doch mir fiel nichts ein.

„Gut, dann verrate ich es Ihnen.“ Evas Stimme hörte sich an wie die eines Kindes, das einem fantasielosen Erwachsenen die Welt erklären muss.

„Sind Sie bereit?“

„Bin ich.“

„Ich habe Jelena erzählt, dass Sie an einem Buch über Tunguska arbeiten.“

„Haben Sie nicht.“

„Hab ich doch.“ Jetzt saßen wir beide in der Sandkiste.

Eva verließ sie zuerst.

„Diese Frau“, sagte sie ruhig, „die mir nie etwas anderes als ein tieftrauriges Gesicht gezeigt hatte, bekam plötzlich funkelnde Augen.“

„Aber warum?“

„Das weiß ich nicht. Sie hat nicht mehr viel gesagt. Nur, dass sie einem Treffen mit Ihnen zustimmt.“

Zu meiner eigenen Überraschung dachte ich darüber nach, was ich anziehen sollte. Diese Frage hatte ich, bevor ich Helga kennenlernte, für belanglos, ja für frevelhaft oberflächlich gehalten. Man greift in den Kleiderkasten und nimmt sich blind heraus, was sauber ist. Mehr Aufwand ist Zeitverschwendung. Als Helga in mein Leben trat und mein schlampiges Äußeres kritisierte, löste ich das Problem auf meine Weise. Ich zog an, was ihr gefiel; sie suchte die Sachen für mich aus, hängte sie in den Schrank an die Stelle, an die ich morgens immer hingriff, für mich änderte sich wenig und sie war zufrieden. Ich könnte heute nicht mehr mit Gewissheit sagen, was genau sie beanstandet hatte und warum die Anzüge, die sie mir für wichtige Anlässe verordnet hatte, mich nicht störten, doch an etwas erinnere ich mich: Meine Lederjacke, die mich durch mein Leben begleitet hatte und die sie abgefuckt nannte, zog ich so lange weiterhin an, bis Helga eines Tages ein Verdikt aussprach. Männer über fünfzig in schwarzen Lederjacken sind lächerlich. Das klang unwiderlegbar wie Newtons Gravitationsgesetz und verbannte die Jacke in den Nebenschrank (ich konnte gerade noch verhindern, dass sie sie in den Kleidercontainer der Volkshilfe warf). Das Seltsame war: Auch nach der Trennung habe ich sie nie wieder angezogen.

Und nun hob ich sie behutsam vom Haken, wischte den Staub vom Kragen und schlüpfte hinein. Weshalb? Für wen? Für eine Anwältin, die über meinen Anzug gelacht hatte? Für eine verdächtige Physikerin, deren Augen Tunguska zum Leuchten gebracht hatte? Nein, ich glaube nicht. Etwas hatte aufgehört und etwas anderes begonnen.

Am Bahnhof Linz holte mich Eva mit dem Auto ab. Sie hatte ihren kleinen roten Flitzer (keine Ahnung, welche Marke) direkt vor dem Haupteingang geparkt und winkte mir zu. Diesmal trug sie einen eleganten Hosenanzug und hochhackige Schuhe. Es war wohl für sie ein wichtiger Anlass. Sie musterte mich kurz, schmunzelte und legte ihre Hand auf meinen Oberarm. Die Jacke knisterte, wie es sein musste.

„Das mit dem goldenen Mittelweg ist nicht so Ihr Spezialgebiet, stimmt’s?“

„Aber Sie haben doch beim letzten Mal –“

„Vergessen Sie’s. War nur ein Witz. Steht Ihnen gut, die Jacke. Sie sollten sie bei Gelegenheit reinigen lassen.“

Ich roch am Innenfutter. Angenehm herber Duft, fand ich.

Auf dem Weg zum Landesgericht spürte ich ihre Nervosität. Sie fuhr unkonzentriert, rammte einmal beinahe einen Radfahrer, der uns Flüche nachschickte. Sie schien nichts davon mitzubekommen.

Vor dem Haupteingang blieb sie stehen und schaute mich von der Seite an.

„Herr Hollaus, ich wünsche Ihnen und Jelena viel Glück.“

„Danke.“

„Sie kennen die Regeln?“

„Ich denke schon. Kein Wort über die Tat. Keine Erwähnung des Opfers.“

Eva nickte. „Wenn sie nur vage spürt, dass Sie etwas über diese Nacht herausbekommen wollen, bricht sie auf der Stelle ab.“

Wir stiegen aus und betraten das Gebäude. Eva ging voraus und lotste mich durch die Gänge. Wir stiegen die Treppe in den ersten Stock hinauf bis zu einem Schild mit der Aufschrift „Besucher“.

„Hier beginnt die Justizanstalt“, erklärte Eva. „Nur Insassen in U-Haft und Verurteilte mit Reststrafen bis zu achtzehn Monaten.“

Sie öffnete die Tür und begrüßte die beiden Justizwachebeamten, die in einem hölzernen Verschlag saßen. Gab es im Gefängnis eine Rezeption?

„Das ist Georg Hollaus. Wir haben uns angekündigt.“

Einer der Beamten winkte uns durch, der andere stand auf und kam auf mich zu. Er nahm mir meine Umhängetasche ab und zeigte auf meine Jacke.

„Die auch, bitte.“

Er betrat einen Seitengang, öffnete eine Art Spind, legte meine Sachen hinein und sperrte zu.

„Hinter der Besucherzone beginnt das Halbgesperre“, sagte Eva. „Das ist für Besucher tabu.“ Mein Blick fiel auf winzige, vergitterte Zellen, aus denen Arme ragten und wild gestikulierten.

„Die heißen Handzellen“, flüsterte mir Eva ins Ohr. „Wer sich solche Namen wohl ausdenkt?“

Sie fasste mich am Arm und zog mich weiter.

„Wir müssen hier entlang.“

Sie führte mich in einen Raum, in dem sechs Menschen in Kojen mit gläsernen Seitenwänden saßen. Es gab acht solche Kojen, in zwei davon standen leere Stühle.

„Der in der Mitte ist für Sie“, sagte Eva. „Nehmen Sie bitte Platz, Jelena wird gleich kommen.“ Damit schlüpfte sie aus der Tür und ließ mich allein.

Ich nickte den anderen Besuchern zu und murmelte Begrüßungsworte, doch niemand nahm Notiz von mir. Der Raum war in Längsrichtung durch eine bis zur Decke reichende Glaswand geteilt. Auf der einen Seite saßen die Besucher, ihnen gegenüber die Insassen. Alle hielten Telefonhörer in der Hand. Ich bewegte mich nicht und starrte aus dem Fenster, sah die furchteinflößende Stacheldrahtumzäunung. Ich kämpfte gegen einen Fluchtreflex, versuchte, mich zu beruhigen, und setzte mich auf den Platz in der Mitte des Raumes. Vor mir die Glaswand und ein leerer Stuhl. In der Ecke des Bereichs für die Häftlinge saß ein Beamter und löste ein Kreuzworträtsel. Ich hatte das Gefühl, mich in einer singulären Zone zu befinden, in der die Zeit nicht mehr voranschritt.

Da öffnete sich die Tür und eine Frau schwebte herein. Ja, schweben ist der richtige Ausdruck. Ich erkannte sie nicht sofort, sie trug ihre weißblonden Haare jetzt kurzgeschnitten. Sie war geschminkt, hatte die Augenbrauen und die Lider mit einem Kajalstift nachgezogen. Die Wimperntusche ließ ihre grünen Augen riesig erscheinen. Sie sah, dachte ich in diesem Moment, exakt aus wie Jean Seberg in Außer Atem. Bis auf die Augenfarbe vielleicht, das vermochte ich nicht mit Sicherheit zu sagen, schließlich war Außer Atem ein Schwarzweißfilm und ich konnte mich nicht entsinnen, je ein Farbfoto von Jean Seberg gesehen zu haben. Wobei grün ja auch so eine Allerweltsbezeichnung ist. Sagen wir so: Vor Jahrzehnten unternahm ich eine Reise in die Türkei und verbrachte viele Stunden im Topkapi-Museum. Angeregt vom Film mit Melina Mercouri suchte ich zuerst den berühmten Dolch. Er lag in einer Glasvitrine im hinteren Teil der Schatzkammer. Sein Griff wird von drei riesigen Smaragden gebildet. Im künstlichen Licht schienen sie ihre Farbe ständig zu verändern, von hell zu dunkel und wieder zurück. Es sah aus, als würden die Steine atmen. Dieses Grün meine ich. Der Dolch wäre zudem als Mordwaffe für diese Frau viel passender gewesen als ein Brieföffner.

Jelena bewegte sich auf den Stuhl zu, der meinem gegenüberstand, nahm aber nicht Platz. Trotz des Overalls, den sie trug, erahnte ich die Feingliedrigkeit ihres Körpers. Die Unterarme wirkten dünn und fragil, auch die Schlüsselbeine. Nur ihre Stirn erweckte den Anschein von Sturheit und Durchsetzungsvermögen. Ich stellte mir vor, wie sie damit Bretter durchstieß, die ihr uralte Shaolin-Mönche vors Gesicht hielten.

Sie stand noch immer. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie auf eine Geste von mir wartete. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich zeigte auf ihren Stuhl und murmelte etwas wie „bitte, setzen Sie sich doch“. Sie konnte mich nicht hören, trotzdem setzte sie sich und nahm den Telefonhörer auf.

Der Hörer, natürlich. Es war mir gar nicht bewusst gewesen, dass es solche Gegenstände noch gab. Schwarz und altmodisch lag er vor mir, wie in einem Gerichtsfilm aus den Fünfzigerjahren.

„Danke“ war das erste Wort, das ich von ihr hörte.

Es löste einen Impuls aus, den ich nur unter großer Kraftanstrengung zu unterdrücken vermochte. Es drängte mich, ihr zu sagen: Bitte erzählen Sie mir, was in jener Nacht wirklich geschehen ist, Sie können keine Mörderin sein, Sie dürfen Ihr Leben nicht durch ein falsches Geständnis wegwerfen, ich persönlich werde Sie hier herausholen, etc.

Doch ich sagte nur:

„Ich danke Ihnen. Dass Sie mir erlauben, mit Ihnen zu sprechen.“

Jelena Karpova ließ sich Zeit mit ihren nächsten Worten.

„Warum sind Sie wirklich hier?“

„Nun, ich habe einige Ihrer Veröffentlichungen über Ihre Arbeit …“

Sie erhob sich.

„Das stimmt, bitte glauben Sie mir. Aber Sie haben recht, es gibt noch einen wichtigeren Grund.“

„Und der wäre?“

„Sibirien.“

„Aha. Inwiefern?“

„Sie … Sie stammen aus Krasnojarsk, und ich arbeite an einem Buch über Tunguska. Hat Ihnen Frau Dr. Mattusch nichts davon erzählt?“

Sie setzte sich wieder.

„Doch, hat sie. Ich wollte es nur aus Ihrem eigenen Mund hören.“

Sie beugte sich weit nach vorne, bis ihre Stirn fast das Glas berührte.

„Und ich weiß, dass das auch eine Lüge ist. Aber wenigstens eine interessante.“

Sie kam mir ganz nahe, doch ich wich nicht zurück.

„In diesem Fall“, sagte ich, „muss ich Sie enttäuschen. Das Buch gibt es tatsächlich. Das heißt, nicht das Buch, aber die Idee. Alles schon in meinem Kopf.“

„Noch keine einzige Seite geschrieben, richtig?“

Schuldbewusst senkte ich den Blick.

„Tausende Zettel, der Laptop voller Daten, Regale, in denen sich Bücher und DVDs stapeln, überall verstreute USB-Sticks – so ungefähr?“ Es klang belustigt, aber nicht geringschätzig.

„Das trifft es ziemlich genau“, sagte ich leise.

„Machen Sie sich keine Sorgen, das kommt schon. Wenn ich an mein erstes Buch denke, da war es auch so. Beinahe hätte ich das gesamte Material vernichtet, bevor ich den ersten Satz formuliert habe. Trösten Sie sich: Beim zweiten Buch wird’s besser.“

„Ich habe es gelesen“, sagte ich.

„Was?“

„Ihr erstes Buch. Worauf wir hoffen. Über die Entdeckungen der Zukunft.“

„Ach, wirklich?“ In diesem Augenblick sah ich zum ersten Mal, wie sie mit Eleganz ihre rechte Braue hochzog. Man kennt das ja, in den Gesichtern von Menschen, die Zweifel, Verwunderung und Überlegenheit zum Ausdruck bringen wollen. David Niven, wenn ihn etwas belustigte, zum Beispiel. Bei Jelena war es anders. Zwar strahlte diese Bewegung der Braue auch eine gewisse Dosis Spott aus, doch ohne jede Spur von Verachtung oder Selbstgewissheit. Ihr Gesicht war dabei offen und neugierig. Es kam mir vor, als würde ich in das Antlitz eines Mädchens blicken, das die Wunder der Erde bestaunt.

„Und?“, fragte sie.

„Ich muss gestehen, ich habe nur Teile verstanden. Es hat mir deutlich gemacht, wie wenig ich weiß.“

„Dann haben Sie es doch verstanden“, sagte sie. „Es ist ein Buch darüber, wie wenig wir wissen. Viele Theorien, wenig Beweise.“

„Wie bei Tunguska“, sagte ich ohne nachzudenken.

Sie klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Kinn, schob ihre feinen, weißglatten Hände auf der Tischplatte ineinander.

„Da ist es noch schlimmer. Hundert Hypothesen, kein einziger Beleg.“

„Sie haben sich mit dem Ereignis beschäftigt?“, fragte ich vorsichtig.

Ihr erstes Lachen.

„Ich habe den unstillbaren Drang, mich mit allem zu beschäftigen, was unser Fachgebiet betrifft. Das wird mir noch einmal zum Verhängnis werden.“

Ihr Lachen erstarb, etwas wie ein Schleier legte sich über ihre Augen.

„Oder ist es schon geworden.“

„Wie meinen Sie das?“ – Fragen wie diese durfte ich jetzt nicht stellen. Es fiel mir nicht leicht. Sie wandte sich ab, ich sah den Flaum ihrer Nackenhaare. Für Bruchteile von Sekunden fühlte ich etwas Weiches auf meinen Fingerkuppen. Gibt es Halluzinationen des Tastsinns?

Sie wartete. Vielleicht schon wieder eine Prüfung. Von mir kam kein Wort.

Da bewegte sich ihr Kopf, sackte kurz nach unten, der Hörer fiel auf den Tisch, sie schreckte hoch, wie aus dem Schlaf gerissen, rieb sich die Augen und hielt sich die Sprechmuschel wieder vor den Mund.

„Wo waren wir?“

Bei Ihrem Verhängnis, wollte ich antworten. Ich hatte Glück, meine Vernunft war stärker.

„Im Jahr 1908“, sagte ich stattdessen.

„Ja, das Ereignis!“ Sie lächelte, wieder ganz bei sich selbst. „Was ist Ihre Lieblingserklärung?“

„Wie meinen Sie das?“ Nun passte der Satz.

Jelena strich mit der Spitze des Zeigefingers über ihre Nasenflügel, erst links, dann rechts, eine Geste, die ich noch nicht deuten konnte.

„Ganz einfach: Es geht um eine Naturkatastrophe, geschehen vor mehr als hundert Jahren, es gibt über hundert Thesen, und keine lässt sich beweisen. Wenn Sie sich damit beschäftigen, müssen Sie einen Favoriten haben.“

„Na ja, wichtig ist doch, welche Hypothese die wahrscheinlichste –“

„Langweilen Sie mich nicht!“ Das kam scharf, unvermittelt. Eine Sentenz, in Marmor gemeißelt. Das Motto ihres Lebens. Der Spruch auf ihrem Grabstein, nach vielen elenden Jahren im –

„Ich warte.“

„Sie verachten die Wahrscheinlichkeit?“

„Nein. Sie macht mich nur müde.“

„Was weckt Sie auf?“

„Leidenschaft vielleicht. Obwohl das ein zu großes Wort ist. Besessenheit gefällt mir besser.“

„Damit kann ich, fürchte ich, nicht dienen. Es ist mehr ein Hob–“

Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund.

„Sie sehen nicht aus wie jemand, der Steckenpferde reitet.“

„Sie haben recht“, sagte ich. „Die wahrscheinlichste Lösung ist langweilig. Ein Meteorit oder Komet, der in fünf bis zehn Kilometern Höhe über der Taiga explodiert. Na ja.“

„Und ebenso unbeweisbar“, sagte sie feurig. „Mein Urgroßvater –“ Sie brach ab.

Ich richtete mich auf, jetzt war ich hellwach.

„Wollen Sie damit andeuten, Ihr Urgroßvater war ein … ein Augenzeuge?“

Jelena seufzte.

„Ich rede zu viel. Noch so eine gefährliche Eigenschaft. Aber ja, er hat es gesehen. Und gehört. Er war Rentierhirte, unweit von Wanawara.“

„Das ist ja unglaublich“, rief ich. „Was hat er erzählt?“

„Das, was die meisten Zeugen berichten: ein Feuerball, der über den Himmel zieht, ein Donnergrollen in der Luft, zersplitternde Fensterscheiben, plötzliche Hitze. So hab ich es von seinem Sohn gehört. Aber da war noch etwas.“

„Was?“

Sie schwieg kurz und genoss meine Ungeduld.

„Mein Urgroßvater hat gesagt, er habe ohne Zweifel einen Aufprall gehört. Etwas unerhört Großes und Schweres sei auf der Erde aufgeschlagen. Der Boden habe minutenlang gebebt. Und dann sei eine Rauchsäule in den Himmel gestiegen.“

„Also doch ein Impakt!“ Das war eindeutig zu laut für einen Steckenpferdreiter.

Die anderen Insassen und Besucher drehten mir ihre Köpfe zu, der Wachebeamte blickte von seinem Rätsel hoch.

Jelenas Handbewegung deutete an, dass es besser wäre, meine Stimme zu dämpfen.

Leise sagte ich: „Das klingt nicht nach einer Explosion in großer Höhe, oder?“

„Eher nicht.“ Da war ein ganz feines, kaum merkbares Lächeln auf ihren Lippen.

„Verraten Sie mir jetzt Ihre Lieblingstheorie?“

„Grundsätzlich schätze ich jene Thesen am meisten, die den Tatsachen am ehesten entsprechen. Aber wenn Sie die Wahrheit langweilt, muss ich wohl andere Prioritäten setzen –“

„Moment!“ Ihr erstes lautes Wort. „Sie werden doch nicht Wahrheit und Wahrscheinlichkeit verwechseln? Da hab ich Sie wohl überschätzt.“

Das traf mich. Ich ließ den Hörer sinken, nahm ihn in die andere Hand und hielt ihn mir ans andere Ohr, als würden mich dort freundlichere Sätze erreichen. Jelena beobachtete mich aufmerksam, ihre nächsten Worte formulierte sie sehr behutsam:

„Wahrscheinlichkeit ist der Feind der Wahrheit, finden Sie nicht? Wir werden uns andere Kategorien überlegen müssen.“

Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte ich kühn:

„Wie wäre es mit Schönheit?“

Sie lachte hell auf, ihr Unmut war verflogen.

Beauty is truth, truth beauty – meinen Sie das?“

„Shakespeare?“, riet ich.

Mit einem gespielt strengen Blick sah sie mich an, wie eine liebevolle Lehrerin.

„John Keats“, sagte sie nachsichtig. „Eine romantische Verszeile, doch die Wirklichkeit hält sich nicht daran. In der Wissenschaft ist schon so manche schöne Theorie von einer hässlichen Tatsache zu Fall gebracht worden.“

„Aber wie soll ich Ihnen meine liebste These nennen, wenn Sie alle Kriterien ablehnen?“

„Nicht alle! Bisher haben wir nur über zwei gesprochen.“

„Gut, dann machen Sie mir bitte einen Vorschlag.“

Jelena trommelte mit den Fingern einen Rhythmus auf den Hörer.

„Was halten Sie davon: Die lächerlichsten Lösungen sind oft die wahren?“

Ich musste lachen. „Lächerliche Vorschläge gibt es bei Tunguska mehr als genug.“

„Sehen Sie! Und über welchen haben Sie am lautesten gelacht?“

„Ein riesiger Komet ist auf die Erde zugerast. Glücklicherweise war ein außerirdisches Raumschiff mit besonders edlen Aliens in der Nähe. Um die Menschheit zu retten, steuerten sie ihr Schiff auf Kollisionskurs mit dem Eindringling. In einer gewaltigen Explosion wurden sowohl der Komet als auch das UFO zerstört. Eine fremde Macht hat sich für uns geopfert.“

Jelena legte den Telefonhörer ab und klatschte zweimal in die Hände. Dann nahm sie den Hörer wieder auf.

„Der gute Juri“, sagte Jelena. „Er hat so viel Fantasie.“

Erst nach ein paar Sekunden verstand ich.

„Sie kennen Juri Lawbin?“

„Natürlich. Er stammt aus Krasnojarsk, wie ich. Wir mailen hin und wieder. Ein äußerst liebenswerter Mann. Leider völlig verrückt.“

Der Beamte schaute auf die Uhr, legte sein Heft beiseite und erhob sich. Die Besuchszeit war vorüber.

„Vertrauen Sie Ihren Obsessionen“, sagte Jelena zum Abschied.

Schöne Ungeheuer

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