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Erlebnis oder Traum?

Um die Mittagszeit war es, als Bratt Ullewold wieder den verlassenen Hof betrat. Er blieb stehen, betrachtete Haus und Scheune und die weite, von Gras, Unkraut und Buschwerk überwucherte Fläche des Bergrückens. Ein schöner Besitz, dachte er, und wert, der Verwahrlosung entrissen zu werden.

Das Gefühl der Vereinsamung hatte ihn verlassen. Er war nicht mehr allein. Er wusste, dass ihn auf Schritt und Tritt ein unsichtbares Wesen begleitete; aber er fürchtete sich nicht davor. Er empfand deutlich, dass der Unsichtbare keinen Hass und keine Feindschaft gegen ihn hegte.

Bratts Felleisen war mit Lebensmitteln auf mehrere Tage angefüllt. Er bereitete sich sein Mittagsmahl. Kleinholz und Kloben lagen in der Küche aufgestapelt, es fehlte auch nicht an Pfannen, Töpfen und Geschirr. Prächtig mundete ihm das Essen. Dann setzte er sich in den Ohrenstuhl ans Fenster und suchte nach Zusammenhängen zwischen dem Genganger-Saeter — er zweifelte nicht daran, dass er sich dort befand und seinen Begegnungen mit Ole Dal, der alten Petra und Asle, dem Totengräber, der Birk Kollens Schädel den Abhang hinunterwarf. Was hatte Sören Sörke mit diesen Menschen zu tun gehabt, und welchen Einfluss hatten sie auf sein Leben ausgeübt?

Von übernatürlichen Dingen, die hier oben geschehen sein sollten, sprachen die Leute. Alles, was sie nicht mir ihren irdischen Augen sehen, mit ihren Händen greifen und mit ihren stumpfen, erdgebundenen Sinnen zu fassen vermögen, nennen sie übernatürlich; und doch gibt es nichts auf den Sternen und auf unserer Erde, was nicht natürlich wäre; nur fehlt uns der Schlüssel für manches Rätsel. — Nichts wird verloren gehen, auch kein Gedanke, der es wert ist, fortzubestehen. Grosse Gedanken sind wie Samenkörner, sie eilen, verborgen und unbeachtet, ihrer Zeit voraus, und werden aufgehen, wenn ihre Stunde gekommen ist und die Menschheit reif sein wird, sie in sich aufzunehmen.

Ullewolds Sinnen ging weiter: vom Leben nach dem Tode sprechen die Priester, aber sie reden nur von dem Himmel oder von der Hölle. Doch keine Seele wird sich ohne weiteres in die höchsten Sphären aufschwingen oder in die tiefste Finsternis versinken. Was wissen wir, wie viele Wandlungen und Wanderungen wir schon hinter uns haben, und wie viele uns noch bevorstehen, bis wir am Ziel sind? Wäre es so unwahrscheinlich, dass nach unserem Ableben unsere unsterbliche Seele noch eine kürzere oder längere Zeit erdgebunden bliebe?

Alle diese Fragen hatten die Phantasie des Dichters schon oft beschäftigt, aber nie zuvor war er von ihnen so gewaltig ergriffen worden wie in dieser Stunde auf dem einsamen, verlassenen Sörke-Hof. Ohne Zweifel spielte sich hier oben vor mehr als einem halben Jahrhundert eine Tragödie ab, der drei Menschenleben zum Opfer fielen. Ein Fluch lastete über dieser Gegend. Das Gewissen oder die Vergeltung für eine begangene Tat raubte einem Toten die Ruhe. Und doch muss er ein Mann gewesen sein, der ein Herz voll Liebe besass, wie könnte sonst die alte Petra noch jetzt, nach fünf Jahrzehnten, für das Heil seiner unsterblichen Seele beten? Sicher wurde Bratt Ullewold von einer unsichtbaren Macht nicht ohne Absicht zu dieser Stätte geführt, wenn sie ihm nicht eine Aufgabe stellte, die zu lösen nur er berufen war. In ihm lebte die grosse Liebe zu seinen Mitmenschen, die sich durch keine Enttäuschung entmutigen liess und die reine Freude, dem Bedrängten und Unglücklichen zu helfen.

Eine ihm unerklärliche Veränderung geschah. Alle Gegenstände im Zimmer verblassten. Alles veränderte sich. Menschen einer längst vergangenen Zeit in altertümlicher Kleidung traten zur Tür herein. Bilder, lebenswahr, entstanden; verschwammen in Dunst und Nebel, und neue Gebilde traten hervor. Tage, Wochen, Monde, Jahre und Jahrzehnte strichen an ihm vorüber. Er durchlebte ein ganzes Menschenschicksal mit all seinem Wechsel von Glück und Missgeschick, Freude und Leid, Liebe und Hass, bis es schliesslich in schwerer Schuld und Verzweiflung endete.

Nacht umgab Bratt Ullewold. Wie ein Alp drückte ihn eine zentnerschwere, unsichtbare Last. Kein Glied vermochte er zu rühren, keinen Ton hervorzubringen, aber seine Sinne blieben hellwach. Endlos deuchte ihn dieser Zustand. Totenstille umgab ihn. Endlich vernahm er ein leises, gleichmässiges Geräusch. Es war das einförmige Ticken der Uhr. Dann hörte er es in den alten Möbeln knacken und klopfen, und nun geschah etwas Schreckenerregendes: ein grosser Wandspiegel wurde durch ein Zimmer geschleudert. Ein gewaltiges Krachen und Splittern folgte, dann ein gellender Schrei.

Der Einsame sprang empor. Der fürchterliche Bann war von ihm gewichen. Entsetzt starrte er um sich. Es war heller Tag!

Hatte er wirklich alles erlebt, oder war es nur ein wüster Traum gewesen? Aber klar und deutlich standen alle Bilder vor seinen Augen, lückenlos reihte sich Glied an Glied.

Bratt Ullewold ging den Weg zum Moor. Er glaubte um dessen Geheimnis zu wissen. Aufmerksam betrachtete er die Gegend. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der wie eine Erlösung auf ihn wirkte. Er gelobte sich, ihn in die Tat umzusetzen. Seltsam leicht wurde ihm zu Sinn.

Dann wieder ergriff ihn Unruhe. Es trieb ihn ins Haus zurück. Schreiben musste er, aufschreiben, was er gesehen und erlebt hatte. Ihm war, als ob nicht er, sondern ein anderer die Feder führe, der ihm die Worte eingab, die er zu Papier bringen musste.

Der geheimnisvolle Hof

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