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Ein Sommer wie damals

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Merkwürdig war doch, dass man im wirklichen Leben, wenn man nicht gerade Polizist, Anwalt oder Richter war, gar nie mit Toten in Berührung kam. Natürlich, auch Ärzte, Totengräber und Versicherungsangestellte hatten gelegentlich mit Toten, Morden und Selbstmorden zu tun. Aber es wäre interessant zu wissen, dachte Peter Waagner, ob es in der Realität überhaupt so viele Morde gab wie in all den Krimis, die auf der ganzen Welt gerade geschrieben wurden. Die Mordstatistik für Österreich soll im Jahr 2014 von rund 150 Morden gesprochen haben. Darunter wären zwar gelegentlich Morde gewesen, die auch einem nicht unmittelbar mit der Unterwelt in Berührung Stehenden hätten passieren können. So zum Beispiel, wenn man spät abends von einem Discobesuch mit dem Taxi nach Hause fuhr, die letzten hundert Meter zu Fuß gehen wollte, um vor dem Einschlafen noch ein wenig Luft zu schnappen, und dann aus einem vorbeifahrenden Auto ohne jeglichen Grund erschossen wurde. Abgesehen davon, dass ein solcher Mord aus Jux und Tollerei für einen Krimi nicht sehr ergiebig gewesen wäre, hätte Waagner als normales kleinbürgerliches Mitglied der österreichischen Gesellschaft, der seinen Lebensunterhalt als überzeugend fabulierender und somit recht erfolgreicher Autoverkäufer verdiente, noch so oft einen Krimi lesen können, im wahren Leben wäre er nie über eine Leiche gestolpert. Denn die würden üblicherweise und in aller Regel in alten Weinpressen, in Häckselmaschinen, in alten Schlössern und in Kanalschächten, so diese in der Nähe von Freudenhäusern situiert waren, liegen. Und solche Orte lagen im Allgemeinen nicht auf Waagners Jogging-Runden.

Warum sich Waagner in den Kopf gesetzt hatte, in seinem Urlaub, den er am Mondsee verbrachte, ausgerechnet einen Krimi zu schreiben, war ihm inzwischen schon wieder entfallen. Wollte er darin vielleicht ein Verewigungsverfahren (Robert Musil) seiner selbst gefunden haben? Mitausschlaggebend könnte naturgemäß gewesen sein, dass er – offenbar wie viele andere Österreicher auch – einem Beruf nachging, der ihn geradewegs in die Arme eines Psychiaters geführt hätte, wäre es ihm nicht um das Honorar für einen solchen, wohl sich wiederholenden Arztbesuch zu schade gewesen. Waagner war ein quartalsweise frustrierter Autoverkäufer, der zwar im Verkauf von japanischen Sportwagen sehr erfolgreich zu sein schien, darin aber nur wenig Genugtuung fand und sich stets die Frage stellte, weshalb er überhaupt Germanistik studiert hatte. Nicht nur, dass dieses Studium auf eine mehr oder weniger brotlose Zukunft ausgerichtet war, falls man nicht den Fehler begangen haben würde, in irgendeinem Schulgebäude den Schülern zum Fraße vorgeworfen zu werden, sondern es schien ihm überdies seit den ersten Tagen an der Universität die unbeschwerte Lektüre von Literatur verleidet zu haben. Waagner konnte keine Seite eines Buches lesen, ohne Satzgefüge und Stil, Entstehungsgeschichte und Semantik, Rechtschreibung und Grammatik zu analysieren und ohne sich stets zu fragen, ob es sich beim jeweiligen Schriftsteller um ein Genie, einen Handwerker oder gar einen Psychopathen gehandelt hatte. Zu Beginn seiner Berufslaufbahn war ihm der Verkauf von Gebrauchtwagen als reinste Katharsis nach den geistig intensiven Tagen an der Universität und den durchzechten Nächten in den Studentenlokalen der Bundeshauptstadt erschienen. Der ihm wie ein Geschenk in den Schoß fallende Erfolg bei den Autoliebhabern ließ ihn anfangs für kurze Zeit vergessen, dass er sich sein akademisch ausgebildetes Leben anders vorgestellt hatte. Das irrwitzige Ausmaß seiner mit jedem Verkauf steigenden Provisionen, der Wechsel vom Gebrauchtwagen- in den Neuwagenbereich, der Übertritt von der italienischen defektanfälligen Modellpalette zur qualitativen japanischen Spitze und schließlich zur Verkaufsleitung hatten viele Jahre darüber hinweggetäuscht, dass Waagner sein Leben gleichermaßen vollständig verpfuscht hatte. Auch er war dem schnöden Mammon erlegen, fuhr schauerlich-prachtvolle japanische Luxusgefährte, lebte in einer respektablen Eigentumswohnung und leistete sich eine liebreizende Frau und zwei Kinder. Der Schein war perfekt, würde man gesagt haben, unter der Oberfläche hatte es seit einiger Zeit jedoch zu brodeln begonnen.

So überraschend mag der Wunsch, einen Krimi zu schreiben, dann wohl doch nicht gewesen sein. Hätte er Betriebswirtschaftslehre studiert, wäre ihm vielleicht die Idee gekommen, nach den abstoßend-prickelnden Grenzerfahrungen der Finanzkrise seinen Job überhaupt sein zu lassen und in das Investment Banking zu wechseln. Und hätte er sein Geld als Arzt in einem AKH verdient, wäre jetzt sicherlich der Zeitpunkt gekommen gewesen, um in Afrika oder im Regenwald Brasiliens Arzt ohne Grenzen und Verantwortung zu spielen. Aufgrund seiner germanistischen und teils auch germanischen Herkunft blieb ihm aber nichts anderes übrig, als seine blödsinnige und abgeschmackte Idee eines Buches während seiner Urlaubswochen in die Tat umzusetzen. Dabei war zu berücksichtigen, dass er sich dem Thema „Buch“ nicht zum ersten Mal anzunähern gedachte. Zuvor hatte er sich, wie er sich nachträglich einzugestehen hatte, bereits einmal in einem Anfall völliger Verzweiflung über sein automobilabhängiges Dasein an der Paraphrasierung einer kurzen Geschichte Joseph Roths versucht. Dass ihm diese sehr gut gelungen sei, hatte er sich während des Schreibens und kurz danach stets einzureden versucht. Er hatte in diesem Zusammenhang sogar kurzfristig daran gedacht, eine neue Kategorisierung von Büchern in den literarischen Kunstbetrieb einzuführen, etwas, das für Waagner als typisch bezeichnet werden konnte. Er war vom literarischen Kunstbetrieb so weit entfernt wie Österreichs Fußballnationalmannschaft vom Gewinnen der Weltmeisterschaft und dachte bereits an den möglicherweise zu führenden öffentlichen Diskurs über seine noch zu schreibenden Bücher und seine eigenen Beiträge hierzu!

Waagner stellte sich vor, zum Beispiel im Rahmen der Präsentation seines Buches auf der Frankfurter Buchmesse über die verschiedenen Funktionsbücher referieren zu wollen: Dabei würde er Gebrauchsanweisungen als Algebra-Bücher bezeichnen. Juristische Gebrauchstexte, wie zum Beispiel Vertragsauslegungen, wären demnach Geometrie-Bücher gewesen. Vektor-Bücher könnten laut Waagner solche Bücher sein, die von ihren Urhebern nur deshalb geschrieben werden, um damit Geld zu verdienen. Wollte man mit einem Buch unmittelbar das eigene und das Leben nahestehender Personen zu beeinflussen versuchen, so würde Waagner ein solches Buch als Integral-Buch bezeichnen. Und schließlich gab es noch die Differential-Bücher, mit deren Hilfe Autoren persönliche Ereignisse, Verluste und sonstige Tragödien zu verarbeiten und damit zu überwinden trachteten. Als Integral-Buch würde Waagner, hätte er außerhalb des Genfer und des Pariser Autosalons je hierzu die Gelegenheit gehabt, eben seine Paraphrase auf Joseph Roths Legende vom heiligen Trinker sehen wollen. Bei Waagner hieß die Geschichte übrigens Die Legende vom einfältigen Ehebrecher. Als Integral-Buch hätte sie ihm Mittel dazu sein sollen, bestimmte Personen seiner näheren Umgebung im Sinne dieses Buches zu beeinflussen. Der „Erfolg“ war überwältigend gewesen: Marla Tannhäuser, eine von Waagner in Jugendtagen sehr verehrte Studienkollegin, die inzwischen zur angesehenen Literaturkritikerin avanciert war, hatte neben vier Verlagen als Einzige das Buch zu lesen bekommen und verriss es – leider nicht öffentlich – in den höchsten Tönen. Von den Verlagen, die Waagner mit seinem Manuskript belästigt hatte, schrieben ihm zwei einen ingrimmigen Serienablehnungsbrief, einer bedankte sich für die „interessante Geschichte vom einfältigen EINBRECHER“, ein weiterer blieb stumm und die restlichen hundert von ihm nicht kontaktierten Verlage konnten ihr Glück nicht fassen, nichts davon zu wissen, dass sie sich das Porto für das Ablehnungsschreiben erspart hatten. Die Niedergeschlagenheit Waagners ob dieses erstklassigen Nichterfolges seines literarischen Erstlings machte sich gegenüber der Enttäuschung über die Erkenntnis, dass die besten Literaturkritiker den wahren Gehalt eines Buches nicht erkannten, nur minimal aus. Dass er das Buch für Marla Tannhäuser geschrieben hatte, um mit ihr wieder in Kontakt zu kommen, war von dieser mit höchster Ignoranz gewürdigt worden.

Wahrscheinlich war dies auch der Grund, weshalb sich Waagner bei seinem zweiten literarischen Versuch nun in ein Vektor-Buch zu stürzen beabsichtigte, wohlwissend, dass die Chance, damit wirklich Geld zu verdienen, grenzwertig gegen Null ging. Dass er dabei gleich zu Beginn mit den wesentlichen Problemen der Kriminalliteratur konfrontiert war, schien seine diesjährige Sommerurlaubslaune nicht gerade zu fördern. Denn zuerst musste er sich naturgemäß über die Personen seines Krimis klar werden. Es mussten zumindest so viele sein, dass ungefähr fünf bis sieben als potentielle Mörder in Frage kamen. Das war gar nicht so einfach, denn bei so vielen Verdächtigen musste er sich auch ebenso viele Motive aus den Fingern saugen. An klingenden Namen für seine Verdächtigen fehlte es Waagner nicht: Alexis Bubat, ein vom Schicksal stark gebeutelter Installateurgeselle, Laetitia Huncar, eine Zigeunerin mit sieben Kindern, Walter Yvtoncic und David Smeralnov, zwei Freunde von Bubat, ein namenloser Schotte und Josef Kella, der ehemalige Marketingleiter eines Autohauses, der inzwischen einer Werbeagentur vorstand. Zu viele Personen durften es wiederum auch nicht sein, denn sonst wären seine Leser, von deren intellektuellen Fähigkeiten Waagner noch keine genaue Vorstellung hatte, zu schnell überfordert. Durch eine nur bedingt repräsentative Umfrage unter drei Bekannten hatte er in Erfahrung bringen können, was für einen erfolgreichen Krimi ausschlaggebend war: Ein nicht zu komplizierter Aufbau der Geschichte und eine große, leicht lesbare Schrift. Ob er das erste Erfolgskriterium berücksichtigen wollte, erschien ihm eher unwahrscheinlich. Auf das Erscheinen seines Krimis in Großdruck würde er aber größten Wert in den Verhandlungen mit den Verlagen legen, die sich angesichts der unschlagbaren Werbebotschaft Der erste Krimi des letzten Autoverkäufers“ eines hemmungslos großartigen wirtschaftlichen Erfolges sicher sein durften.

Neben den Mordverdächtigen wollte Waagner auch eine gewisse Mindestanzahl von pompös konstruierten Statisten in das Geschehen einführen. Diese sollten nicht, wie er dies in seiner Legende vom einfältigen Ehebrecher angeblich getan hatte, blutleere, von Stereotypen und Klischees triefende Personen sein, die ohne Sinn und Herkunft lieblos in die Landschaft gestellt wurden. Kellner, die eine Geschlechtsumwandlung beabsichtigten, oder Weinbauern, die nur im Weinkeltern ihre Erfüllung sahen, schieden damit als Staffage für seinen Sherlock-Holmes-Fall aus. Auch sich nur über ihren roten Lippenstift und ihren herzbetörenden Duft definierende Frauengestalten waren demnach verpönt. Waagner rang innerlich mit sich, ob es eine gute Idee sein würde, das Personal seines Krimis dem wahren Leben zu entlehnen. In den Sinn waren ihm unter anderen gekommen: Seine Freunde Hardy Leiter und Robert Wullner, der Rechtsanwalt Dr. Oberfettinger sowie eine gewisse Adelheid Ripkö, die auch die wandelnde Hausmeisterin genannt werden konnte. Schließlich spielte er auch mit dem Gedanken, Marla Tannhäuser ein Denkmal zu setzen, als kleine Revanche für ihre Unwilligkeit oder Unfähigkeit, die wahre Botschaft seiner Legende vom einfältigen Ehebrecher zu entschlüsseln. Der Rückgriff auf die Wirklichkeit hatte aber naturgemäß den Nachteil, dass man seinem Werk nicht den stumpfsinnig-grandiosen Satz voranstellen konnte: „Alle Personen dieses Buches sind frei erfunden und allfällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig, wenn auch nicht unbeabsichtigt.“Außerdem wäre bei einem gewissen Minimalerfolg des Krimis auch nicht auszuschließen, mit dem Bernhard-Syndrom in Berührung zu kommen: Darin geübte Juristen würden es sich gegebenenfalls verbieten, in Papierform unter die Menschen gebracht zu werden, und deshalb einen Auslieferungsstopp der druckfrischen Bücher einstweilig verfügen lassen.

Als Hauptakteur schwebte Waagner in erster Linie sein Alter Ego vor. Der Held oder Antiheld würde ein zwar glücklicher, aber nicht zufriedener Autoverkäufer sein. Während Pessoas Hilfsbuchhalter Soares das Leben als einzige Überdrüssigkeit beschrieben und Musils Mann ohne Eigenschaften wohl einen Teil des leeren Lebens einer gewissen Leere des Zeitalters, in dem er lebte, zugeschrieben haben, würde Waagners Held bloß latent verzweifelt sein. Es würde ihm an dichterischem Talent mangeln, um die Sinnlosigkeit und Widerwärtigkeit des Lebens in jener unnachahmlichen Art des Herrn Soares auszudrücken, und er wäre weit von Ulrichs intellektuellen Fähigkeiten entfernt, um sich über die Philosophien dieser Welt entsprechend adäquate Gedanken zu machen. Es könnte ihm aber auch nur schlicht der Wille fehlen, sein Gehirn anzustrengen. Und dennoch könnte sich der Held des Krimis, so wie sein geistiger Vater Waagner, in den Kopf gesetzt haben, ein Buch zu schreiben, ein Buch über die Liebe oder den Tod? Oder beides? Oder gar einen Krimi? Der Gedanke an das Schreiben eines Buches im Rahmen eines Buches, das von jemandem geschrieben wurde, der über das Bücherschreiben schreibt, reizte Waagner und schien ihm trefflich geeignet, einen Großteil der normalen Krimianhängerschaft zu verwirren oder gar abzustoßen und damit sein Ziel, ein Vektor-Buch zu schreiben, von vornherein scheitern zu lassen.

Unschlüssig war Waagner noch darüber, ob sein ermittelnder Polizist dem Helden ebenbürtig sein würde und ob sich die wesentlichen Handlungsstränge um seinen Helden oder um Inspektor K. ranken sollten. Wäre es eine Idee, die von seinem imaginären Publikum mit Beifall bedacht würde, wenn Inspektor K. bloß durch Zufall zur Polizei gekommen und aufgrund seines Jusstudiums alle Basisstationen der Polizeiausbildung übersprungen haben und nun seinen ersten Mordfall gleichsam als sogenannten Einführungsfall an der Seite des sein Büro nicht verlassenden Kommissars Maigret leiten würde? Oder gefiele es dem Leser besser, wenn Inspektor K. so dünn war, dass er sich im Schatten der Verkehrstafelstangen vor der sengenden Kleinstadtsonne verstecken können würde?

Tödliches Nickerchen am Mondsee

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