Читать книгу Deutscher Novellenschatz 8 - Wilhelm Heinrich Riehl - Страница 5

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Wo der Arlberg steil niedergeht ins Land an der Iller, am Rhein und am Bodensee, liegt der kleine Ort Stuben. Das Posthaus daselbst ist wenig besser als die umher zerstreuten Wohnungen der Bauern, was sein Äußeres anbelangt. In seinem Inneren dagegen hat es eine Stube, die an Traulichkeit schwerlich ihres Gleichen findet. Wohl erhellt durch mehrere Fenster und sauber aufgeputzt mit Schränken und Gerätschaften aller Art, ist sie der Aufbewahrungsort aller Glas- und Porzellanschätze, die das Haus besitzt. Ein paar reinliche, aber altväterische Tische füllen, mit den dazu gehörigen Sesseln und dem breiten Kanapee, den inneren Raum; eine hübsche Hecke von Kanarienvögeln ist an einem der Fenster, Käfige mit andern Vögeln sind an den übrigen zu schauen; an dem getäfelten Plafondgesims laufen grüne Ranken, festgehalten von weißen Bändern, hin und beschatten die Sänger des Waldes. In der Ecke gegen die Straße ist das Bild des Gekreuzigten aufgerichtet, umgeben von Heiligenbildern; an der Decke schwebt die hölzerne Taube, die Versinnlichung des Heiligen Geistes. Die geschnitzten Friese der Schränke sind mit Porzellan- und Tonfiguren besetzt, unter welchen die eines kaiserlichen Soldaten mit der Fahne in der Hand, besonders hervorsticht. Spiegel und Vorhänge, der Kalender an der Wand, die Rechentafel an der Tür, die Essig- und Branntweingefäße auf dem mächtigen Ofen, stimmen vollkommen zu dem Übrigen und malen ein heiteres Bild genügsamen Stilllebens vor dem Beschauer aus. — Auch vor dreißig und noch mehreren Jahren mag dieses behagliche Zimmer gerade so ausgesehen haben wie heute; nur waren die Gäste darinnen schwerlich so friedlich, wie die heutigen. Es war Krieg im Lande. Die Verteidiger des letzteren und die Schwärme des Feindes zogen hin und her, auf und ab. In ihrem Gefolge war bald Sieg, bald Niederlage; aber stets der Mangel, stets die Noth des Volkes, das unter der Geißel der Waffen leiden und bluten musste. — Er hatte eine schlimme Zeit zur Reise gewählt, der alternde Mann, der eines Abends im Sturmwetter mit seinem Weibe und zwei Kindern, von denen das eine sehr krank, in dem Wirtshause ankam. Sein bescheidenes Fuhrwerk vermochte kaum noch von den abgetriebenen Gäulen geschleppt zu werden. Seine Habseligkeiten waren durchnässt, so wie er selbst und die Seinigen. Mit großer Mühe hatte er vor der Raubgier des Feindes seine Tiere und das Gepäcke über den Berg gerettet. Er verlangte ein Nachtlager und Erquickung für seine Familie von den gutmütigen Wirtsleuten. Wenn mein Bub' nicht krank geworden wäre, ließ er sich vernehmen, es hätte mich Nichts abgehalten, trotz der elenden Witterung noch in der Nacht meine Reise fortzusetzen. — Und als die Wirtin voll Mitleids hinging, nach dem kranken Kinde zu sehen, das auf dem Schoss seiner starrblickenden und stummen Mutter lag, fuhr der Mann fort: Ihr habt wohl seit manchen Jahren keine so betrübte Familie beherbergt, liebe Frau. Lasst Euch sagen: Wir sind im Frieden aus Mähren davon gereist und mussten hier im Lande den Krieg finden! Ist das nicht ein Unglück? Doch würde das nichts ausmachen, denn ich fahre ja meiner Heimat entgegen, und meine Sehnsucht nach ihr ist ungemessen; aber da hat im Salzburgischen der Tod zwei meiner Kinder ins Himmelreich geführt, und das war ein harter Schlag für mich: ein doppelt harter für die Mutter. — Die Genannte erhob die dunkeln, schwermutsvollen Augen wie mit einem bitteren Vorwurf gegen ihren Mann, sagte aber kein Wort und versank wieder in die Betrachtung des von Gichten geschüttelten Knaben. — Der Mann strich sich die ergrauenden Haare verlegen aus der Stirne und sprach zum Wirt, abseits tretend: Ist kein Doktor im Ort? Der kleine Johann kommt mir wunderlich vor, und auch die Frau könnte eine zweckmäßige Hilfe wohl brauchen. Der Wirt verneinte, die Achseln zuckend. In Bludenz sei ein Wundarzt, meinte er. — So lassen wir's bis dorthin, versetzte der Reisende; mir blutet das Herz, weil der Knab' so leidet, und weil die Mutter sich schier hinterdenkt; aber ich kann's in Gottes Namen nicht ändern. Die Pferde wollen kaum mehr fort, und dem Kind wär' eine weitere Reise ein sicherer Tod. Wäre der Bube nur halb so frisch und flott, wie sein Schwesterchen .... Vreneli, komm her und küsse mich! — Das Mädchen kam lustig herbei, strich des Vaters Wangen und stammelte — es konnte erst unvollkommen plaudern: Hansel wird nicht sterben, Papa! — Behüte, behüte, versicherte der Vater, obschon ihm nicht allzu wohl ums Herz war. Da rief die Mutter mit ausländischer Betonung: Verena, Verena ! komm zum Bruder; spiele mit ihm. Ich will eine Suppe für euch kochen. — Sie ließ den Kranken in den Armen der halberwachsenen Wirtstochter und ging mit hängendem Kopfe nach der Küche, wohin die Hausfrau sie begleitete.

Wie nun der Gatte ihr kopfschüttelnd nachschaute, begann der Wirt voll biederer Teilnahme: Das Unglück hat das gute Weib recht angegriffen. Von Mähren, sagten Sie, lieber Herr? Aber aus Ihrer Sprache zu schließen, sind Sie dort nicht zu Hause. Ich glaube eher einen Nachbar in Ihnen zu erkennen, einen Schweizer. — So ist's, mein Freund, entgegnete der Fremde, indem ihm die helle Freude aus den Augen blitzte; ein Appenzeller, bei Gott, und ich kann's nicht erwarten, bis ich mein Vaterland wieder sehe. Das Vaterland, braver Mann, ist auch das Höchste in der Welt, und das Heimweh hätte mich dort innen aufgezehrt, obgleich mir's gut ging, fürwahr. Ich hab' im Leben viel erfahren, bin eines Bauern Sohn, hab's dann im Militär bis zum Hauptmann gebracht, und bin schließlich, nachdem ich invalid geworden, zum Verwalter auf eines Fürsten Gütern an der schlesischen Grenze avanciert. Der Fürst gab mir ein gut Salär, Nebenverdienst fand ich auch und, was das Beste, ein treffliches Weib, von polnischen Eltern zwar, doch in Mähren geboren. Ich hätte als ein glücklicher Vater von vier lieben Kindern mit dem Kaiser selbst nicht getauscht; da kam das Heimweh plötzlich über mich, und es litt mich nicht mehr im fremden Lande. Leider hat mich der Durst nach der Heimat die Halbschied meiner Kinder gekostet. Er wischte sich einige Tränen aus dem Auge. Die Fassung stellte sich jedoch bald wieder ein, dass er ruhig sagen konnte: Nun, wie Hiob sprach: der Herr hat's gegeben, und so weiter. Wenn ich nur einmal wieder meinen Geburtsort betreten habe, soll Alles gleich besser gehen, und wir haben von hier aus nicht mehr weit; nicht wahr? — Nicht allzu sehr. Seien Sie überzeugt, dass ich Alles tun werde, um Ihnen die Reise zu erleichtern, wenn Sie etwa in Verlegenheit sein sollten. Was bei diesen schlechten Zeiten in meinen geringen Kräften steht... — Nicht doch, nein, wahrlich nicht, guter Freund, rief der Reisende mit Lächeln, indem er seine Weste aufstreifte und darunter eine wohlgefüllte Geldkatze sehen ließ: da ist schon zu leben; da stecken noch Kremnitzer und ungarische Taler die Hülle und Fülle. Auch hat mir der Fürst eine kleine Pension zugesagt. Ich werde daheim einen wohlhäbigen Mann vorstellen. Seid daher bedankt, lieber Freund, und spart Eure Kräfte für die ungebetenen Gäste, die Euch morgen etwa schon über den Hals kommen dürften. Jenseits des Berges wimmelt es allenthalben von feindlichen Soldaten, die den Aufbruch mit Schmerzen erwarten. Ich will jedoch flink davon fahren, ehe sie da sein können. — Sie sind glücklich, seufzte der Wirt voll Sorgen: Sie eilen Ihrem ruhigen Land entgegen, und wir müssen im Drangsal bleiben, wohin uns Gott gesetzt hat. — Glücklich? fragte der Reisende mit einem Anflug von Schmerz: mein appenzellerisches Herz jubelt, aber mein Vaterherz ist bis zum Tode betrübt. Gott geb's besser. In der Alpenluft soll mein Weib und das mir gebliebene noch einmal so teuer gewordene Kinderpaar wieder aufblühen und gedeihen, so der Himmel will. Das Geschehene ist freilich nicht mehr anders zu machen!

Die fremde Familie genoss ihr frugales Abendbrot und suchte alsdann die stille Kammer. Der Vater küsste das vor Ermattung eingeduselte kranke Kind, und betete: Gott erhalte dich! Gelt, Johann, du bist morgen wieder gesund, du kleiner unartiger Bube? — Der Knabe plauderte halb im Schlafe allerlei unverständliches Zeug. — Lass ihn, Hagenbach, sagte die Mutter, das Kind zudeckend: es wird sein letzter Schlaf auf Erden sein. — Warum nicht gar, Scholastika! Das ist freventlich gesprochen. — Die Frau warf dem Gatten wieder den besonderen unheimlichen Blick zu, der seit dem Tode ihrer Kinder sich bei ihr eingestellt hatte, und erwiderte kurz, aber bitter: Du wirst sehen, wir bringen den Jungen nicht davon; wendete sich gegen die Wand und stellte sich, als ob sie einschliefe. Der Vater, nach einigen Seufzern und einem herzlichen Gebete, entschlief wirklich, müde wie er war vom Kutschiren, von den Mühseligkeiten und Sorgen jeglicher Art. —

Und als der Morgen gekommen und die Pferde angeschirrt waren, und der mit den Zurüstungen zur Abreise fertig gewordene Vater hinaufging, um die Seinigen zum Aufbruch zu mahnen, fand er die Kammer angefüllt von allen Weibsleuten des Hauses. Scholastika war in laute Verzweiflung geraten, denn Johann hatte wieder seine Gichten bekommen, und kein Besänftigungsmittel wollte mehr anschlagen. Vergebens rieten die Weiber Das und Jenes; vergebens versuchte die Mutter, was die Angst ihr eingab, an dem kleinen Kranken. Der Anfall der Krämpfe wurde immer heftiger, des Leidenden Atem immer kürzer, und der Vater hatte ihm kaum einen Kuss auf die blauen Lippen gedrückt, so streckte sich das Kind zum ewigen Schlafe aus und war tot; das dritte, das die Eltern binnen acht Tagen hatten verlieren müssen. — Das Wehklagen der Mutter, und wie sie ihr schwarzes Haar zerraufte und sich die Brust und Stirne zerschlug, ist nicht zu beschreiben. Die entsetzliche Lage der Fremden wurde noch peinlicher durch das Heulen der anwesenden Weiber und durch die Hiobsposten, die von Minute zu Minute vom Berge eintrafen. Die Feinde hatten in der Morgendämmerung die Höhen besetzt, und waren mit Schützen und Landsturm in heftigen Kampf geraten. Man hörte das Schießen, den Lärm des hartnäckigen Gefechts immer näher und näher. Vorübereilende Flüchtlinge weissagten Mord und Brand, alle Schrecknisse des Sieges der vorwärtsdringenden Feinde. Was noch zu bergen war in den armen Hütten, musste jetzt geborgen oder geflüchtet werden. Der Wirt rief sein Gesinde und seine Kinder zusammen; für Alle gab es Arbeit. Bei der kleinen Leiche blieb Niemand zurück als die trostlosen Eltern und das stille, staunende Vreneli. Scholastika glich bald einer Rasenden, bald einer zu Eis erstarrten Person. Hagenbach begriff indessen trotz seines Leidens, dass längeres Verweilen das größte Unheil nach sich ziehen würde. Der stärkere Mann lässt sich nicht vom Elend in dem Maße niederschmettern, dass er vergäße, was der Augenblick gebietet. Komm, liebes Weib, sagte der Hauptmann; die Stunde drängt. Noch können wir dem Gräuel der Plünderung und Misshandlung entrinnen. Komm, wir sind um Geld, Pferde und alle Habe gebracht, wenn wir an diesem Orte die Zeit versäumen. — Geh, geh! hieß die Antwort des Weibes; ich bleibe bei meinem toten Kinde. — Unkluges Geschöpf! Dein eigenes Leben willst du wagen? Und warum? Gott wird diese Reste schützen, sowie er die Seele, die darinnen gewohnt, zu sich genommen. — Sein Zureden war umsonst. Da setzte er schnell entschlossen das kleine Vreneli auf seinen Arm und schleppte die Frau mit Gewalt hinunter, ungeachtet ihres Geschreis und ihrer heftigsten Gegenwehr. Der Wirt begegnete ihnen an des Hauses Schwelle. Helft mir, diese Wütende, deren Vernunft dahin ist, auf den Wagen zu setzen, bat Hagenbach, und der Wirt leistete die verlangte Hilfe. Erst nachdem sich der Schweizer seines Weibes völlig versichert und sein einziges Kind im Wagen geborgen, rief er dem braven Wirt zu, die Zügel und die Peitsche erfassend: Legt meinen kleinen Toten zur Seite, dass die Klauen des Feindes ihn nicht entweihen, und begrabt ihn, sobald der erste Tumult vorüber. Ich will Euch gern erkenntlich sein. Warum nicht gar? entgegnete der Wirt: ich will auch ohne Lohn tun, wie Sie es wünschen. Bin ich doch selbst Vater und weiß, wie Ihnen zu Mute sein muss. Seien Sie versichert, dass ich die Leiche berge und sie im ersten ruhigen Augenblick zur Erde bestatte. Reisen Sie aber jetzt in Gottes Namen, und der Herr stärke Ihre Frau in ihrem schweren Leiden!

Der traurige Todesfall im Posthause musste so weitläufig erzählt werden, weil in ihm die Wurzel der unseligen Geisteswirrnis, die in Scholastika überhandnahm, zu finden ist. Ein Jammer, wie der ihrige, betrifft wohl selten eine Mutter so plötzlich, so unaufhaltsam. Von reger Einbildungskraft und nicht überflüssig ausgebildetem Verstande, den Gebräuchen ihrer Kirche, der katholischen, sklavisch zugetan, ohne deshalb den milden, duldenden und versöhnlichen Geist des Christentums je begriffen zu haben, war Scholastika von Jugend auf nicht geschickt gewesen, den Aufwallungen ihrer Leidenschaften zu gebieten und ihren Kopf im Zaum zu halten. Sie war von Herzen gut, treu ergeben ihrem Manne, eine zärtliche Mutter ihren Kindern. Aber die Macht irgendeines Vorurteils konnte oft für lange Zeit ihr Herz verstocken; ihre Ergebenheit in die Beschlüsse des Gatten war häufig nur eine knechtische, die da insgeheim missbilligt und verabscheut, was sie vor der Welt dem Anschein nach mit Freuden vollbringt. Die Reise nach Hagenbachs Geburtsland war ein solcher von seiner Gattin im tiefsten Herzen gehasster Beschluss gewesen. Für Scholastika hatte freilich die ihr unbekannte Schweiz keine Reize; dagegen hatte sie selber ein Vaterland und Freunde und gewohnte, zum Bedürfnis gewordene Verhältnisse zu verlassen. Sie war nur mit schwerer Bekümmernis von den Gräbern ihrer Eltern geschieden, und die Trennung vom heimischen Lande galt ihr als ein tödlicher Streich, den sie dem Urheber nicht vergab. Sie hatte ihren Widerwillen nicht ausgesprochen, aber umso freigebiger genährt. Ihr Verdruss hatte die Liebe und das Vertrauen zu Hagenbach niedergetreten. Die Abschiedsklagen und Beileidsbezeugungen ihrer Landsleute waren geschäftig gewesen, den Aberglauben der mit sich selbst in Zwiespalt geratenen Frau fürchterlich aufzuwecken. Demzufolge sah sie nichts als Unheil und Verderben vor sich, und zwar als eine gerechte Strafe des Übermuts ihres Gatten, der, um seiner Laune — wie sie sein Heimweh nannte — zu frönen, Stand und Erwerb aufgeben und seine Familie zwingen konnte, den Herd zu verlassen, an dem sie entstanden war. — Darum schlug der Tod ihrer älteren Kinder, der bald zu Anfang der Reise erfolgte, wie ein Blitzstrahl in ihr Gehirn und versengte es, während ihr Gemüt vertrocknete. Sie fing an den Mann zu hassen, der nach ihren unvollkommenen Begriffen vom Leben und vom Schicksal in ihren Augen nichts Geringeres war, als der direkte Mörder seiner eigenen Kinder. Darum packte beim Hinscheiden des dritten, des geliebtesten Söhnleins der Wahnsinn die Unglückliche, um sie von Stund' an nicht mehr loszulassen. — Es war ein trauriges Schauspiel, die armen Reisenden unaufhaltsam den Schweizerbergen entgegen rennen zu sehen: Hagenbach, all sein Missgeschick vergessend, beflügelt von patriotischer Freude; sein Weib darnieder geschmettert unterm Verlust ihrer Heimat und ihrer liebsten Schätze; die kleine Verena, die nicht mit dem Vater lachen, nicht mit der Mutter weinen konnte, weil sie Beider Freud' und Leid nicht fasste, und weil ihr Beide so seltsam und ungewohnt erschienen. Hinter den flüchtigen Pilgern endlich fegte der ungestüme Krieg seine Wetterwolken hin, gleich hitzigen Jägern, die das schweißende Wild unbarmherzig, ohne ihm Rast zu geben, verfolgen!

Aber nicht lange, und vor den Fliehenden strömte der Rhein, und sie schwammen hinüber auf der rettenden Fähre; und wieder nicht lange, so wehte ihnen entgegen die alpenfrische Luft der Freiheit, und Hagenbach küsste an seines Kantons Grenzen die Erde und pflückte aus dem würzigen Grase die schönste Blume, sie als Kokarde auf den Hut zu stecken, und den ersten Appenzeller, der ihm entgegen kam, nacktarmig und krausen Haars, die Milchbutte auf dem Rücken, den Pfeifenstummel im Munde und das Pechkäppel auf dem Kopfe, den umarmte er als seinen Bruder. — Mit einem lauten Vivat umarmte er auch sein im stillen Wahnwitz brütendes Weib und rief: Sei wacker, Scholastika. Hier ist meine schöne Heimat, und ich bin schon wieder gesund. Lass aber auch dir diese herrlichen Berge, diese himmlische Luft, den stillen Frieden auf diesen Höhen behagen, und vergiss einmal, was hinter uns liegt, und schaue vorwärts! — Da richtete sich Scholastika auf, blickte trüb um sich, deutete über die waldleeren Hügel in die weiße Luft, und dann hinunter ins kahle Tal, wo nicht der breite Strom rann, dessen die Fremde in ihrem Vaterlande sich so oft gefreut hatte. Hierauf sagte sie kurz: Lauter Grabhügel; darunter schlafen unsere Kinder. Lass mich bei ihnen einscharren, und zwar bald. — Herbe Tränen unterliefen das Auge des alten Soldaten; er drückte Verena in seine Arme und sagte zum Kinde schmeichelnd: Vreneli! sei du wenigstens lieb und gut mit deinem Papa. Gefällt's dir hier im grünen Lande, wo die Ziegen klettern und die Kinder fröhlich spielen? — Ei ja, erwiderte das Mädchen; wo ist aber der Hansel, um mit mir zu spielen? Gelt, er bleibt nicht mehr lang aus? den Friedrich und den Joseph braucht ich nicht, aber der Hansel ist mir lieb, und ich will bei ihm sein. Willst du auch, Papa? — Auch du, mein Kind? seufzte der Vater beklommen und setzte, die Tränen nicht mehr zurückhaltend, das Kind zur Erde. Dann nahm er schweigend die Blume vom Hut und warf sie von sich, und zu des Säntis rauem Eis- und Felsenrücken schaute er empor mit dem stillen Wunsche: Lägst du doch auf mir, du alter Berg! Kann's denn möglich sein, dass mir in deinem Angesicht die Augen übergehen, und zwar nicht vor Freude? dass mir das Herz zerspringt vor Kummer im Angesicht des lang entbehrten Vaterlandes? —

Es stand ihm der Bitterkeit noch viel bevor. Der Flecken Appenzell, wo Hagenbach geboren, war ihm ganz fremd geworden. Neue Häuser waren gebaut worden, alte waren verschwunden. Die Zeit und die Revolution hatten zerstört, hatten Schöpfungen gegründet. Mit den Menschen war es natürlich noch wunderlicher durcheinander gegangen. Hagenbach hatte Jugendfreunde gehabt; er fand sie meistens nicht mehr auf Erden oder im Lande; die wenigen, die geblieben, kannten ihn nicht, wussten sich seiner nicht mehr zu erinnern. Hagenbach hatte Verwandte gehabt; mehrere von denselben lebten zwar noch, aber sie empfingen ihn abstoßend und unfreundlich, denn sie meinten, er komme, um sich von ihren Almosen zu nähren als ein bettelhafter Vetter. Das ältere Volk glotzte den Fremden an, wie ein seltsames Tier, und plagte ihn mit seiner unersättlichen Neugierde; das jüngere verspottete seine Frau und deren sonderbare Reden und Gebärden. Der alte Hauptmann sah sich überall getäuscht und beleidigt. Er hatte geglaubt — so rechnen gewöhnlich die fern vom Vaterlande Lebenden — mit Freuden daheim empfangen zu werden; aber nicht ein einzig Herz schlug ihm entgegen. Erst, nachdem ruchbar geworden, dass Hagenbachs Peter als ein reicher Mann, wie ihn die Genügsamen nannten, aus der Fremde gekommen, wollte sich eine Annäherung verspüren lassen; aber Hagenbach, gekränkt und aus seinen patriotischen Träumen erwacht, trotzte nun seinerseits und wäre bald auf und davon gefahren, um sein Land mit dem Rücken anzusehen. Da kam er eines Tags auf den Platz der Landsgemeinde, und die uralte Linde daselbst fiel ihm in die Augen, und er musste weinen, denn unter dieser Linde war er so zu sagen aufgewachsen, und von der Zeit an hatte er wieder keinen andern Gedanken und Wunsch, als unfern von der Linde zu wohnen und zu sterben, unfern von ihr zur ewigen Ruhe gelegt zu werden.

Demzufolge kaufte er ein Haus mit Garten und Matten, schaffte sich einen kleinen Viehstand an und sperrte sich in seinem neuen Eigentum ein, den Herrenrock an den Nagel hängend und zum Bauer werdend. Aber das Glück lächelte ihm nicht auf der eignen Hufe. Die Gattin gesundete nicht und wurde von Tage zu Tage mehr ein Bild trostloser Geisteszerrüttung. Hagenbach führte sie, das Geld nicht schonend, von Heilquelle zu Heilquelle umsonst. Der Wahnsinn der Armen wurde zwar still, aber umso unheilbarer. Bald tat sie nichts mehr, als am Tische sitzen, vor sich hinschauen, die Hände unters Kinn gestemmt; und wenn sie sprach, so redete sie mit den Geistern ihrer seligen Kinder. Vreneli, der sie alle Aufmerksamkeit entzog, wuchs neben der unglücklichen Mutter wie eine wilde Pflanze empor, und Hagenbach musste noch Gott danken, dass aus einem entlegenen Winkel des Landes die Letztlebende seiner Schwestern herbeikam, um das Mädchen in Aufsicht zu nehmen. Die alte Person war jedoch eine schlimme Erzieherin, von bösen Launen voll, hartherzig und rau. Ihre Pflege nützte nicht; aber ihrer Härte gegenüber entwickelte sich wunderbarer Weise Verenas Charakter als ein Muster von Nachgiebigkeit, Geduld und Sanftmut. Das Mädchen hatte die Kinderschuhe noch nicht völlig abgelegt, als schon die Sorge für die erkrankende und bald darauf sterbende Base so wie für die blödsinnige Mutter auf ihre schwachen Schultern allein fiel. Verenas Schultern waren indessen stärker, als man geglaubt hatte. Sie ertrug Alles mit unermüdlicher Ausdauer, drückte der Base die Augen zu und ließ nicht nach, als ein frommes Kind die Mutter zu heben und zu legen.

Der letzte Versuch, den Hagenbach mit Scholastika angestellt hatte, war so wie die früheren fruchtlos geblieben. Auf ihr plötzliches Begehren, die Gräber ihrer Kinder zu besuchen, hatte der Gatte seine kranke Frau dahin begleitet. In Stuben war die Weiterreise unnötig geworden. Denn nachdem der Wirt im Posthause die Gäste mit beklommenem Antlitz auf den Kirchhof geführt und ihnen das kleine, ohne Kreuz und Kranz verbliebene Grab des armen Johannes gezeigt hatte, wendete sich Scholastika plötzlich um, mit den trockenen Worten: Das ist nicht wahr; mein Bub' ist nicht tot. Die bösen Leute verstecken ihn vor mir! — ging auf dieses hin, trotz der Bestürzung und der Zureden ihrer Begleiter, wieder ins Haus, und da sie einem jungen Knecht von siebenzehn bis achtzehn Jahren in den Weg kam, warf sie sich an dessen Hals und schluchzte: Behüt' dich Gott, du lieber Johann. So alt musst du heute sein, das weiß ich gewiss, und gelt, du bist es selber? Der arme Mensch hatte gut sich sträuben und beteuern, er sei der Michl, nicht der Hans, und seine Mutter sei von Dallaas gebürtig und lebe de dato noch; — Scholastika wollte nimmer von ihm ablassen, küsste ihn einmal übers andre Mal, weinte an seiner Brust, versicherte ihm, sie sei nicht närrisch, und sie kenne ihn wohl. Um seine Brüder im Salzburgerland sei ihr nicht zu tun; jene seien wohl aufgehoben, aber ihn, den Hansel, habe sie stets vor Allen geliebt, und sie werde sich nicht von ihm trennen. Der Wirt und seine Frau konnten das erschütternde Schauspiel nicht ertragen und flohen in ihre Kammer. Hagenbach vermochte die Betörte kaum von dem jungen Menschen zu bringen; denn sie wich nur auf die Versicherung hin: der Hans müsse sich erst sauber ankleiden und zu Pferde setzen, um der Kutsche ins Appenzell nachzufolgen, und er werde dann gleich bei seinen Eltern sein. Auf, diese Weise ließ sich Scholastika wieder in den Wagen bringen; aber natürlich kam Johann nicht nach. Vergeblich schaute die irre Mutter wohl tausendmal aus der Kutsche, dem geliebten Sohn entgegen. Ihr habt mich belogen, sagte sie endlich zornig, aber er wird euch zum Trotz nachkommen. — Sie verfiel abermals in ihr stilles Brüten und blieb darinnen für alle Zeit; ihre Tränen versiegten auf immer, und wenn ja einmal ein Wort aus ihrem Munde ging, so bezog es sich auf Johann und seine baldige Ankunft. —

So wie die Sachen nun einmal standen, war Hagenbachs Mut gebrochen, und er legte die Hände verzagt in den Schoss, ein hoffnungsloser Zuschauer so vielen Elends. Denn die Haushaltung, betrieben durch eine alte Magd — da Verena dazu nicht stark genug war und mit der Mutter hilfloser Kindheit zu viel zu tun hatte — ging nicht allzu fein. Die Landwirtschaft, des regen hausväterlichen Fleißes und der besonnenen Ordnung der Hausmutter entbehrend, gedieh nicht; Viehsterben und Futtermangel kam hin und wieder dazu. Die Vettern, die ihren Blutsverwandten bei seiner Heimkunft als einen Bettler von sich gewiesen, entblödeten sich jetzo nicht, selbst gleich Bettlern an der Habe des sogenannt reichen Hagenbach zu saugen und zu rupfen. Sein Wohlstand verminderte sich daher von Jahr zu Jahr, und gar oft ruhten seine Blicke voll ängstlicher Sorge aus der herangeblühten Tochter, die von des Vaters Bedrängnissen nichts wusste und ihren Pflichten nach Kräften oblag. Die wenige Zeit, die ihrer Mutter Besorgung der Verena übrig ließ, vertrieb sie sich mit der Arbeit, die von den St. Galler Fabrikanten in das Appenzeller Land gebracht worden war. Verena hatte auf Musseline sticken gelernt und sich eine große Fertigkeit in dieser Kunst eigen gemacht.

Einst saß sie emsig schaffend an dem Tambour, da nahte sich ihr der Vater unversehens und sagte nach kurzer Einleitung zu ihr: Vreneli, willst du nicht heiraten? — Ihr erschreckt mich, Vater. Das ist wohl nicht Euer Ernst. — Warum denn nicht? Bist alt genug dazu. — Ich will noch nicht, Vater. Ich will niemals heiraten. — Wie das? Warum das? — Die Mutter braucht mich notwendig. — Deine Zukunft ist deswegen nicht außer Acht zu lassen. — Wie meint Ihr das? — Du musst versorgt werden; es ist hohe Zeit. — Warum denn? Bin ich nicht bei Euch versorgt? es geht mir ja nichts ab. — Das wird nicht so bleiben. — Bin ich nicht genügsam, Vater? O lasst mich friedlich und ruhig leben wie bisher, Euch zu Diensten sein, Euch und der Mutter bis an Euer Ende, wenn's einmal Gott so haben will. — Hm; wir können noch lange leben, die Mutter und ich. — Ei, desto besser, das ist ja mein Wunsch. — Du würdest indessen eine alte Jungfer. — Was tät's? — Und wenn deine Eltern einmal gestorben sind... was wolltest du dann beginnen? — In diesem Hause fortleben, von dem, was Eure Güte mir lassen wird, leben, still und frei. — Wenn alsdann aber dieses Haus einem Andern gehörte, wir dir nichts hinterließen als den Bettelstab? — Da bei dieser Rede das Mädchen verwundert in die Höhe schaute und lächelnd in des Vaters Augen studierte, fuhr Hagenbach, wiewohl schweren Herzens, fort: Herzliebes Kind, ich will mich zusammen nehmen, um dir zu gestehen, was du wissen musst. Wie ich in meiner Wirtschaft gehindert bin, ist dir bekannt; sie geht den Krebsgang, nicht erst seit gestern. Wie gut ich gegen meine habsüchtigen Blutsfreunde gewesen, ist dir auch nicht fremd. Ich habe — mit einem Wort — von Anfang her allzu viel auf mein Erworbenes und auf meine Kräfte gebaut. Beide reichen nicht mehr aus. Keine Frau mehr, um Alles zusammenzuhalten; keine Söhne mehr, die mit der Zeit ihre Hände zu meiner Unterstützung hergegeben haben würden... wenig Erträgnis von meinem Eigen, dagegen viel Verzehrung und Unglück — nach ein paar Jahren stehen wir an der Gant; ich kann's nicht mehr länger verhehlen. — Armer Vater! Ihr seid nicht zum Glück geboren. Gäb's aber nicht ein Mittel, das drohende Unheil aufzuhalten? — Ein einziges nur. Heirate einen wohlhabenden Mann, der dir eine sorgenfreie Zukunft zu bereiten und mir mit Gelde unter die Arme zu greifen im Stande ist. — Ach, was sagt Ihr da? Ich sollte heiraten? Ich habe keinen Sinn dafür. Alle Mannspersonen sind mir gleichgültig, ob alt oder jung. Ich liebe die Kinder nicht, bin gern für mich allein und mag nicht für einen groben Mann Sorge tragen. Die Weiber, die von ihrem Haushalt plaudern und von ihren Mutterfreuden großes Wesen machen, sind mir zuwider. Die Frauen im Kloster haben mir auch gesagt, ich sei nicht zum Heiraten bestimmt; am liebsten würd' ich selber eine Klosterfrau und fürchte die grobe Kutte der Kapuzinerinnen weniger, als das Joch des Ehestandes.

Da jedoch der Vater nicht unterließ, der Tochter begreiflich zu machen, wie irrig ihre Ansichten seien, und da er namentlich darauf bestand, dass er keines Dinges auf Erden so notwendig bedürfe, als gerade eines reichen Schwiegersohns, sagte die Gehorsame nach langem Kampfe, mit ahnungsvollen Tränen und manchem Seufzer: Wohlan denn; wenn ich auch — um Euch das schwerste Opfer zu bringen, das einem Kinde zugemutet werden kann — wenn ich auch sagte: Es geschehe Euer Wille!... wo fände sich der reiche Bräutigam zur armen Braut? — Der wäre schon gefunden, meinte der Vater, sich behaglich die Hände reibend: des Landweibels Rüttimann ältester Sohn begehrt dich zu freien, und da meine schwankende Lage noch ein tiefes Geheimnis, so ist nicht zu zweifeln, dass Rüttimanns Vorschüsse meine Verluste ausgleichen und mir zum erwünschtesten Wohlstande verhelfen werden. Verena wurde blass wie ein Tuch. Liebster Vater, stammelte sie mit der größten Bangigkeit, mein ganzes Leben opfern, und den Arglosen betrügen? — Betrüge ich denn, da ich sicher weiß, mich zu retten und ihm mit Zinsen Alles zu vergüten; sicherer als dass ich lebe? Dein Leben opfern, wenn ich dich zur reichen Frau mache? Du träumest, mein Kind, und betrübst mich, statt mit Freuden deine Pflicht zu tun und mir zu gehorsamen. — Meine Pflicht? fragte mit leicht empörtem Herzen Verena, und es wollte schon ein hartes Wort ihrem Munde entschlüpfen; doch presste sie es zurück, floh in ihre Kammer, betete und weinte die ganze Nacht hindurch und ging in der frühesten Morgenstunde zur Kirche und zur Beratung mit der Oberin des Klosters. Zurückgekehrt von ihrem frommen Gange, warf sie sich an des Vaters Brust und rief, wenn schon der Schmerz wie ein Messer ihr Herz durchschnitt: Ihr habt gesagt, Vater, dass Euch in Allem zu gehorchen meine Pflicht sei;... ich will sie erfüllen. Möge es zu Euerm Heil sein; auf mein Glück soll's nicht ankommen. —

In Folge dieser Erklärung, ohne sich zu kümmern um den Preis, den sie der fügsamen Verena kostete, ging der Vater rasch ans Werk und ließ dem Landweibel die nötigen Eröffnungen machen. Sie wurden mit Freuden aufgenommen, und der junge Freier stellte sich bald in Hagenbachs Hause ein, um durch einige Besuche die Verlobung vorzubereiten. Er war von außen nicht ungefällig gebildet, von innen ein ganz gewöhnlicher Mensch, der, auf sein zu hoffendes Erbe und das Ansehen seines Vaters pochend, sein Hauptaugenmerk auf seine eigene Person zu richten pflegte. Er verehrte in seinem Ich den Mittelpunkt aller Dinge; die Welt war nur da für ihn. Er mochte wohl zugeben, dass es Andern leidlich ging, wenn er nur sich selber vor Allen am besten bedacht sah. Dieses Wenige genügt zu Rüttimanns Schilderung. Er machte dem hübschen Vreneli den Hof, eben weil sie hübsch war und den Ruf einer reichen Erbin für sich hatte. Es focht ihn nicht an, dass sich auf Verenas Seite diejenige Zutraulichkeit nicht einfand, die eine Hauptbedingung guten Verständnisses ist. Das würde sich schon mit der Zeit geben, meinte er. Indessen behagte ihm, als ein beneideter Freiersmann mit seiner Holdschaft spazieren gehen zu dürfen, sich mit ihr in Gais und Weißbad an einem Sonntag sehen zu lassen. Er spielte den Freigebigen, traktierte und scherzte nach seiner Weise. Die frostige Art, womit Verena alle seine Artigkeiten aufnahm, machte nicht ihm, wohl aber seiner Mutter Sorgen. Da jedoch der Landweibel selber seines Sohnes Freierei billigte und sich mit Hagenbach auf den vertraulichsten Fuß gesetzt hatte, so wurden die Bedenklichkeiten der Frau Rüttimann nicht berücksichtigt, und an einem schönen Sonntag gab der Freiwerber seiner Schönen den goldenen Ring als ein Zeichen und Pfand baldiger Verbindung und tauschte dagegen den ihrigen ein, der ohne auffallendes Sträuben, aber zögernd gegeben wurde. — Die Hochzeit sollte binnen drei Wochen sein.

Ringe binden, und die Verkündigungen des Priesters von der Kanzel halten fest, pflegt man zu sagen. Eine sehr weitläufige Anverwandte des Landweibels, Frau Trümpy, eine wohlbegüterte rasche Witwe in den besten Jahren, die selber gern geheiratet worden wäre, glaubte nicht so zuversichtlich an die Unauflöslichkeit eines Ringewechsels. — Als die nächste Nachbarin des Brautvaters, und in beständigem Winkelverkehr mit der Magd des Hagenbachschen Hauses, war Frau Trümpy zu einer gewissen Vorahnung gelangt, die den Projekten Hagenbachs nicht günstig lautete. Sie teilte ihre Ahnungen und Mutmaßungen dem Bräutigam selber mit; er wollte anfänglich nicht glauben. Sie trug ihre Besorgnisse ins Haus ihrer Verwandten, der Frau des Landweibels, und fand dort ein geneigteres Ohr. Hagenbachs stehen nicht wohl, warnte der süße Mund der Witwe; das merkte ich schon lang aus diesem und jenem; zum Überfluss steckte mir die Magd dies und das. Sieh dich vor, du liebster Vetter; du verdienst ein besseres Weib als eine junge Schnauferin, die nichts hat. Seht Euch vor, allerliebste Frau Base, und tut Euerm Mann die Augen auf: der Hagenbach ist ein Filou und will Euch aufs Eis führen, da Euch zu wohl ist. — Und die Landweibelin segnete sich, und ihr Sohn kratzte sich hinter den Ohren und fing an zu glauben, was ihm die Trümpy mit verführerischen Blicken vorsagte. Dennoch war nicht viel vom Landweibel zu erwarten. Sein Eigensinn war ein Fels, und schwer zu ändern, was er beschlossen. Aber — ein unfreiwilliger Bundesgenosse der Witwe Trümpy tat schon Hagenbach selber das Nötige, den Fels zu untergraben und die eisernen Beschlüsse des alten Rüttimann zu zertrümmern. Allzu fest bauend auf die Unverletzlichkeit des Eheversprechens, wagte er eines Abends, da er in fröhlicher Weinlaune mit dem Landweibel unter vier Augen war, sein Anliegen wegen Geldes und dergleichen auftreten zu lassen. Wenn schon sein Begehren nicht förmlich ausgesprochen, wenn schon eine Summe nicht benannt, wenn gleich nur von einer fernen Möglichkeit und keineswegs von der Drängnis des Bedürfens geredet wurde, so hatte dennoch der Landweibel, als ein Mann von Erfahrung in Staatssachen und gemeinen Händeln, bald genug gehört. Er zog sich mit einigen glatten, in Dämmerung gehaltenen Bereitwilligkeitsversicherungen vor der Hand aus der Schlinge, aber, in den Schoss seiner Familie zurückgekehrt, war sein erstes entrüstetes Wort: Wisst ihr, dass uns der alt' Hagenbach über den Löffel barbieren will? Wisst ihr wohl, dass ich glaube, dass der alt' Lump nichts hat? — Und des Weibels Gattin und sein Sohn und die getreue Nachbarin Trümpy antworteten als ein dreifach verstärktes Echo dem Zürnenden, der sodann mit sich zu Rate ging, was er zu tun habe, als vierte höchste Autorität im Stande Appenzell Inner-Rhoden. Der Weibel erkannte nur den Landammann, den Landsfähndrich und den Landschreiber über ihm.

Hagenbach hatte schon längst seine voreiligen Mitteilungen bereut; Verena stand soeben, als eine blasse und betrübte Verlobte, neben ihrer Mutter und sagte der vor sich Hinstarrenden: Liebe Mutter, wisst Ihr schon? ich werde heiraten. — Scholastika erhob den Kopf, schaute ihrer Tochter zerstreut ins Auge. Ich verstehe nicht, Verena, sprach sie scharf. — Verena zeigte ihr den Ring und wiederholte: Ich soll, ich werde heiraten. — Thu es nicht! lautete die Antwort. Dabei wies die Irre auf ihren eigenen Trauring und setzte hinzu: Es ist nur Glanz, nicht Heil im Golde. — Ja wohl, ja wohl, seufzte die Tochter ergriffen, und wendete sich von der Kranken, die wieder in ihre Apathie zurücksank. Da blickte das Mädchen ins Angesicht eines Gastwirts aus dem Flecken, der mit Rüttimanns nah verwandt war und als ein steifer gleichmütiger Abgesandter anhob: Jungfer Hagenbach, der Landweibel hat viel von Euerm Vater gehört, das ihm nicht gefällt, und weil's noch Zeit ist, schickt er Euch den Ring zurück, den Ihr seinem Sohn gegeben, und ich soll des Bläsi seinen mitbringen, wenn Ihr so gut sein wollt, ihn abzutun. — Nach einigem Stutzen des überraschten Mädchens flog das unliebe Kleinod geschwinde in die Hand des unhöflichen Mahners. — Verenas erstes Gefühl war das der Freude; einem vom Tode Begnadigten kann nicht wohler ums Herz sein. Ihre erste Handlung war, auf die Kniee zu sinken und Gott inbrünstig zu danken. — Aber, bei näherer Überlegung ... so eng schmiegen sich die Ketten des Brauchs und Herkommens selbst um das nach Freiheit lechzende Herz... beim näheren Anschauen ihrer Lage weinte sie vor Schmerz! Denn nur eine unendliche Kränkung, eine Demütigung, im Lande schier ohne Beispiel, hatte sie von der gefürchteten Sklaverei errettet. Willkommener wären ihr die Fesseln gewesen, als die Entlassung, welche sie dem Spott des Volkes, den Unbilden aller geschwätzigen Zungen preisgab. — Was ihr Vater bei dem Anlass empfand und unverhohlen aussprach, war nicht geeignet, sie zu beruhigen. Er sah sich im Kinde entehrt, alle seine Hoffnungen, Verenas ganze Zukunft vernichtet. Er knirschte vor Zorn, er ängstigte sich bis zu Tränen; vergebens grübelte sein Geist nach einem herstellenden Auskunftsmittel. Hin und wieder schoss ihm die Hitze seines ehemaligen Soldatenstandes zu Kopfe; er sprach von Genugtuung, von exemplarischer Züchtigung des wortbrüchigen Landweibels. Aber sein böses Gewissen einerseits, andernteils ein Blick auf sein krankes Weib, auf seine hilflose Tochter und seine eigene zerrüttete Lage brachte ihn schnell zur Besinnung. Er begriff, dass er nicht wagen durfte, durch irgendeine grobe Tätlichkeit seine Ehre und der Seinigen Loos noch freventlicher aufs Spiel zu setzen. —

Die Nemesis, die somit an dem Landweibel schonend vorüberging, verrichtete dagegen an dem Sohne ihr rächendes Amt. Der junge Mann, der eines Tags sich nicht enthalten konnte, im Wirtshause prahlend und spöttisch zu erzählen, wie ihn Hagenbach habe betrügen wollen, und wie er zur Vergeltung die Tochter habe sitzen lassen, wurde von zweien seiner Altersgenossen, welche die Verteidigung der geschmähten Unschuld übernahmen, wacker zur Rechenschaft gezogen. Beleidigt und tätlich misshandelt, musste Rüttimann das Gasthaus verlassen. Frau Trümpy selber, die im Grunde dem stolzen Bläsi die fühlbare Zurechtweisung gönnte, weil er sein weiteres Augenmerk nicht auf die Witwe, sondern auf eine Bräuerstochter von Altstätten geworfen hatte, war die Erste, die den Vorfall mit giftiger Zunge der Nachbarin Verena hinterbrachte. An Hagenbachs Gartenzaun vorübergehend, sagte sie zu dem unfern davon beschäftigten Mädchen: Ihr könnt nichts als Unheil anrichten, Jungfer. Um Eurer Larve willen ist mein Vetter schier totgeschlagen worden. — Und als Verena bestürzt aufhorchte, fuhr die Schlange fort: Stellt Euch nicht unwissend und erschrocken, falsche Dirne, mit Euern verhexten Augen. — Warum scheltet Ihr mich, Frau Trümpy? — So? Warum? mich geht's etwa nicht an, wenn Ihr meine Knechte gegen meinen Vetter aufhetzt? Der Gallus und der Görg haben den Bläsi geschlagen, und ich jage sie stehenden Fußes auf und davon.

Dieses war nun nicht wahr. Die Witwe fürchtete den Gallus, der ebenfalls weitläufig mit ihr verschwägert war, gar sehr, und den Görg, der vor Kurzem erst mit dem Gallus aus fremdem Soldatendienst zurückgekommen, liebte sie wie töricht, obgleich der junge Mann ihren Winken und Lockreden gar kein Gehör schenkte. Um diesen Liebling einem etwaigen Sturm von Seiten des Landweibels zu entrücken, schickte sie ihn auf ihre Alpe am Wildsee. Der Gallus dagegen, der nicht ein Fremder war, wie Georg, wollte nicht von dannen weichen, sondern alle Folgen der raschen Tat abwarten und die Schuld seines lieben Regimentskameraden ganz auf sich nehmen.

Ob nun die Trümpy bei dem Landweibel ihre Knechte entschuldigt und Alles auf Hagenbach und seine Tochter geschoben, oder ob Bläsi eine fernere Rache von Seiten der hitzigen Bursche besorgte, im Fall er sie geradezu vor Gericht angriffe, gleichviel: — der alte Rüttimann beschloss, den Hagenbach zur Verantwortung zu ziehen, und ließ ihn als vorgeblichen Anstifter des ganzen Vorgangs vor den Richter laden.

Die Vorladung, die an einem Nachmittag dem Vater Verenas überbracht wurde, machte auf ihn und auf seine Tochter einen ganz verschiedenen Eindruck. Das unerfahrene Mädchen, das weder die Gewalt und Ränke beharrlicher Verleumdung, noch den Einfluss eines reichen Großhansen auf die von Landleuten besetzte Gerichtsbank kannte, sah in der Zitation nur einen willkommenen Anlass, vor aller Welt die Unschuld ihres Vaters und ihre eigene sonnenklar darzutun. Hagenbach im Gegenteil fürchtete Alles von der Feindseligkeit seiner erbitterten Gegner. Es war überhaupt in dem Manne seit weniger Zeit eine ganz besondere Veränderung eingetreten. Der jammervolle Zustand seines Weibes, den er unablässig vor Augen haben musste, und als dessen Urheber er sich vor seinem zagenden Gewissen oft angeklagt, seines Vermögens Verfall und die neuerliche ihm und der Tochter widerfahrene Kränkung hatten seines Charakters Unschmiegsamkeit gebrochen und aus dem Selbstherrn einen Kleinmütigen gemacht: einen Ratlosen, Furchtsamen, der mit der Hoffnung sich selber aufgegeben. Die Aussicht, in einen drohenden Gerichtshandel verwickelt, vielleicht, wenn auch unschuldig, mit einer Strafe an Leib und Geld belegt zu werden, machte ihn schwindeln, raubte ihm alle moralische Haltung. Er redete nicht, er weinte und lachte nicht; aber den Hut und Stock ergreifend, ging er, gleichsam die volle Brust im Freien zu erleichtern, aus seinem Hause, nachdem er seinem Weibe, wie schon lange nicht geschehen, die Hand geschüttelt, nachdem er sein Vreneli mit ungewöhnlicher Wärme umarmt hatte.

Verena sah ihm verwundert nach; doch blieb sie ruhig. War doch ihr Vater in den letzten Jahren gar oft still, nachdenklich, oder unwirsch vor sich hinbrütend gewesen und immer nach einem Spaziergange heiter und gefasst heimgekehrt. Heute, so hoffte sie, würde es auch nicht anders sein. Sie lag daher ihrer häuslichen Arbeit ob, wie sie im Brauch hatte, und ahnte nichts Schlimmes, obgleich der Abend hereinbrach und Stunde auf Stunde verging, ohne dass der Vater zurück gekommen wäre. Endlich rückte die Essenszeit heran, und selbst die kranke Scholastika sah sich plötzlich nach dem abwesenden Gatten um und fragte kurz: Wo ist er? Kommt er nicht mehr wieder? — Verena erschrak vor dem Unglück weissagenden Tone der Irren und versetzte: Ei ja doch, Mutter; bald, bald, denke ich. — Worauf die Alte den Kopf schüttelte, mit beiden Händen zugleich verneinend, und, wie eine Einschlummernde den Kopf neigend, sagte: Nein, nein, Verena. Er ist zum Johann gegangen. Mein Hans hat ihn geholt. — Jesus! seufzte das Mädchen, denn in ihrem krampfhaft zusammengeschnürten Herzen wollte das Blut gerinnen, und ihre matten Pulsschläge drohten ihr mit einer Ohnmacht. Zum ersten Mal überraschte sie der Gedanke: ihr Vater möchte einen plötzlichen Tod gefunden haben.

Just in demselben entsetzlichen Augenblick pochte Jemand ans Fenster der Wohnstube. Verena fuhr zusammen; ihre Lebensgeister blitzten wieder hell auf. Sie horchte; es wurde zum zweiten Mal etwas lauter gepocht. Wer ist draußen? fragte sie hinter den geschlossenen Laden mit klappernden Zähnen. — Macht auf, sagte eine vertrauliche Stimme; die Tür ist verriegelt, tut sie auf. Ich bringe Euern Vater. — Heilige Mutter Gottes! den Vater? — Geschwinde, macht auf! —

Die Lampe in der Hand, flog das Mädchen zur Haustüre und öffnete. Sie war gewärtig, des Vaters Leiche hereintragen zu sehen. Doch war es nicht so schlimm. Wenn gleich erbleicht bis zur Totenfarbe und schwach, dass er sich kaum auf den Beinen zu erhalten vermochte, so lebte doch der Vater und schwankte, von Georg, dem Knechte der Trümpy, geführt, über seines Hauses und seiner Wohnstube Schwelle. Niedergesunken in seinen Lehnstuhl, gegenüber der in gewohnter Stellung verharrenden Scholastika, brach der alte Mann in bitteres, anhaltendes Weinen aus und stammelte nur dann und wann ein unverständliches Wort. Um Gotteswillen, Vater, was fehlt Euch? — Keine Antwort, lautes Schluchzen ausgenommen. Mein Gott, Vater, was bedeutet dieses? Georg, wo habt Ihr ihn gefunden? — Unfern von unserer Alp, am See, liebe Jungfer. — Ach, in welchem Zustand! — Der Zustand war nicht der beste; doch wird's nicht schaden. Der Weg heimwärts hat den Mann ermüdet, obschon ich ihn die erste Hälfte auf meinem Rücken getragen habe. Doch wurde er mir zu schwer, um ihn vollends heimzuschleppen; auch waren wir im ebenen Wege. Legt ihn ins Bett und gebt ihm Stärkung. Es wird keine Folgen haben. — Georg, Ihr sagt mir nicht Alles redlich heraus! — Der junge Mann machte ein verlegen Gesicht; indessen griff Hagenbach jammernd an seinen Hals. Da tut's weh, sehr weh, klagte er. Verwundet? schrie Verena. Der Knecht verneinte und wollte das Hemd des Alten selber öffnen; indessen hatte schon die Tochter es getan und gewahrte mit dem heftigsten Entsetzen eine um den ganzen Hals tief eingeschnittene, rot unterlaufene Strieme. Was ist das, um Alles in der Welt? rief die Tochter. — Ei, wenn ich's doch sagen muss . . . Jungfer . . antwortete der Knecht mit Widerstreben: ich hab' den alten Mann gefunden, da er an einem Baum hing. Er hatte sich selbst mit seinem Halstuch . . — Verena taumelte ohnmächtig in die Arme des mitleidigen Burschen. Der gute Mensch brachte sie wieder zu sich und sagte ihr tröstend: Seid doch vernünftig. Ich hab' ihn ja noch zur rechten Zeit losschneiden können. Bis morgen oder übermorgen ist er wieder frisch und gesund. Ich versteh' was vom Doktern und will selber nach ihm schauen, damit kein Mensch von dem Handel das Geringste erfährt.

Der Zufall wollte, dass in derselben Nacht der Landweibel einen bedenklichen Anfall von Asthma hatte, der ihn bewog, an sein Seelenheil zu denken und nach dem Sakrament des Altars zu verlangen. Der neue Pfarrer, ein Mann von duldsamer und echtchristlicher Gesinnung, nahm dem Kranken die Beichte ab und gab ihm auf, allen seinen Feinden zu vergeben und jeden nichtigen und eitlen Groll fahren zu lassen. Der Leidende gehorsamte, empfing das Abendmahl, und von Stund' an ging's mit seinem Übel besser, und binnen kurzer Frist genas er gänzlich. Seine erste Handlung war gewesen, die Klage gegen Hagenbach zurückzunehmen und allen Teilnehmern der an seinem Sohn verübten Unbill völliges Vergessen ihrer Tat zusichern zu lassen. Dieser günstige Umstand beschleunigte die Wiederherstellung des alten Exhauptmanns und erlaubte dem Retter Georg, seinen Schlupfwinkel auf der Alp zu verlassen und jeden freien Augenblick im Dienste bei Hagenbach zuzubringen, wo er verordnete und hantierte, wie ein Heilkünstler. — Während sich in Folge dieses Verkehrs ein vertrauliches Verhältnis zwischen ihm und dem Geretteten herstellte, konnte Georgs öfteres Verweilen in Hagenbachs Hause seiner Brotherrin kein Geheimnis bleiben. Was machst du denn in Gottes Namen beim Nachbar drüben? fragte die Zürnende eines Tages. Der Knecht nahm diese und jene Ausrede. Es ist all' erlogen, rief die mehr und mehr Erbitterte hierauf: du bist ein Tuckelmauser. Ich will dir sagen, was du mir nicht sagst: du bist in das Mädel vernarrt, in die boshafte, einfältige, heuchlerische Dirne, und du wirst noch ins größte Unglück rennen. — Georg lächelte ruhig und erwiderte: Weil Ihr's denn doch einmal wisst, so will ich Euch unverhohlen sagen, dass mir Vreneli recht gefällt, und dass ich sie recht lieb habe; denn sie verdient's. — Der Witwe blieb fast der Atem aus, da sie Georgs Sprache hörte: Blinder Tropf, schalt sie: ein Weibsbild, das schon Einer sitzen gelassen? — Eben darum, Frau. Ich kann mir denken, — sprach Georg mit schwermütigem Ausdruck — wie weh das Verlassenwerden tun muss. — Eine Prinzessin Habenichts, auf die alle Welt mit Fingern zeigt! — Eben darum. Was geht mich die böse und dumme Welt an? — Die nichtsnützige Tochter einer blödsinnigen Mutter, eines bettelhaften Landstreichers! — Oho, Frau Trümpy! macht's nicht zu arg. Das Vreneli ist brav, die Mutter ist krank, und der Vater ist mir schon recht, und wenn Ihr ihn tausendmal nicht leiden könnt! — So? fuhr die Trümpy fort, indem sie ihrer Galle die Zügel schießen ließ, so? Prosit! Ich aber leide das Zusammenstecken nicht. Ich duld' es nicht. Meine Dienstboten müssen christlich und keusch leben. Ich bin eine unbescholtene Frau; ich behalte keinen Knecht, der in andern Häusern, bei schlimmen Dirnen herumsitzt. Verstehst du mich nun? — Ja freilich, Frau Trümpy. Ich hab' Euch schon sagen wollen, dass ich aus Euerm Brot gehe. — Undankbarer! wohin? — Zum Hagenbach. —

Die Witwe lachte wie ein Teufel auf, während ihr Herz vor Verdruss schwach wurde. Sie antwortete heiser und sich ermüdet auf die Bank niederlassend: Prosit, sage ich. Du hergelaufener Bursch, den ich nur dem Gallus zu lieb und aus Mitleid in meinen Dienst genommen! das ist mein Lohn? — Frau, ich bin kein hergelaufener Bursche. Meine Eltern waren rechtschaffene Leute; ich habe eine Heimat, wo ich schon eine Unterkunft fände, wenn ich wollte; hört Ihr? Wir sind aber geschieden, Frau. — Das sind wir; du hast nicht hören wollen, hast mich beleidigt, eine Frau, die ihre Batzen hat, die dich etwa noch glücklich gemacht hätte! Geh hin; du stimmst recht zusammen mit den Hungerleidern drüben, hättest es so gut haben können; wirst es bald bereuen. Geh nur hin; ich will nichts mehr von dir wissen. — Gottlob haltet Wort, Frau Trümpy; haltet Wort auch ferner. Adje, Frau. Zuvörderst müsst Ihr mir wohl erlauben, dass ich mein Bündel von der Alp hole. — Wird bald beieinander sein, hohnlachte die Ergrimmte und warf dem Fortgehenden ihren Schlüsselbund nach. Das Geschoss traf indessen nur die Türe, und Georg machte ein großes Kreuz, da er außer dem Hause stand. Zu dem Gallus, der daher schlenderte, sagte er: Adje, Gallus. Mit der Alten bin ich fertig, und geh' meiner Wege. Leb wohl. — Hast Recht, wenn du gehst. Aber wohin? Willst du zurück zu deinem Vater? — Halb lachend, halb verdüstert schüttelte Georg den Kopf. Noch ist's nicht Zeit, entgegnete er. Er trägt lang nach und ist gewiss noch nicht gut geworden. Red' nichts davon, hörst du? — Sapristi! einem alten Militär das zu sagen! So gehst du also zum Hagenbach? — Ja. — Recht; lass dir das Vreneli gefallen. — Versteht sich. — Sie ist mir just begegnet; sie ist mit dem Alten ins Weißbad gefahren. Sie wollen aufs Wildkirchle; der Alte hat, denk' ich, ein Gelübd' getan; ich weiß aber nicht, wofür. — Dann seh' ich sie dort oben, die neue Herrschaft. Ich geh' zur Alp, den Havresac zu holen. — Glück zu, und gute Nachbarschaft, Bruderherz. — Allemal. —

Wie schnell auch der junge Mann seine Schritte förderte, so war ihm doch unmöglich, Hagenbach und seine Tochter einzuholen. Diese Letzteren fuhren mit einem raschen Pferde gestreckten Trabs in das Weißbad und verweilten daselbst nur die Zeit, die unumgänglich nötig war, um einige Erfrischungen einzunehmen. Sie machten sich hierauf alsbald auf den Weg, der an fetten Alpen vorüber in die felsige Einöde des Wildkirchleins führt. Hagenbach, kaum erstanden von der schweren Alteration, der er beinahe zum Opfer gefallen, schritt langsam, von der Tochter unterstützt. Aber je höher ihn seine Füße trugen, um so freier wurde ihm Kopf und Brust, umso kräftiger sein Gang. Als die Wanderer endlich um die Ecke der hochgetürmten Felsen bogen, in deren Höhlen das Wildkirchlein und des Klausners Wohnung ruhen, wie Adlernester, als vor ihnen plötzlich der Säntis riesig aufstieg in wilder Eisespracht, während tief unter ihnen der Smaragd des Alpsees blitzte, da wurden Beide, Vater und Tochter, von den kräftigen Schauern jener Wunderwelt ergriffen und mit Schnelligkeit über die gefährliche Brücke, die nach der Felsenkirche führt, als wie von eifrigen Engelhänden gezogen und geleitet. — Wahrlich! sprach Hagenbach mit tiefer Andacht, hätte Gottes Majestät dazumal wie heute mein Herz erfüllt, ich hätte mich nicht vom Versucher, vom Teufel des Kleinmuts hinreißen lassen und nicht gestrebt, mein unsterblich Teil mit der sterblichen Hülle zugleich zu vernichten. — Denkt nicht mehr daran; redet nicht mehr davon, bat die Tochter flehentlich. Der Vater fuhr mit einer gewissen Heiterkeit fort: Das Übel schlägt jedoch immer zum Guten aus. Ohne meine verdammliche Vermessenheit hätte ich auch den wackersten Menschen nicht kennen gelernt, der mir jemals vorgekommen ist: den Georg. Wir sind ihm den größten Dank schuldig. — Allerdings, versicherte Verena. — Den größten Dank, wiederholte Hagenbach; sowohl für das, was er getan, als auch für das, was er noch tun wird, zu unserm Besten. — Ich freue mich, Vater, einen Hausgenossen in ihm zu erhalten. — Ich wollte, Kind, er würde uns Beiden mehr als ein Hausgenosse und Knecht. Ich darf ihn zwar nicht eigentlich einen Knecht heißen, da wir ihm unsern erhöhten Wohlstand zu verdanken haben werden. Er hat mir vorgeschlagen, einen Handel zu errichten, einen Handel mit Kräutern und Balsam. Der Mensch hat Kenntnisse in der botanischen Wissenschaft. Mein übrig Geld soll dienen, den Handel einzuleiten; Georg wird den Sammler und zugleich den wandernden Hausierer abgeben. Das Project ist gut und neu. Wir werden den Klötzen, meinen Landsleuten, aufzuraten geben. Und wenn's geglückt ist, wie ich nicht zweifle, dass es glücken wird, so wäre der brave, hübsche, tätige, junge Mensch nicht uneben zu einem Schwiegersohn. Was meinst du, Vreneli? — Reden wir noch nicht davon, lieber Vater. — Meinetwegen; aber zu den himmlischen Mächten, denen ich zum Dank für meine Rettung aus Satansklauen diese Wallfahrt gelobt habe, zu ihnen will ich beten, dass meine Wünsche in Erfüllung gehen, und dass du dich alsdann nicht weigern mögest, den wackeren Georg für die Erhaltung meines Lebens zu belohnen. — Verena hing den Kopf; dennoch war ihr die Vorstellung einer Heirat mit Georg weniger unangenehm, als es die Aussicht, dem rohen Bläsi anzugehören, gewesen war. In die Verhängnisse, die ihr Gott schicken würde, ergeben, betrat sie die Kapelle, verrichtete sie ihr Gebet. Da Hagenbach noch längere Zeit vor dem Altar verweilte, setzte sich Verena alsdann in den Sonnenschein vor der heiligen Grotte nieder und hing, in die Wildnis des Abgrundes niedersehend, ihren Träumen nach. Sie hörte nicht, dass eilige Füße über die Brücke schritten, dass der Klausner einen Ankömmling begrüßte; sie blickte erst auf, als Georgs Stimme sie anredete: Find' ich Euch doch endlich hier, liebste Jungfer? — Schönen Dank. Woher des Wegs, Georg? — Der verlegene Bursche versetzte: Da ich auf der Trümpy Alp gewesen, sah ich Euch des Wegs ziehen, den Vater und Euch, und dachte, Euch guten Tag zu sagen. Wenn's Euch freut, will ich Euch heimbegleiten und zum ersten Mal unter Euerm Dache schlafen. Ich bin schon aus dem Dienst der Nachbarin. — Das ging schnell, Georg. — Wär's Euch allzu schnell? Dann tät' mir's leid. Ich konnte kaum erwarten, um Euch zu sein, Vreneli. — Wie redet Ihr? Habt Ihr die glatten Worte unter den Soldaten gelernt? Lasst das für Andere, die Euch glauben. — Ihr macht mir Schmerz , wenn Ihr mir nicht glaubt. — Tut doch nicht verliebt, wie ein Herr aus der Stadt. — Verliebt? Hm, ich bin nicht verliebt in Euch, Vreneli. Ich hab' Euch gern, lieb von Herzen, aber zum Verlieben wär's noch zu bald. Vielleicht kommt's dazu ... ich weiß nicht recht. Erlaubt indessen, dass ich Euch gut sei. — Recht gern, da Ihr so vernünftig sprecht. — Und seid auch gut mit mir, Jungfer. — Das versteht sich. Erstens hält der Vater viel auf Euch ... — Er soll's nicht bereuen, bei Gott! — Zweitens habt Ihr ihm das Leben erhalten... — Das freut mich mehrenteils um Euretwillen. — Endlich kann ich Euch nicht vergessen, Georg, dass Ihr, ohne mich noch zu kennen, mein Recht gegen den Rüttimann verteidigt habt. — Ohne Euch zu kennen? Ei ja doch! ich hatte Euch schon oft gesehen; am Morgen, so oft Ihr die Leinwand auf dem Grase netztet; am Mittag, wann Ihr die Hühner füttertet; am Abend, wann Ihr bei Eurer Arbeit unterm Baume saßt und fleißig wart, bis die Sterne langsam kamen, bis die Gletscher verglühten. Gesehen und wohlgefallen und gedacht, ich möcht' bei Euch sein mein Lebelang, das war eins bei mir, und der Himmel, Gott sei Dank, hat schon den Anfang dazu erlaubt. —

Vreneli hörte mit freundlichem Lächeln die schlichten und ungeschmückten Reden des Burschen an, fragte aber plötzlich in einen fremderen Ton übergehend: Gefällt's Euch in Appenzell? — Es hat mir darinnen nie besser gefallen, als heute. — Könnt Ihr denn Eure Heimat vergessen, und wie heißt Euer Geburtsland? — Ich bin ein Berner, wisst Ihr's nicht schon? bin in Pruntrutt daheim. Vor langen Jahren ist mein Ort des Bischofs von Basel gewesen, und hat dann lange den Franzosen gehört, und ist jetzt zum Kanton Bern geschrieben. Wir sind Schweizer mit Herz und Blut und Hand. — Ich glaub's. Was hat Euch jedoch hierher geführt? — Mit einiger Verlegenheit antwortete Georg: Vater und Mutter sind gestorben; Verwandte hätt' ich zwar noch zu Delsperg. Landenberger gibt's dort genug. Aber mir hat's gefallen, in die Welt zu gehen. Darauf bin ich unter die Soldaten nach Welschland gekommen und hab' den Gallus beim Regiment kennen gelernt. Als unsere Kapitulation um gewesen, und weil ich lieber ein Bauer geworden wäre, als ein Scherer, wie mein Vater seliger, und mir der Gallus immer vorgesagt, wie schön es in Appenzell sei, und dass allhier Milch und Honig fließe, so bin ich mit ihm gegangen, und habe jetzo mehr gefunden, als ich glaubte; nämlich Euch, liebste Jungfer, die mir besser gefällt, als alle Milch und aller Honig in der ganzen Welt. — Der Vater sagt aber, Ihr seiet zu einem Bauer zu gut; Ihr seiet studiert in allerlei Künsten? Der Knecht lachte verschlagen, indem er sagte: Ho, das Salbenkochen, Schröpfen und Aderlassen und die Wissenschaft von den Kräutern hab' ich aufgeschnappt, da ich auf der Barbierstube lernte. Es ist nicht viel damit; doch hat Mancher mit noch viel weniger sein Glück gemacht, und wenn ich einmal mit einer Trage voll Kräutertee ins Deutschland und Welschland wandern kann, will ich schon meine Ware an den Mann bringen. Die Leute sind überall gar leichtgläubig, und wer ihnen alle Krankheiten auf den Hals disputieren und wiederum für eine jegliche ein Mittel anhängen kann, der hat gewonnen Spiel. Vreneli lachte über die Unbefangenheit, womit der Georg seine quacksalberischen Grundsätze aussprach, und sagte: Ihr habt treffliche Anlagen. Die Zunge geht Euch, wie einem Fastenprediger. — Wenn ich mich nur einmal in Euer Herz predigen kann, schön' Vreneli, dann hat's keine Noth mehr! erwiderte der Pruntrutter scherzend, aber hinter dem Scherz lauerte der Ernst, den das Mädchen gar wohl verstand, da es den Blick zur Erde senkte. — Hagenbach jedoch, der indessen hinter die traulich Schwatzenden getreten war und Alles vernommen hatte, sagte plötzlich zu ihnen: Die Geduld und Beharrlichkeit geht niemals fehl, lieber Görg. Sei treu und redlich, und führe, was wir ausgemacht haben, zum guten Ende. Dann wird auch das Vreneli vernünftig sein und dem Bläsi und der Trümpy zum Trotz eines braven Mannes Gattin gerne werden.

Die Wallfahrt zum Wildkirchle schien gute Früchte getragen zu haben. Von dem Tage an gewann Hagenbachs Hausstand ein ganz anderes Ansehen. Fleiß und Rührigkeit kehrten unter seinem Dache ein. Große Vorräte an Kräutern mannigfacher Art, von Georgs Händen eingesammelt, erfüllten die Räume des Hauses. Der Vater und die Tochter gewannen neue Freude am tätigen Leben, die Pflanzen trocknend, sortierend, nach Georgs Vorschriften mischend, einpackend und überschreibend. Sobald der Winter herannahte, verließ der Knecht als Hausierer, des Sommers und des Herbstes Beute auf dem Rücken tragend, den Flecken, und wanderte in die benachbarten Länder. Mit vielen Bestellungen und leerem Tragkorb kam er bald zurück und ging zum zweiten Mal ins Weite. Sobald der Frühling eintrat, war er wieder daheim, verwandelte sich in den Botaniker, und schon konnte Hagenbach ihm helfen, Verena ihm gewandter beistehen. Zu Anfang des Sommers verschickten die Associés bereits einige Träger, die ihren Wundertee den sehnlichst harrenden Abnehmern zu schleppten; Georg, in einem halbstädtischen Anzuge und fortan Herr Landenberger geheißen, kutschierte in Hagenbachs Einspänner in weiter entlegene Gegenden und etablierte daselbst Depots, erwarb sich Agenten und Korrespondenten. Noch ehe der Herbst kam, sammelten viele Dutzend Hände den marktschreierisch gepriesenen Tee für Hagenbach und Compagnie; andere pressten für dieselbe Firma den vortrefflichen Wunderbalsam, das unvergleichliche Haaröl, womit Handel getrieben wurde nach Wien und Russland, nach Paris und Spanien, wie auch in der Folge nach Amerika und nach der Levante. — Das Resultat all dieser glücklichen Operationen war das Aufblühen des Hagenbachschen Hauses, der Neid seiner sämtlichen Landsleute und die Verehelichung Georgs mit der dankbaren Verena, die zwar ohne Widerwillen, aber auch nicht mit allzu herzlicher Beistimmung über ihre Hand verfügen ließ.

Die Trauung hatte am frühen Morgen, bald zu Anfang des Winters statt. Im Begriff, mit sehr geringem Geleit zur Kirche zu gehen, trat Verena an der Hand ihres Bräutigams vor die Mutter, deren Zustand sich bis dahin nicht im Mindesten geändert hatte, und sagte gerührt: Liebe Mutter, segnet Eure Tochter. — Segnet auch mich, setzte Georg freundlich hinzu: ich werde fortan Euer Sohn sein. — Scholastika schaute des Paar mit blinzelnden Augen an. Was machst du, Verena? fragte sie. — Ich heirate, liebe Mutter; ich heirate diesen Mann, Herrn Landenberger. — Wo bleibt denn mein Johann? fuhr die Kranke fort; du musst nicht heiraten, wenn er nicht dabei ist. Lass es bleiben. — Verena konnte vor Wehmut nicht antworten. — Nehmt mich für den Johann, gute Mutter, und habt mich lieb, sagte der ebenfalls tief ergriffene Georg. — Die Alte horchte eine Weile, dann sagte sie: die Stimme könnte es wohl sein, aber ich sehe meinen Johann nicht. — Ich sehe euch Alle nicht mehr, setzte sie trocken hinzu und zog mit den Fingern ihre Augenlider in die Höhe, und die aufmerksam gewordenen Umstehenden nahmen mit Beklommenheit wahr, dass die Unglückliche zu all ihrem Elend noch obendrein blind geworden! —

Das war eine traurige Hochzeit! Der Vater still in sich gekehrt, die Braut an Tränen reich und arm an Freude, der Bräutigam ernst, wortkarg und leidend mit der Braut, die Zeugen und das Gefolge verstimmt oder schadenfroh. Das Mahl, das der Trauung folgte, verfloss einsilbig, steif und gestört. Die Gäste gingen gern heim in ihre Häuser; der Vater begleitete den Pfarrer, Georg führte Verena in die für beide hergerichtete Stube. Sei getrost, Vreneli, sagte er teilnehmend; ein alter Aberglaube will, dass der ganze Ehestand sei wie der erste Tag desselben. Es ist aber nur ein Aberglaube. Wir weinen zwar heute, aber die lustigen Tage werden nicht ausbleiben. Schau: reiner und fleckenloser als du ist sicherlich noch keine Braut vor dem Altar gestanden! Hoffe darum alles Gute, so wie ich's hoffe. Du bist noch kalt gegen mich, aber die warme Freundschaft, die ich für dich fühle, wird schon mit deiner Kälte ein Abkommen treffen, so Gott will. — Verena lächelte durch ihre Tränen, indem sie sprach: Du redest ja heute wie ein Buch, Georg. Seit du ein Handelsmann geworden, kennt man den Knecht gar nicht mehr aus dir heraus, — Hm, 's ist nicht anders. Der Knoten im Kopfe ist mir etwas aufgegangen, und du sollst das Beste tun, mich zu einem andern Menschen zu machen. Das Schlimmste an mir ist mein Jähzorn und meine flinke schlaglustige Hand. Deine Geduld wird mir aber schon, wie's heißt, den Giftzahn ausbeißen. Mein Jähzorn hat mir viele böse Stunden gemacht. Beim Regiment saß ich nur zu oft wegen Händel auf der Wacht. Und wie ich zum Regiment gekommen bin, daran ist wieder meine Rauflust schuld gewesen. — Du hast doch nicht Jemand tot geschlagen? — Behüte; aber ein Auge hat's dem Kameraden immerhin gekostet, und ich hatte Angst vor Strafe und Gefängnis und vor des Vaters Zorn, und bin daher davon und unter die Soldaten gelaufen. — Der arme Vater! hast du ihn nimmer vor seinem Tode gesehen? — Georg lachte etwas verschmitzt und entgegnete schmeichlerisch: Lieb Vreneli, verzeih' dass ich dich bis zu dieser Stund' angelogen habe; aber mein Vater lebt noch, ich denke, in der besten Gesundheit. — Er lebt noch? und warum hast du gelogen? — Sei nicht böse, Vreneli. Der Alte ist eben zornig, wie ich, nur verraucht der Zorn bei ihm nicht so geschwinde. Er kann seinen Unwillen schier nicht verwinden. Ich hab' ihm vom Regiment ein paarmal geschrieben, aber immer keine Antwort erhalten. Ich schämte mich vor euch, Alles zu erzählen, wie ich davon gelaufen bin. Und dann — hätten der Ammann und der Rat die Einwilligung zur Heirat vom Vater begehrt, ... er hätte mir sie gewisslich nicht erteilt, und ich wäre zu Appenzell abgewiesen worden. Darum ließ ich mich als eine Waise gelten, und mit ein paar neuen Talern hab' ich's bei den Herren durchgedrückt, dass sie mit meinen Regimentsschriften zufrieden gewesen sind. Das ist nun abgemacht, wir sind Mann und Frau, und gelt, du verzeihst mir? — Ich weiß nicht, ob ich's soll. Wer seinem Vater so viel Herzeleid bereiten kann, wie wird der erst mit seinem Weibe umgehen? — Dich auf den Händen tragen — das will ich, Vreneli. Vergibst du mir auch dann nicht, wenn ich dir sage, dass ich dem Alten vor Kurzem erst geschrieben habe? Ich hab' ihm erzählt, wie glücklich es mir hier ergangen, welch eine Braut ich an dir gefunden, wie ich ganz nahe daran sei, ein vermöglicher Mann zu werden. Das Geld hat der Vater immer gern gehabt, und sein einzig Kind wird er ins Himmels Namen doch nicht auf ewig verstoßen wollen? Ich habe ihn um Pardon gebeten, ihm geschrieben, dass ich nicht als ein Taugenichts hätte vor ihn kommen wollen, dass ich aber jetzt ein gemachter Kerl sei, und er möchte endlich seinen Groll fahren und mir seinen Segen zukommen lassen. Ich hab' mich als seinen reumütigsten Sohn darunter geschrieben, und zweifle nicht, er werde sich erweichen und mir ein paar Buchstaben schicken, die mich freuen und beruhigen. — Ich wünsche es dir, Georg, sagte Verena gerührt; der Eltern Segen baut Häuser.

Indem tippte Jemand ans Schiebfenster, und der kleine Ruodi, das Briefträgerlein, rief von der Straße: Herr Landenberger, ein Brief! Der Posthalter hat gesagt, er sei Französisch, aber Ihr seid doch damit gemeint. — Georg öffnete flugs, riss mit fröhlicher Ahnung den Brief an sich und jauchzte: Victoria! hab' ich nicht gesagt, Vreneli, dass ich allen Hexen zum Ärger unser Leid in Freud' verkehren werde? Der Brief ist von daheim, der Vater hat ihn geschrieben. Da, Bube, da hast du einen Laubtaler; 's ist nicht zu viel für eine solche Botschaft! Auch Ruodi jubelte ein Victoria und lief als ein glücklicher Prinz davon. — Georg las mit Stolz und funkelnden Augen: A Monsieur George Landenberger, marchand etcetera, à Appenzell! Dann öffnete er das Schreiben, und inwendig war es deutsch mit fingerlangen Buchstaben gefertigt. — Ein langer, langer Brief! sagte er mit Herzklopfen, und seine Hände zitterten, denn er las mit erlöschender Stimme die nicht erbauliche Anrede: Undankbarer, pflichtvergessener Georg! — Der Leser wischte sich die Augen, als wären sie trüb angelaufen, und sagte zur neugierigen Verena: Seh' ich recht, oder ist's ein höllischer Trug? Das klingt nicht wie Verzeihung. Lies du, was im Brief steht. Es schwimmt mir vor den Augen. Lies, Vreneli, und tröst' uns Gott!

Das war ein trauriger Morgen, der nächste, der das junge Ehepaar beschien. Sein Strahl fiel auf Verenas dickverweinte Augen, auf Georgs verstörtes, zerknirschtes Angesicht. Hagenbach, den seines Weibes Unglück abermals von der Höhe wachsender Zuversicht zur bangen Kleinmütigkeit herabgeschleudert hatte, suchte vergebens eine Beruhigung in den Zügen seiner Kinder. Auf alle Fragen, die ihm die Besorgnis eingab, wurde ihm nur die Antwort, dass Scholastikas Zustand wohl der Kinder Niedergeschlagenheit rechtfertige, und der bekümmerte Vater musste sich mit dem Bescheid begnügen. Dafür sagte er umso öfter — laut und in seinen Gedanken: Das wahre Glück will dennoch nicht bei uns einkehren, und meine paar Lebensjahre sollen in Trübsal verfließen! so steht's geschrieben. — Tochter und Eidam umarmten ihn freilich alsdann mit den Beteuerungen der innigsten Liebe; Georg verdoppelte seine Bemühungen, sowohl dem Vater als der Mutter mehr zu sein, als ein Fremder; aber der Stachel des Grams blieb in des Alten Herzen nur allzu quälend zurück. — Die Verstimmung der kleinen Familie konnte natürlich den Nachbarn nicht verborgen bleiben. Die Witwe Trümpy vor allen frohlockte unverhohlen darüber. Da haben wir's, sagte sie zu ihren Klatschschwestern, ungerechtes Gut und falscher Mund bringen nie das Glück ins Haus. Was sie zusammengeschlagen haben, indem sie der Welt ihren eitlen Kram für Wunderarznei verkaufen, nützt den Hagenbachs nicht eines Brosams wert, und der Landenberger, der in die Schüssel tappte und die hochmütige Verena ohne Überlegung mit Rosen und Dornen genommen hat, mag sich jetzt die Nägel von den Fingern kauen. Das Geld, du lieber Gott, macht nicht Heil, nicht Seligkeit. Ein gutes Gewissen und der Friede darinnen sind mehr als Schätze. Gott bessere es, aber wir werden von den Leuten noch erbauliche Dinge erleben! Die Missgünstigen und Schadenfrohen sprachen aus voller Kehle allenthalben den frommen Wunsch und die böse Prophezeiung nach. — In der Tat gab das Leben, wie es sich jetzo bei Hagenbachs gestaltete, zu mancherlei Nachreden Anlass. Der Vater bezog mit Scholastika ein kleines Gebäude, das, zum Ruhesitz bestimmt, von ihm dicht neben dem größeren Hause errichtet worden war. Die jungen Leute walteten und schalteten in dem letzteren ganz allein. Die Tätigkeit in den Magazinen und Geschäftskammern ging ihren alten Schritt, aber in den Wohngemächern wurde eine fast klösterliche Ordnung eingeführt. Das Ehepaar sah blutwenig Leute bei sich, bewohnte weit getrennte Stuben und behandelte sich gegenseitig freundschaftlich, aber ohne eine Spur von inniger Vertraulichkeit. Georg kam und ging, ohne dass Verena sonderlich darauf geachtet hätte. Er reiste ab, und ihr Auge blieb trocken. Er kam nach mehreren Monaten zurück, und ein einfacher Handschlag der Gattin bewillkommte ihn. Es fiel zwischen ihnen nicht ein unschönes Wort, aber sogar das lauerhafteste Gesinde war nicht vermögend, sie in einem vertraulich-behaglichen Beieinandersitzen zu überraschen. Sie gingen selten zusammen aus; wenn sie's taten, herrschte eine zwar ungezwungene, aber kühle Freundlichkeit unter ihnen vor. Kein Scherz, wie er auf die Lippen eines jungen Ehemanns kommt, entschlüpfte dem Georg; kein Blick, wie eine junge Gattin deren oft, selbst in Gesellschaft Anderer, dem Gatten halb verstohlen zu schenken pflegt, war jemals in Verenas Auge zu ertappen. Wo Beider Zärtlichkeit zusammentraf, das war der Eltern Haupt. Diese zu lieben und zu ehren und zu pflegen, schien der Kinder eigentliches Geschäft, sie sparten sich, so zu sagen, die ihnen selbst zukommende Liebe vom Munde ab, um sie den Eltern zuzuwenden. — Sehr natürlich wurde auch diese Äußerung ihrer Gefühle von den Aufpassern verunglimpft. Die Herzlosesten unter den Letzteren sagten sich in die Ohren: Die Landenberger haben kein Herz; er liebt nicht sie, sie liebt nicht ihn. Wären sie schon zehn Jahre verheiratet, sie könnten sich nicht gleichgültiger begegnen. Aber auch die Liebe zu den Alten, die sie zur Schau tragen, ist nur Heuchelei. Die Alten müssen brav Batzen gespart haben, und die Jungen warten schmerzlich auf der Alten Tod. Die Tochter ist der pure Geiz, und der Schwiegersohn möchte gern Alles haben, der Schwamm, der Pilz, der nackt auf die Welt gekommen und mit Hagenbachs Geld sich bereichert hat. —

Denn es galt seit geraumer Zeit — trotz des ehemaligen Lärms von Hagenbachs bevorstehendem Bankerott — im Flecken für eine ausgemachte Wahrheit, dass der Exhauptmann ein riesenhaftes Vermögen von jeher sein genannt und damit nur hinterm Berg gehalten habe, um seine Freunde auf die Probe zu stellen. — Der Landweibel, dessen Sohn die Bräuerstochter geheiratet, aber dadurch in eine verschuldete Wirtschaft geraten war, hatte sich schon öfters vor den dicken Kopf geschlagen und gesagt: Wie dumm war ich, den Hagenbachs den Stuhl vor die Tür zu setzen! Um wie viel besser stände jetzt mein Bläsi; und Niemand ist an der Aufhetzerei schuld gewesen, als die Base Trümpy; und sie soll mir nicht mehr über die Schwelle kommen! — Die Base lachte dazu; war doch ihr Herz voll Freude, dass der Bläsi, der sie verschmäht hatte, in schlimme Schuhe gekommen war! — Auch zu Landenbergers, wie sie sich ausdrückte, missratenem Ehestand lachte sie; doch konnte sie den schmucken ehemaligen Knecht nicht völlig aus ihrer Seele reißen und widmete seinen häuslichen Angelegenheiten eine Aufmerksamkeit, die ihr bald selber nicht Ruhe ließ. — Oft, am späten Abend, wenn alle Lichter in den Häusern ringsum ausgelöscht waren und in Landenbergers Wohngemach allein noch die Kerze brannte, schlich die neugierige, selbstquälerische Schlange an des Undankbaren Haus und horchte an demselben Schiebfenster, in welches der kleine Briefträger am Hochzeittage seine Depesche gereicht hatte. Bis daher war die Lauschende nur Ohrenzeuge von den gleichgültigsten Gesprächen der Eheleute gewesen; sobald Georg mit einem ruhigen: Gute Nacht, Vreneli! seine Lampe genommen, um ins obere Stockwerk seinem Lager zuzuwandern, sobald Verena mit einem gähnenden: Schlaf wohl, Georg! ihre Türe verriegelt hatte, musste die aufpassende Trümpy den Rückzug antreten, und zwar immer unbefriedigt, um bald wieder desto neugieriger auf ihren Posten zurückzukehren. Eines Abends jedoch — eine gewisse kribbelnde Unlust und Reizbarkeit ließ die gute Nachbarin nicht einschlafen — sprang sie aus dem Bette, kleidete sich notdürftig an, wie's die Sommernacht erlaubte, und schlüpfte in ihren kleinen Horchwinkel, da noch heller Lichtschimmer durch die sauber ausgeschnittenen Herzen des Landenbergerschen Fensterladens strahlte. Mit unruhig pochender Brust, auf die Zehen sich streckend, vernahm die Trümpy zu ihrer innigsten Genugtuung, dass ein ungewöhnlich lebhafter Zwiesprache von den Ehegatten geführt wurde. Ihre Neugierde ahnte Wunderdinge.

Georg war so eben von einer Reise zurückgekommen und sprach, heftig auf und ab gehend, mit dem Ton der Selbstanklage: Ich wollte, ich wär' im Himmel; mir wäre wohl. Das Fegfeuer ist aber schon von dieser Welt! — Freilich, antwortete Verena mit Ruhe und Stolz, 's geht nicht anders, wenn man den bösen Gelüsten nachgibt. Du hast da etwas Schlimmes von der Reise mitgebracht, Görg. — Lieb Vreneli, der Satan hat mich hinters Licht geführt. Wär' ich doch lieber in die Hölle, als zu den Schwestern ins Haus gegangen! Wie ich dir sage, um etwas anders, als um den Enzian, den sie zu verkaufen hatten, ist mir's nicht gewesen; aber die Jüngere war so hübsch, und das Häuschen so sauber . . sie sind blutarm, doch reinlich und apart, besser, als die Andern, die im Gebirge wohnen. Kurz, ich bin wiedergekommen, wann die Eltern nicht zu Haus gewesen... die Einsamkeit der Alpe hat auch geholfen . . . schilt mich nicht so derb aus, Vreneli. Wir sind allesamt gebrechliche Menschen ... — Das weiß der liebe Gott, versetzte Verena nicht ohne Weichheit; was soll aber aus dem Würmlein werden, das jetzo zu hoffen steht? — Ich will mich seiner allerdings annehmen, sagte Georg rasch und gutmütig, ich will ihm freilich Vater sein, rate mir aber, wie ich's anstelle. Schon um deinetwillen möchte ich nicht in die Mäuler der Leute kommen. — Was soll ich raten? Wenn die Mutter am Leben bliebe ... — Das ist aber nicht, fiel Landenberger ein, es kann sie gerade nur ein Wunder retten. Der Gram, da sie erfuhr, dass ich nicht mehr ledig sei, und die Neigung, die sie zum Zehrfieber hat, ihre jetzige Schwäche . . ! gewiss, gewiss, ich darf meinem Blick trauen ... sie stirbt, dem Kinde das Leben gebend, oder das Kind stirbt mit ihr zugleich. Ich Unglücklicher! wär' ich doch um sein halbes Jahr jünger! ich wollte klüger sein. — Was soll ich raten? wiederholte Verena mit Bewegung. Ich wüsste wohl allenfalls eine Auskunft ... ob nicht die Schwester . . . ? — Nein, der Leichtsinnigen lass' ich das Kind nun und nimmermehr ... — Nun, so fasse dich einmal, Georg. Was geschehen, ist nicht ungeschehen zu machen, Deine Pflicht ist's, dem armen Wurm, so ihn Gott erhält, ein Vater zu sein . . . und, so schwer 's mich ankommt und welche Überwindung mich's auch kostet . . . ließe der liebe Gott das arme Weib nicht am Leben ... das Kind sollte nicht verstoßen — ich selbst wollte ihm Mutter sein. — Ach, du Engel! frohlockte Georg, ich hab' mich vor deinen Vorwürfen, vor deinem Zorn gefürchtet, und du bist mein lebendiger Trost gewesen! — Was helfen denn Vorwürfe? Ist's nicht hingegen unsere Sache, den Makel unserer Lieben mit dem Mantel Christi zuzudecken? — Georg küsste die Milde heftig auf Stirn und Wangen und sprang dann ans Fenster. Ich muss Luft haben; ich ersticke in der schwülen Stube! rief er und ließ den Laden nieder. — Kaum vermochte die lauschende Nachbarin einen kleinen Vorsprung zu gewinnen. Bei einem Haare wäre sie verraten gewesen. Indessen entkam sie unbemerkt, streckte sich, glühend vor Hast und Unruhe, ins Bett und murmelte einmal und tausendmal: Saubere Geschichten! Ein seliger Lebenswandel von den Beiden! Der Bruder Liederlich! die heuchlerische Hehlerin! Pfui! nicht einen Funken von Ehre hat sie im Leibe! Aber nur Geduld! mäuschenstille Geduld! Wir wollen abwarten, wie der schmutzige Handel abläuft, und dann, erst dann Lärm geschlagen, wie sich's gehört.

Des bösen Weibes Rachbegier war so gewaltig, dass sie sogar der geschwätzigsten Zunge des Kantons Fesseln anlegte. Die Witwe gewann es über sich, von dem, was sie gehört, zu schweigen und des Verlaufs geduldig zu harren. Sie begnügte sich, ringsum verstohlen auszubreiten, dass sie von Landenbergers ganz entsetzliche Dinge erfahren, und dass sie schon zur gelegenen Zeit erzählen werde, was sie wisse.

Und da auf einmal ganz unverhofft die Kunde umherging, Verena stehe in der Hoffnung, Mutter zu werden, schüttelte die Trümpy boshaft den Kopf und meinte, das sei ein eitel Vorgeben, und man werde schon ganz etwas anderes erfahren. — Sie schwieg noch immer und harrte der Stunde der Vergeltung.

Und als es auf einmal hieß, Verena sei mit ihrem Manne in die Fremde gereist, was noch niemals geschehen, sagte die Trümpy wieder: Der Haber wird reif und das Brot wird aufgehen, dass es eine Freude ist.

Und als nach recht langer Abwesenheit das Ehepaar Landenberger wiederkehrte und Verena einen Säugling in den Armen trug, den sie auf der Reise geboren; als die Verwunderung im Lande und das Entzücken in Hagenbachs Herzen ausbrach, und selbst Scholastika mit einer dunkeln Ahnung von großmütterlicher Freude das Geschrei des kleinen Enkels anhörte und das zappelnde Kind segnend betastete — da konnte die Trümpy nicht mehr an sich halten. Zwar schwatzte sie noch nichts den Freunden und Freundinnen, dem Markte und der Spinnstube, aber sie packte, nach ihrer Meinung, die Sache beim rechten Ende an und lief zum Pfarrer und erzählte ihm Alles, was sie erhorcht und erlauscht, und beschwor bei ihrer Seligkeit, Landenbergers Kind sei nicht Verenas, und die Kirche wie die Obrigkeit müsse das Ärgernis bestrafen. — Der Pfarrer, wenn gleich zweifelnd, stutzend und zögernd, wenn gleich die verächtliche Horcherin derb abkanzelnd, hielt es für seine Pflicht, der argwöhnischen Gemeinde gegenüber, einen dreisten Blick in Landenbergers Familie zu tun; und darum begab er sich am selben Abend in das ihm als verdächtig bezeichnete Haus.

Sein ungewohnter Besuch befremdete natürlich. — Landenberger empfing ihn jedoch mit Zuvorkommenheit; Verena bewillkommte ihn herzlich. Längere Zeit drehte sich das Gespräch um gleichgültige Gegenstände. Der Pfarrer glaubte zu bemerken, dass die Eheleute sich gegenseitig mit Blicken der Erwartung ansahen. — Aber weder auf der Stirn des Mannes, noch auf dem Antlitz der Frau war eine Spur von bösem Gewissen zu erforschen. Der Pfarrer wusste daher nicht recht, wie er sein kitzliges Verhör zu beginnen habe. — In derselben Minute trat die Amme mit dem Kinde auf dem Arm herein und meldete, es sei Jemand da und frage nach Herrn Landenberger. Um des Pfarrers Besuch abzukürzen oder zu seinem eigentlichen Ziel und Resultat so geschwind als möglich zu führen, antwortete Landenberger, der Fremde möchte indessen beim Vater eintreten und warten. Er selber würde kommen, sobald der Herr Pfarrer sich entfernt haben würde. — Die Amme, den Auftrag auszurichten, ließ das Kind auf dem Schosse der Mutter und ging hinaus. Der Pfarrer seinerseits, wohl einsehend, wie Landenbergers Bescheid zu verstehen, beschloss, ehrlich und gerade mit der Sprache herauszugehen. — Dies Euer Kind, liebe Frau? fragte er. Verena bejahte. — Euer Kind, wahrhaftig und wahr? — Verena errötete. Der Herr fragt so dringend und sonderbar, Georg. Sage ihm doch ... — Ich will redlich sein, fiel ihr der Pfarrer ins Wort. Dieses und Jenes — er erzählte den Bericht der Angeberin — hat mir Jemand als die reinste Wahrheit hinterbracht. Ich bin es mir und euch selbst schuldig, euch auf euer Gewissen zu befragen. Wenn Ihr, Frau Landenberger, durch Euern Edelmut Euch habt überreden lassen, Eures Mannes Schwachheit im Dunkel zu begraben und sein Kind das Eurige zu nennen, so habt Ihr etwas getan, das zwar an sich eher zu loben als zu schelten ist, das aber nichtsdestoweniger in seinen Folgen verderblich werden kann. Der frömmste Betrug ist immer nur Betrug. Wenn er ans Licht kommt — und er wird's — wie könnt ihr euch beide vor dem weltlichen Richter verantworten? Wenn eure Ehe dereinst mit Kindern gesegnet würde . . . was wolltet ihr mit dem Eingedrungenen beginnen? Oder sollte er mitzehren am Erbe der rechtmäßigen Sprösslinge, und könntet ihr zugeben . . .?

Verena unterbrach den Pfarrer, indem sie zu Georg lebhaft sagte: Der geistliche Herr hat den Ruf, ein braver Mann zu sein. Als ein solcher wird er uns nicht unglücklich machen, wenn wir ihm Alles sagen. — Ich mein's auch, antwortete Georg, plötzlich getrost werdend: Nehmt's als eine Beichte, würdigster Herr. Dieses Kind ist wirklich nicht Vrenelis, es ist mein Kind, das sein Leben der Versuchung und dem Zufall zu verdanken hat, und dessen Mutter gestorben ist. Das Einfachste schien uns, es für unser eheliches Kind auszugeben. Stört uns nicht in dem Besitz, hochwürdiger Herr, wenn Ihr ein menschliches Herz habt. Macht uns nicht um meiner Schwäche willen zu Schanden. Macht unsern Vater nicht unglücklich, der einen Enkel zu wiegen glaubt und sich verjüngt in dieser Freude. — Ich will nicht jetzo, in diesem Augenblicke, eurer Sünde Richter sein, sagte der Pfarrer schwankend, bedenkt aber, dass euerm Vater noch gegönnt sein wird, aus den Armen seiner Tochter einen Enkel zu empfangen, der ... — Nimmermehr! rief Verena vorschnell, mit einer Gebärde des Unwillens. — Nein, o nein! setzte Georg eben so heftig hinzu. Der Geistliche schüttelte den Kopf. Wie versteh' ich euer Betragen, eure Reden? Wie könnt ihr wagen, der Zukunft den Stab zu brechen? Schon ist viel Sonderbares von eurer Ehe laut geworden. Mir war aber vorbehalten, das Sonderbarste aus euerm Munde selbst zu vernehmen.

Er ist ein echter Diener Gottes! ... bat Verena ihren Gatten, mit einem Blick auf den Pfarrer. Sag ihm Alles. — Das Sonderbarste freilich sollt Ihr hören aus unserm Munde, der schon so lange und so ungern schwieg, hob Georg an, indem er sich den Schweiß von der Stirne trocknete. Nehmt unsern ehrlichen Namen in Eure Obhut, Herr Pfarrer. Diese Verena ist mir zwar von Euch selber angetraut worden ... aber sie ist nicht mein Weib ... sie ist meine Schwester, Herr!

Der Pfarrer fuhr zurück und schlug voll Schrecken die Hände zusammen. — Georg lief nach seinem Schreibkasten und brachte in seinen zitternden Fingern den Brief herbei, den er am Hochzeittage empfangen. Bevor ich diesen Brief erhalten, sagte er weinerlich, war ich ohne Ahnung, ohne Furcht, voll von Zuversicht und Glück. Lest aber, was mein zürnender Vater darinnen geschrieben hat: er hat mich nur aus Mitleid erzogen, hat mich zu seinem Erben bestimmt, da seine Gebrechlichkeit ihm verboten, ein Weib zu nehmen; mein Davonlaufen hat mich jedoch aus seinem Herzen gerissen, jeden Anspruch meinerseits an ihn getilgt; er überlasse mich meinem wohlverdienten Schicksal, schreibt er, und würde mir auch seinen Namen zu tragen verbieten, wenn er denjenigen meiner Eltern wüsste . . . Ach, ich hätte ihm den teuren Namen, gleich nachdem ich seinen erschrecklichen Brief gelesen, wohl sagen können!!... Lest weiter, Hochwürdiger.

Und der Geistliche las, die Sätze halb verschluckend vor Hast und Neugier: "Am neunundzwanzigsten August ... da ich Chirurg bei der Armee gewesen . . . im Verfolgen des Feindes . . . im Posthause am Arlberg ... in meiner Stube verborgen einen Knaben gefunden, der eine Leiche schien . . . indessen noch Zeichen des Lebens verspürte . . . nachgeholfen . . . von dem langgedauerten kataleptischen Anfall und Starrkrampf befreit . . . darüber gestört worden durch des Feindes neues Vordringen . . . Alles aus dem Hause entflohen, kein Mensch zu finden gewesen . . . das Kind, in der Ambulanz wohl eingepackt, mitgenommen . . . dann auf langen Märschen heimgekehrt . . . ohne, wie ich gehofft, in jenes Haus zurückzukehren . . . ich war an den Knaben so gewöhnt . . . erst nach manchen Jahren in jenem Posthause nachgefragt . . . es waren andere Leute auf der Wirtschaft; war gar nichts mehr zu erfahren. — Suche jetzt deinen leiblichen Vater, da du, undankbarer Raufhahn, deinen Pflegevater mit Füßen von dir gestoßen!" —

Der Pfarrer blickte mit nassen Augen gen Himmel. Deine Vorsehung, o Herr! stammelte er. Dann fragte er rasch: Trifft, was der Chirurg schreibt, mit Euers Vaters mir wohlbekanntem Unglück zusammen, Verena? — Auf Tag und Stunde und Ort; viele Hundertmal hat der Vater die traurige Geschichte erzählt, erwiderte Vreneli, ihr kummervolles Gesicht hinter dem Kinde verbergend. — Als ich den Unglücksbrief da lesen hörte, fügte Georg bei, hab' ich mit Einemmale lang eingeschlafene Bilder wieder in meinem Hirn aufgehen gesehen. Als Bube war mir oft, als sei schon früher, ehe ich von meinem Pflegevater etwas gewusst, allerlei mit mir vorgegangen, aber es scheint, dass nach der Starrsucht mein Gedächtnis lange schwach geblieben, daher ich auch nicht viel gelernt. O stellt Euch unser Herzeleid vor, würdiger Herr, und dann wieder unsere Freude, dass die böse Post so schnell und nicht erst spät gekommen! Wir sind unschuldige Leute, Herr! das heißt, ich bin wohl ein Sünder, wie dieses Kind besagt, aber 's Vreneli ist ein Lamm, ein Engel! — Warum aber schweigen? sprach der Geistliche mit freundlichem Vorwurf. — Das Gerede, Herr, und weil der junge Rüttimann meine Schwester ins Geschrei gebracht . . . versetzte Georg hastig. Und noch hastiger ergänzte Verena: Vor Allem, Würdigster, des Vaters Leben und Seelenheil! Hätt' er die Schreckensnachricht, dass sein Sohn und seine Tochter sich geehelicht, hingenommen, ohne zu Grund zu gehen, er, der um eines mindern Unfalls willen Hand an sich selbst gelegt? — O ihr frommen Kinder! rief der Geistliche aus, seine Tränen nicht mehr verbergend.

Da sprang die Türe auf. Wie einst an Georgs Hand, schwankte an eines Fremden Arm der alte Hagenbach in die Stube. — Mit Ungestüm und Schmerz und Freude . . . unterbrochen von heftigen Atemzügen, stöhnte er seinen Kindern entgegen: Ist's wahr, ist's wahr, was dieser Mann mir so eben erzählt hat? — Bei Gott! das ist mein Pflegevater! schrie Georg, sich in des Chirurgen Arme stürzend. — Ich kam, reuig und liebevoll, dir zu verzeihen, sagte der alte Landenberger zitternd; ohne es zu wollen, habe ich durch die Erzählung deiner Herkunft diesen Mann bis auf Mark und Bein erschüttert. Geh, tröste ihn; geh, tröste deinen Vater und sag ihm tausendmal, du seist sein Sohn, bis er's glaubt. — Mein Sohn! jubelte der alte Hagenbach an Georgs Halse; aber mit herzzerreißendem Ausdruck setzte er bei: Verena, meine Tochter, dein Weib? O Verena, geh, labe deine Mutter, denn sie hat gehört, was dieser Mann erzählte, und hat's verstanden, und sie liegt drüben wie tot in Lisis Armen!

Verena flog hinüber. Diese dein Weib? fragte der Alte weiter mit ängstlicher Spannung, der Eilenden nachdeutend. — Seine Schwester, seine liebevolle Schwester! beteuerte der Geistliche, indem er den Enkel an Hagenbachs Brust hob. Dieser Knabe ist aber Euers Sohnes, Euers braven Sohnes Kind. — Nachdem sich Hagenbach etwas vom Sturm des Entzückens erholt, sagte der edle Pfarrer zu Georg: Die Schlange der Verleumdung wird nicht ruhen. Ich werde aber sprechen, dass ich euch rein erfunden. Indessen sammelt, was ihr habt, und gehet in ein anderes Land, damit ihr Ruhe findet. Ich selbst will sorgen, dass euer Band getrennt und einem Jeden von euch die Freiheit wiedergegeben werde.

So geschah es auch. Der Pfarrer hielt Wort, die Kirche tat ihre Pflicht. Im Bernerland, im Hause Landenbergers, ließen sich die Verkannten nieder, und Hagenbach vermisste seine Heimat nicht mehr. Er lernte noch das seligste Glück kennen, das ihm blühte, in Landenbergers, des Erretters, Freundschaft, in den Armen seiner Kinder und seiner Scholastika, deren inneres Auge sich wunderbar bei der Auffindung ihres Sohnes wieder auftat und offen blieb, wenn auch ihr äußeres Auge beständig von den Schleiern der Nacht verschlossen gehalten wurde. — Doch entschädigt ja das innere warme Leben für die äußere bunte Welt. Nur seufzte die Genesene manchmal: Wie manches Unheil hätt' uns der Wirt am Arlberg erspart, wenn er uns gestanden hätte, dass ihm die kleine Leiche entwendet worden; wenn er nicht aus Angst und falschem Mitleid geschwiegen hätte! Aber sein Schweigen und Landenbergers und Georgs Schweigen hat Alles böse gemacht. Doch ist Georg ja nicht mehr vorhanden, und meinen Johann hab' ich so lieb, dass ich ihm von Herzen Alles vergebe! — Hierauf küssten und drückten Sohn und Tochter die so mild gewordene Mutter und pflegten sie nebst dem Vater als ein Paar von Kleinodien, und schworen sich's zu, niemals sich zu verehelichen und zuerst den Eltern, dann dem Kinde Johannes ihr ganzes Leben zu weihen. — Sie haben Wort gehalten.

Deutscher Novellenschatz 8

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