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Lose Enden

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Unwillig sah er von seinem Buch auf. Der leise Rufton hatte Schulte aus tiefer Versunkenheit in die Autobiografie Eric Kandels aufgeschreckt, des Hirnforschers, dem es gelungen ist, persönlich Erlebtes und wissenschaftlich Exploriertes in fesselnder Synthese zusammenzuführen. Die helle, muntere Stimme auf dem Anrufbeantworter schien noch jung: Friederike Freitag hier. Hallo, Herr Schulte. Ich würde gern einmal privat mit Ihnen reden. Meine Mutter hat Sie gekannt. Könnten Sie mich bitte zurückrufen? Meine Telefonnummer ist: … (Eine Ziffernfolge mit Vorwahl für Frankfurt am Main, 069, folgte). Danke. Eigentlich eine ganz schöne Alliteration, dachte Schulte. Friederike Freitag - die Eltern mussten sich etwas dabei gedacht haben. Bestimmt Lehrer oder so. In einer privaten Angelegenheit wollte die Person etwas von ihm? Also keine Studentin. Auch schien es nicht um einen Vortrag, eine Expertise oder so zu gehen. Natürlich fiel ihm Regina Freytag ein, Lehrerin an einem Gymnasium irgendwo im Taunus, Französisch und Geschichte oder so. Sollte die eine Tochter haben? Nein, als er sie kannte, war sie auf jeden Fall kinderlos gewesen. Schon Mitte Vierzig, aus Überzeugung ungebunden, ein Single schlechthin. Regina und eine Tochter? Nein.

Hatte Schulte eben noch versucht, sich kognitionsneurologische Zusammenhänge wenigstens ansatzweise zu vergegenwärtigen, was ihm, dem Gesellschaftswissenschaftler, trotz der unterhaltsamen Lektüre nicht unbedingt so flüssig gelang, wie er sich das vorgestellt hatte, schweiften seine Gedanken jetzt ab. Weg von der Meeresschnecke - Aplysia - mit den schlichten Hirnstrukturen, die Kandel auf die Spur des Gedächtnisses gebracht hatte. Beim Stichwort ‘Regina‘ ging es auch darum, was sein Langzeitgedächtnis hergab und ob er überhaupt Lust hatte, sich auf ein Stück Erinnerungsreise zu begeben. Aber warum eigentlich nicht? Die Frau war damals okay gewesen. Widerstandslos ließ Schulte die elektromagnetischen Reizströme zu, die durch seinen Cortex schnellten, Reginas Spuren aufnehmend. In tiefen Furchen versenkte uralte Bilder und Bildfragmente wurden angetippt, massenweise mitgerissen - wenngleich viele auch steckenblieben - und zu einem neuen Gefüge zusammengewürfelt. Schultes Vorstellung von ihr war mit den Jahren natürlich verblasst, aber nicht verschwunden; nun nahm sie - wie durch das Autofokus-System einer Kamera - deutlicher werdende Konturen an. Vergessene Details traten zutage: ein Trödelladen zum Beispiel, in dem sie um eine alte Porzellanpuppe feilschte, ihre Silhouette in der Abenddämmerung, ihr trauriger Blick aus dem Taxi, das sie zum Flughafen brachte. Zwar hatte er die Begebenheit mit Regina seinerzeit schnell abgehakt, aber ab und zu waren Erinnerungsspuren aufgeblinkt - bei Reisen durch die Rhein-Main-Gegend, beim Thema ‘Kanarische Inseln‘ in irgendwelchen Medien, immer wenn er irgendwo hessische Mundart aufschnappte, besonders aber bei der Begegnung mit einem bestimmten Frauentyp: selbstsicher, beredt, schlagfertig, anspruchsvoll, etwas streng, mitunter schroff. Kann gut sein, dass der eine oder andere Mitmensch fand, dass die Freytag ‘Haare auf den Zähnen‘ hat. Leute dieser Art schreckten Schulte aber kaum ab. Er war kühl und distanziert genug, sich davon nicht provoziert zu fühlen; zudem konnte er sich ganz gut anpassen und eine akzeptierende Haltung auch gegenüber schwierigen Zeitgenossen aufbringen. So waren Regina und er sich Weihnachten 1984 auf Gran Canaria für ein paar Tage nahegekommen, ohne dass die Zweisamkeit sich danach weiter unter kruden Alltagsbedingungen hätte behaupten müssen - so, wie es ihm damals gerade mit Cordula erging.

Für die freien Tage an der Uni von Weihnachten bis Neujahr hatte er sich aus Hamburg abgesetzt, weg von Cordula, der Frau, mit der er zusammenlebte. Sein schon länger gehegter Verdacht, sie könnte dem Oberarzt in der kardiologischen Abteilung der Klinik, in der sie als Stationsärztin arbeitete, mehr als nur freundschaftlich-kollegial zugetan sein, hatte sich bestätigt. Ein verheirateter Mann mit drei kleinen Kindern. Mein Gott, wo nahm der die Zeit für eine Affäre her? Und Cordula? Wie konnte die noch Luft für so etwas haben? Na ja, es gab Fortbildungen, Kongresse, ausgedehnte Dienstbesprechungen und so. Nun, die Beziehung sah jedenfalls stark nach Niedergang aus, so wie es sich im Übrigen auch schon länger angedeutet hatte. Schulte brauchte Abstand und hatte keinen Sinn für weihnachtliche Szenarien, womöglich im Verein mit Cordula. Kurzfristig buchte er einen Flug von Hamburg nach Las Palmas de Gran Canaria, 23.12.1984, 07:25 Uhr, und ein Apartment in Maspalomas. Das war, zugegeben, nicht einfallsreich und nicht aufregend, aber er wollte weg, ganz weit weg. Zeit und planerische Energie, sich ein exotischeres, vor allem weniger frequentiertes Ziel vorzunehmen, hatte er nicht. Jedenfalls nicht in dieser trüben Stimmungsphase. Aber für die vier, fünf Halbmarathons im Jahr, an denen er regelmäßig teilnahm, würde er sicherlich gut trainieren können. Womöglich fand sich in irgendeiner Urbanisation sogar eine Truppe von Basketballspielern, denen er sich andienen könnte (er gehörte zur Uni-Mannschaft). So verbrachte er den Abend des 24. Dezembers in gewolltem Alleinsein in seinem kargen Apartment - mit einem Buch von Philip Roth (‘Zuckermans Befreiung‘ … liest sich ganz locker … es geht um Turbulenzen im plötzlichen Erfolgskurs des Protagonisten, der wohl Roths Alter Ego ist), einer Flasche Rotwein, einer Dose Ölsardinen und einer Packung Toastbrot. Kann sein, dass er sogar ein Restaurant gefunden hätte, in dem Lokalkolorit und obendrein weihnachtliches Ambiente geboten wurde, aber als Einzelperson fühlte sich Schulte in Lokalen meist unwohl. Man musste jederzeit vor unvermittelt aufgenötigten Kontakten auf der Hut sein; lieber vermied er von vornherein solche Situationen.

Ein dezenter Summton ließ ihn aufschrecken. Wer konnte um diese Zeit etwas von ihm wollen? Jemand von der Hausverwaltung. Vielleicht, um irgendwelche Funktionen zu kontrollieren. Oder es gehörte zum Konzept zu fragen, ob alles okay ist, und - wegen Weihnachten - die Urlauber mit einem kleinen Präsent zu erfreuen. Hoffentlich stand da nicht ein als Papá Noël verkleideter Typ vom Service. Oder die Weisen aus dem Morgenland - aber nein, die kamen hier bestimmt auch erst an Dreikönig. Vor seinem inneren Auge raste - wie bei einer hastig durchgeklickten Dia-Schau - eine schnelle Bildfolge vorbei: Posaunenchor fängt an zu schmettern, sobald die Tür aufgeht … religiöser Eiferer verkündet Botschaft … Mönch sammelt Spenden … Obdachloser bittet um Almosen … Kurier mit Geschenkpaket steht vor falscher Tür … jemand will eigentlich woanders hin … fliegender Händler bietet aus Plastiktüte Schnäppchen feil … urlaubende Hausfrau sucht Gewürze oder Ketchup fürs Festessen … Escort-Service akquiriert Alleinreisende als Kunden … Ganoven testen, ob jemand da ist oder nicht. - Verdammt, seine Sicherheit war bedroht! Kam man am Empfang denn einfach so vorbei? Erneut der Summton. Zweimal. Wollte ein Bote ein Telegramm zustellen, das ihn wegen eines Todesfalles nach Deutschland zurückrief? War etwas mit Cordula? Mit seinen Eltern? Schulte musste wohl nachsehen.

Sein Blick fiel auf ein weißes rohrartiges Gebilde - ein angewinkelter Arm, von der Mitte des Oberarmes bis zum Handgelenk von Gips ummantelt und von einem schwarzen Dreieckstuch gehalten -, folgte der Schlinge aufwärts, wo diese in einem beigefarbenen, sich locker um eine Halspartie windenden Hermès-Seidenschal verschwand. Vor der Tür stand eine Frau, die langen, fast schwarzen Haaren straff zum Pferdeschwanz zurückgesteckt. Vielleicht zwanzig Zentimeter kleiner als er, also so um die 1,75 Meter. Eine elegante Erscheinung in lässig geschnittenem rohseidenem Hosenanzug. Er registrierte eine weiche, reife Figur - ausgewogen proportioniert mit sanft gerundeten Hüften und betonter Oberweite, der Grundtyp - die Sanduhrform - ansatzweise definiert. Die Gesichtshaut hatte nicht mehr die samtene Straffheit der Schale eines frisch geernteten Pfirsichs, wohl aber die zarte Ledrigkeit der sich fast unmerklich kräuselnden Pelle eines schon länger gelagerten Apfels. Stahlblaue Augen über ausgeprägten Wangenknochen fixierten ihn streng. Der Mund war blass, schmallippig, etwas herb wirkend. Von dort war eine dunkle, volltönende Stimme zu vernehmen, mit der das Anliegen der Frau vorgetragen wurde: ¡Perdona! ¡Señor, buenas noches! Tengo un problema con … äh … do you speak English? Oder kann ich deutsch mit Ihne‘ rede‘ … ja? Ah, gut … also, entschuldigen S‘ die Störung … ich hätt‘ da mal 'n technisches Problem … natürlich is‘ an de‘ Rezeption niemand … na ja, Heiligabend halt … und wissen S‘, ich komm nich‘ in mei‘ Apartment … war gerad‘ spaziere‘ … wohn’ gleich da nebe‘an … der Schlüssel hier … tut sich im Schloss einfach nich‘ drehe‘, dem vermaledeite‘ … und schauen S‘ … mei‘ Handicap … kann momentan einfach nur einhändig agiere‘ … zu allem Überfluss auch noch mit de‘ linke‘ Hand … Unfall … wissen S‘ … Unterarmbruch … Sturz bei Glatteis … ja, wären S‘ denn vielleicht ei‘mal so lieb, es kurz zu probiere‘? … wenn’s denn nich‘ gehe‘ will, helfe‘ S‘ mir halt einfach über ‘n Balkon … also von dem Ihrige‘ aus … in mei‘ Apartment … ja? … hab‘ die Tür … glaub‘ ich … hoff‘ ich … nur ang‘lehnt. Schulte gab sich hilfsbereit. Na klar, versuch ich ‘s doch gleich mal. Mit Hilfe eines rauen Geschirrtuches, das er um den ergonomisch ungünstigen, viel zu kleinen Schlüsselkopf legte, hatte er Erfolg - die Tür sprang auf. Er kippte etwas Olivenöl auf den Schlüsselbart und wiederholte den Vorgang mehrmals, damit sich der Widerstand im Schließzylinder noch etwas lockerte. Problem gelöst. Die Frau reichte ihm ihre Linke: ¡Muy bien! ¡Muchas gracias! Wunderbar geschickt sind S‘, der Herr Landsmann - aus dem hohe‘ Norde‘ wie man höre‘ tut -, und äußerst effizient haben S‘ mir g‘holfe‘! Übrigens: Freytag, heiß’ ich, Regina, - Freytag mit 'e-y', komm‘ aus der Frankfurte‘ Gegend. Nachdem Schulte auch gesagt hatte, wer er sei und woher er käme, wünschte er Frau Freytag einen harmonischen Abend und weil sich das vielleicht etwas zu profan anhören mochte - besonders für den Fall, dass die Freytag fromm wäre -, ergänzte er noch: gesegnete Stille Nacht auch! Ein kurzes Nicken ihrerseits - mit einem knappen ¡Feliz Navidad! zog sie die Tür hinter sich zu. Typisch Lehrerin, Freytag mit 'e-y', dachte Schulte, … könnte mir vorstellen, dass die ‘n ziemlicher Drache ist … und wie die mit ihren paar spanischen Brocken weltmännisch rüberzukommen versucht … irgendwie 'ne dämliche bildungsbürgerliche Attitüde … oh, nein, weltmännisch? … geht gar nicht … bar jeder Political Correctness … aber wie sagt man das bei Frauen? … weltweibisch? … dann lieber gleich weltläufig … wie die wohl den Abend verbringt? Korrigiert bestimmt Klassenarbeiten oder so. Das tat jetzt auch Schulte, der im Handgepäck einen Stapel studentischer Klausuren mitgebracht hatte.

Am nächsten Tag, ziellos und unkonzentriert auf der Flaniermeile entlang des Strandes schlendernd, hörte er plötzlich seinen Namen: ¡Hola, Señor Schulte! War er gemeint? Ein anderer Schulte vielleicht (allzu selten war der Name ja nicht). Eine weibliche Stimme. Suchend sah er sich um, - die Freytag winkte von ihrem Platz in einem überfüllten Straßencafé, die Augen mit einer großen Ray-Ban-Sonnenbrille bedeckt, dem Modell Wayfarer mit der breitrandigen schwarzen Kunststofffassung. Heute trug sie ein leichtes roséfarbenes Leinenkleid. Um den Hals war diesmal ein roter Hermès-Seidenschal gelegt, der krass mit dem weißen Gipsarm kontrastierte, sodass man im ersten Moment an Blut dachte. Buenos dias. ¿Qué tal? rief sie ihm entgegen. Nun, das konnte er auch: Todo bien, gracias. ¿Cómo está usted? antwortete er nähertretend. ¡De acuerdo! Alles klar. Sie bot ihm einen Platz an ihrem Tisch an, kommen S‘, Señor Schulte, ich lad‘ Sie zu einem Carajillo ein … kennen S‘ den … nein? Espresso mit Brandy, abe‘ die serviere‘ ihn hier auch mit Whisky oder Anislikör, wie Sie wolle‘, und - das ist das Tolle - ganz auf die authentische Art, also mit dem karamellisierte‘ Zucker. Nun, nachdem der gegenseitigen Demonstration von Weltläufigkeit und fremdsprachlicher Kompetenz Genüge getan war, gleichzeitig Kommunikation auf Augenhöhe möglich erschien, entwickelte sich ein angeregter, jetzt weniger gekünstelter persönlicher Austausch. Schulte erfuhr, dass Frau Freytag, also Regina (nach dem zweiten Carajillo waren sie zum Hamburger Sie übergegangen), Oberstudienrätin an einem Gymnasium in ihrem Heimatstädtchen war, das sie, außer zum Studium an der Frankfurter Goethe-Universität, nicht verlassen hatte. Sie bewohnte allein ihr im historischen Stadtkern gelegenes Elternhaus, einen Fachwerkbau unter Denkmalschutz. Dort hatte sie bis zu dessen Tod vor einem halben Jahr mit ihrem früh verwitweten Vater zusammengelebt. Eine Amour fou war vor sieben Jahren unspektakulär zuende gegangen; der junge Dachdeckergeselle hatte unbedingt nach Kanada auswandern wollen. Beziehungen seitdem? Absolutamente nada … nichts … alles nicht so einfach. Sie war nach Gran Canaria gereist, um der festtäglich aufgeladenen Stimmung in ihrer Umgebung zu entfliehen, das heißt ‘entfliehen’ war wohl ein etwas zu starkes Wort dafür - ’ausweichen‘ passte besser. Von Schulte erfuhr Regina, dass er Politikwissenschaftler an der Uni sei, Mittelbauer, habilitiert, Mitte 30, in fester, momentan etwas kriselnder Lebensgemeinschaft mit einer karriereorientierten gleichaltrigen Medizinerin. So schritt die Unterhaltung rege voran. Es ging um Urlaubsziele, beide waren frankophil (Schulte liebte die raue Bretagne, Regina das idyllische Loiretal), Auslandssemester (Regina Anfang der 1960er Jahre in Poitiers, Schulte in den 1970er Jahren in Strasbourg), Jazz (sie kannten sich beide etwas aus), Oper (Schulte hatte keine Ahnung) und so weiter. Regina wollte dann noch am Pool der Apartmentanlage etwas ruhen, Schulte ein wenig durch die Dünen stapfen. Für den Abend hatten sie sich verabredet, - eine Tapas-Bar sollte angesteuert werden.

Auf dem Rückweg vom Lokal machten sie Halt in der Lounge eines Hotels und platzierten sich neben einem Paar aus Kiel. Die jungen Leute schienen in gedrückter Stimmung zu sein, aber Regina schaffte es, sie mit ihrer Themenwahl ins Gespräch zu ziehen: Kritik an Architektur und Städtebau auf dem kanarischen Archipel (der Mann war Architekt und hatte gerade die Baufirma seines Vaters übernommen), zeitgenössische Kunst (die Frau hatte Kunstgeschichte, Schulte ein paar Semester Malerei studiert) und - natürlich - die spanische Küche. Die Kieler sagten es nicht unumwunden, aber zwischen den Zeilen klang an, dass sie wegen eines tragischen Ereignisses die Weihnachtszeit nicht wie gewohnt in der heimischen Umgebung verbringen wollten. Es gab nur Andeutungen: kleiner Junge … Straße … Auto.

Bei der späten Rückkehr fragte sie ihn, ob er auf dem Balkon noch ein Glas Rotwein mit ihr trinken möchte. Sie habe einen jungen, fruchtigen Tinto aus tenerifischem Anbau. Sie sprachen über verpasste Chancen im Leben: Regina bedauerte, ihre Dissertation in Romanistik aufgegeben und weitere wissenschaftliche Ambitionen zugunsten des Eintritts in den Schuldienst aufgegeben zu haben, - ein Schritt, der erfolgt war, um in den Heimatort zurückkehren zu können. Sie hatte sich in der Pflicht gesehen, ihrem Vater nach dem Tod der Mutter emotional und lebenspraktisch zur Seite zu stehen; diese Entscheidung bereute sie zwar nicht grundsätzlich, aber irgendwie waren dabei bestimmte Daseinsziele - eigene Familie, berufliche Selbstverwirklichung - auf der Strecke geblieben. Schulte trauerte seinem voreilig (?) hingeworfenen Kunststudium nach; er hatte damals das Gefühl gehabt, für ein Leben einzig für die Malerei und von der Malerei zu wenig Biss zu haben.

In einer Gesprächspause sahen sie sich über den Tisch hinweg an. Schulte legte seine Hand auf Reginas Linke. Die Fühlungnahme danach verlief nicht stürmisch (was sich allein schon durch den eingegipsten Arm verbot), sondern eher verhalten, nicht begierig, sondern neugierig, nicht rauschhaft exzessiv, sondern entspannt sinnenfroh - mit viel Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme auf beiden Seiten. Es blieb allerdings nur bei diesem einen Mal. Auch in ihren Urlaubsaktivitäten stimmten sie sich nicht ab, sondern verfolgten konsequent das eigene Programm: Schulte lief exzessiv; abseits touristischer Routen hatte er dabei ein paar einheimische Basketballkumpel gefunden. Regina lag meist lesend am Pool. Es kam nur zu zwei, drei Verabredungen, bei denen sie tagsüber etwas unternahmen: mit einem Leihwagen das gebirgige Landesinnere erkunden, durch Fischerdörfer und über Bauernmärkte schlendern, Basiliken besichtigen. Eingespielt hatten sich aber die Abende, die sie zusammen in einer Tapas-Bar oder Bodega verbrachten; letzte Station war anschließend die Hotel-Lounge, in der sie die traurigen jungen Eheleute aus Kiel vorfanden. Diesen, die sich über nichts freuen konnten, schien der Kontakt recht oder wenigstens nicht ungelegen zu sein. Vor ihren Apartments angekommen, verabschiedeten sie sich dann stets eilig voneinander - mit knappen Wünschen für eine erholsame Nachtruhe, dabei strikt jeden Körperkontakt vermeidend. Stillschweigend schienen sie darin übereinzustimmen, dass einmal = keinmal bedeutet und dass es wohl klüger ist, über das Erlebte kein Wort mehr zu verlieren - aus vielerlei Gründen. Zwar spielte gegenseitige Anziehung eine Rolle, aber es fehlte das Quäntchen Besessenheit, um nicht voneinander lassen zu können. In seiner Habilitationsschrift, Staat, Sozialräume und individuelle Netzwerke als politische Interaktions- und Konfliktfelder und subjektive Reflexivität, hatte Schulte den Bürger mit einem knäuelartigen Gebilde aus ineinander verwobenen Einzelfädchen verglichen, von denen jedes ein bestimmtes Existenzmerkmal repräsentiert. Neben den Schnüren, die so zu einer komplexen Einheit zusammengeballt sind, gibt es zahllose Stränge nach außen, an denen das Gebilde (= Individuum) hängt und die es mit der Gemeinschaft, das heißt letztlich auch mit dem Staat, verbinden - einschätzbar auf einer von ihm erarbeiteten Intensitätsskala von 1 bis 10: 1 = lose, 2 = distanziert, 3 = angenähert, 4 = locker, 5 = verstärkt, 6 = eng, 7 = stabil, 8 = intensiv, 9 = fixiert, 10 = unlösbar. Ferner baumeln aus dem Knäuel unendlich viele Bänder, deren lose Enden sich mit denen fremder Exemplare verbinden können - so wie es beispielsweise Heiligabend mit den beiden geschah. Und Schulte - er hatte einfach Angst davor, dass sich die Fäden mit den losen Enden, an denen ihrer beider Existenzen hingen und die im Kontakt kurzfristig Stufe 4 erreicht hatten, durch fortgesetzten engen Umgang miteinander allzu fest verknoten könnten, was wiederum einige Folgeprobleme aufwerfen würde. Regina wünschte sich eigentlich, dass die gerade erfahrene Nähe anhalten, womöglich noch mehr ausgelebt werden möge; aber gleichzeitig rationalisierte sie ganz stark: zu jung der Mann, anderweitig gebunden, Perspektiven fraglich, keine emotionalen Verstrickungen gewollt, politisch kontroverse Einstellungen (sie im bürgerlich-konservativen, er im linken Spektrum beheimatet). Für Schulte war die Begegnung eine zwar inspirierende, aber unaufgeregte, nicht lange nachwirkende Urlaubsfreundschaft (zunächst auf Stufe 3 zurückgefallen, nach etwa einem Jahr auf 1). Die junge Frau aus Kiel hatte einmal geäußert, wie sehr ihr die starke innere Verbundenheit und reife Abgeklärtheit bei Schulte und Regina auffalle. Sie bewundere die ruhevolle Harmonie, die von ihnen als Paar ausgehe. Regina und Schulte hatten diese Beschreibung lächelnd hingenommen. Warum die Leute enttäuschen? Warum ihnen erklären, dass es nicht genug Schnittmengen zwischen ihnen gab, um dauerhaft Nähe zu schaffen (etwa wie auf Stufe 6, 7 oder 8)?

Nach dem Urlaub schickte Regina ihm noch ein paar Fotos und er rief sie an, um sich dafür zu bedanken. Das war ‘s dann. In den fast dreißig Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte es keine weiteren Signale gegeben. Aber jetzt war Schulte doch neugierig geworden.

Nach dem ersten Klingelton nahm sie ab. Schulte hier - Frau Freytag, Sie haben mich angerufen -, was kann ich für Sie tun - aber sagen Sie, wie geht es Ihrer Mutter? Regina war, so erfuhr er nun, vor vier Wochen 74jährig gestorben (nach längerem, voller Gelasenheit hingenommenem Krebsleiden). Sie, Friederike, sei ihre Tochter, das einzige Kind. Und Ihr Herr Vater? wollte Schulte wissen, er lebt doch hoffentlich noch? Ja, Herr Schulte, er lebt noch. Mein Vater nämlich, also mein leiblicher Vater, das … ja, das sind Sie, Herr Schulte. Diese Worte lösten bei ihm einen Moment des Stockens der Vitalfunktionen aus, gefolgt von einer Stoßwelle, die machtvoll durch seinen Körper rollte: vom Solarplexus aus zuerst in den Unterleib fallend, von dort in den Oberbauch aufsteigend und weiter in den Brustkorb hochquellend, wo sie die Atmung beengte und ihn nach Luft schnappen ließ. Unmittelbar danach konnte er befreit ausatmen, denn die Wellenfront sackte schlagartig zurück in den Unterleib, um dort sachte abzuebben. Unterdessen pulsten warme Ströme bis in seine Fuß- und Fingerspitzen, durchzogen seine Kopfhaut und brachten sie zum Kribbeln. Aber noch während der Aufruhr im Körper langsam abklang, begann schon die mentale Bearbeitung des Gehörten, dessen Wahrheitsgehalt Schulte nicht eine Sekunde lang bezweifelte: das Begreifen, sich reproduziert zu haben; Reflexionen, welche neuartigen lebensbedeutsamen Aspekte jetzt eine Rolle spielen mochten; Fragen nach möglichen Auswirkungen; Gedanken über rechtliche Konsequenzen. Vor allem aber musste er den Gefühlssturm bewältigen, der jetzt durch ihn hindurchfegte. Verschiedenartigste Affekte brachen blitzlichtartig auf, wurden durcheinandergerüttelt, kollidierten, mischten sich breiig, versiegten oder gewannen schließlich die Oberhand: Nach ein paar Sekunden des Erschreckens folgten Momente fassungslosen Staunens, in die sich Aufregung und Erwartung mischten und zu einem Bogen spannten. Dieser wurde stramm und strammer, bis er urplötzlich in Freude, Heiterkeit und Stolz auseinanderschnellte, dabei gleichzeitig Enttäuschung, Unmut, und Trauer - ja, auch Wut - aufwirbelte. Immerhin war ihm die Existenz dieses ihm biologisch doch so nahestehenden Geschöpfes so unendlich lange vorenthalten worden! Innerhalb einer Minute hatte sich das in seiner Innenwelt tobende Knäuel allerdings schon wieder entwirrt. Mit zurückgewonnener Fassung, aber in Hochspannung versetzt, hörte er dem zu, was die junge Frau nun im Telegrammstil von sich gab:

Letzte Worte Reginas waren: Grüß‘ bei Gelegenheit dein‘ Vate‘ von mir … als nicht mehr ganz junge ledige Mutter hatte sie seinerzeit für Verblüffung im kleinstädtischen Establishment gesorgt … aber unbeirrt und selbstsicher ihren Weg als Single-Mom (bei dieser Wortklanggestalt zuckte Schulte innerlich kurz zusammen) gemeistert … immer Einzelkämpferin gewesen … jedem die Zähne gezeigt … Schuldirektorin geworden … Stadträtin … langjährige Liaison mit dem Bürgermeister … französische Au-pair-Mädchen für Friederike … praktisch bilingual erzogen … Regina hatte von Schulte erzählt … so viel es eben gab … drei, vier Bücher von ihm zu Hause … Bitte Reginas, ihn nicht zu kontaktieren … anderweitige Bindungen nicht stören. Und sie, Friederike? Reiten, Fechten, Volleyball … Ökotrophologie studiert … Diplom JLU Gießen … Master of Science AgroParisTech … in der Versuchsküche eines Tiernahrungsherstellers beschäftigt … Katzenmenüs und Katzensnacks … Ambitionen auf Wissenschaftsjournalismus … (oh, das find‘ ich toll, warf Schulte ein) … Billard als Hobby … Reginas Haus vermietet … wohnhaft Frankfurt … Freund Franzose … Thierry … Co-Pilot Air France … persönliches Kennenlernen?

Schulte war von dem neuen Thema, das da so unvermittelt in sein Leben getreten war, ziemlich gefangen; er spürte die zunehmende freudige Erregung und antwortete emphatisch: Kennenlernen? Ja, klar doch, unbedingt, unverzüglich! Und teilnahmsvoll: Traurig, das mit Reginas Krankheit - schade, sie nun nicht wiedersehen zu können. Und entrüstet fortfahrend: Aber wie konnte sie mir Ihre, nein, deine Existenz vorenthalten(!) - ich hätte doch in die Geburtsurkunde gehört - schon um der Dokumentation Ihrer … äh … deiner vollständigen Identität willen … gegenüber dem Staat und so, meine ich … zum Beispiel … wäre gern irgendwie beteiligt gewesen. Und klagend endend: Bande hätten geknüpft und irgendwie aufrechterhalten werden müssen - wenn Regina zum Beispiel etwas passiert wäre - und was war mit männlichen Bezugspersonen - spielten wenigstens irgendwelche Vorbilder eine Rolle? Friederike konnte ihn beruhigen: Ja, ja doch, der eine oder andere Sporttrainer, ein wenig auch der Bürgermeister, ja, auch der. Und was sei mit ihm, Schulte, wie lebe er so? Nun ja, seit drei Jahren allein … mit Cordula damals Schluss gemacht … so zehn Jahre bei der UNO: New York, Genf, Mexiko-Stadt, Manila, Jakarta … danach Bonn: Referent in einem Bundesministerium … dann London: Berater für politische Kommunikation bei einem Lebensmittelkonzern … dann Berlin: Zwischenspiel in politischer Redaktion eines TV-Nachrichtensenders … endlich zurück an die Uni … Professur. Familie? Nein. Beziehungen? Ja, schon, aber - wie schon gesagt - seit drei Jahren allein. Einzig Forschung und Lehre bestimme momentan sein Dasein. Kinder? Nein … äh … das heißt ja … ja doch.

Der Dialog ging dann noch ein wenig weiter: zur DNA-Analyse, wenn gewünscht, sei sie bereit … und bloß nicht, dass er denke, sie wolle Geld … und wär‘ schon toll, der reputierlichen Pariser Verwandtschaft, wenn sie im Sommer heirate, wenigstens ein bisschen Familie präsentieren zu können. Schulte wehrte ab: DNA-Test? I wo, wozu denn, die Paternität sei ja völlig unstrittig. Und einer Einladung zur französischen Hochzeit werde er gegebenenfalls folgen? Nun ja, man werde sehen. Was sie denn an den Weihnachtstagen mache? Nun ja, Thierry sei bei den Eltern in Paris und ab morgen früh auf einem Flug nach La Réunion. Aha, was sie denn davon halte, wenn sie sich kurzfristig - also relativ spontan - in Frankfurt träfen, vielleicht am Zweiten Weihnachtstag? Gleich morgen, sei ja wohl zu hektisch. Okay, okay! Wenn Sie … pardon … wenn du so flexibel bist? Super! Morgen würde Schulte seine Ankunftszeit am Bahnhof durchgeben. Sie werde ihn erkennen, hatte sie gesagt, Bilder von ihm seien im Internet. Als er den Hörer weglegte, lag der Bindungsgrad zu Friederike auf der Schulte‘schen Skala, quasi unmittelbar aus dem Stand, bei 3 = angenähert; spannend die Frage, wo er am Ende seiner Reise nach Frankfurt zu platzieren wäre - 8 = intensiv?

Auf seine Mitteilung wartete Friederike vergeblich. Als sie am Vormittag des Zweiten Weihnachtstages noch kein Zeichen erhalten hatte und Schulte auch das Telefon nicht abnahm, war sie doch etwas irritiert. Sollte die neue Vaterschaft, kaum erweckt, schon wieder verflogen sein? Eigentlich ging sie bei Schulte nicht von flatterhafter Unzuverlässigkeit oder plötzlich hochgekommenem Widerstand aus. Nach allem, was sie wusste, war er ja auch nicht der unaufrichtige Typ, der zu allem Ja und Amen sagte und dann - wenn es darauf ankam - schnell das Weite suchte. Nein, irgendetwas Schwerwiegendes musste ihn zum Schweigen gebracht haben. War er aufgrund der Konfrontation mit der unbekannten Tochter, einem immerhin aufwühlenden Lebensereignis, nachträglich in Panik geraten? Hatte ihn eine emotionale Erschütterung mit Verzögerung gepackt, wodurch es zur totalen Handlungsblockade kam? Unwahrscheinlich bei diesem kontrollierten, die Situation bisher doch so souverän meisternden Individuum. Lag eine cortikale Funktionsstörung vor? Etwa in der Weise, dass Gehörtes sofort wieder vergessen wurde, quasi ein Versagen des Kurzzeitgedächtnisses, Symptom einer Demenzerkrankung? Eher abwegig, Schulte schien doch topfit. Oder hatte er sich von jemandem beeinflussen lassen? Von einem Freund oder so: Unbewiesener Quatsch, sei nicht so naiv! Lass dich nicht auf sowas ein! Die will Geld - rückwirkend Alimente für ein Vierteljahrhundert oder sowas, Erbansprüche anmelden und so! Nein, für solch ein willenloses, fremdbestimmtes Subjekt wollte sie ihn auch nicht halten. Aber was war passiert? Ein Unfall? Lag er schwer verletzt im Krankenhaus, vielleicht im Koma? Eine plötzliche Erkrankung? Niedergestreckt von einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall? Verhaftet? Geflohen? Opfer eines Verbrechens? Sich nach Alkoholabsturz mit Filmriss noch nicht wiedergefunden? Im Bann einer aufregenden Frau, die als spontaner Weihnachtsgast hereingeschneit war?

Was konnte sie tun? Der dünne Strick, den sie Schulte zugeworfen hatte, war nur das erste Bauteil einer von beiden zu konstruierenden gangbaren Seilbrücke, über die sie vielleicht näher zueinander finden könnten. Hatte er nun aber, kaum dass der Beziehungsaufbau begonnen hatte, sein Ende des Stranges schon wieder fallengelassen? Das würde ja heißen: Schulte ist ein Fehlschlag - als Mensch … als Vater sowieso. Ein Jämmerling, dem sie sich vertrauensvoll offenbart hatte? Aber wenn er tatsächlich handlungsunfähig geworden war … sich nicht erklären konnte … Hilfe benötigte? Sollte sie sich auf der Stelle ins Auto setzen und ungefähr fünf Stunden später und fünfhundert Kilometer weiter an seiner Haustür klingeln? Machbar wäre das, denn Zeit und Kräfte waren bei Friederike für den Rest des Jahres eigentlich noch nicht anderweitig gebunden und Thierry konnte erst Silvester bei ihr in Frankfurt sein. Aber würde ihr Sturmklingeln irgendeine Reaktion auslösen? Wüssten vielleicht Nachbarn etwas über seinen Verbleib? Könnte die Polizei ihr weiterhelfen? Sollte sie vielleicht von Frankfurt aus beim zuständigen Kommissariat in Hamburg um Rat fragen? Reichten die Gründe überhaupt aus, damit Ordnungskräfte einschritten? Nach einigem Hin und Her im Kopf befand Friederike, nichts zu tun. Weitere Initiativen sollten nun schon von Schulte ausgehen, um die losen Enden der bisher entfernt voneinander verlaufenen, sich nun aber hoffnungsvoll annähernden Lebenslinien zusammenzuführen. Sie würde ihm nicht hinterherlaufen.

Das neue Jahr ist ein paar Tage alt. Friederike, immer noch ohne Benachrichtigung von Schulte, ist zutiefst enttäuscht. Schon heftig, so zurückgewiesen zu werden, hatte auch Thierry gemeint. Es hält sie nicht länger. Versuche auf Schultes Festnetz und Handy - vergebens. Ihr fällt sonst nur die Uni ein. Der Lehrbetrieb ist bestimmt wieder angelaufen, in der Institutsgeschäftsstelle würde man ihr sagen können, wann, wo und wie ein Mitglied des Lehrkörpers erreichbar ist. Eine forsche, freundliche Telefonstimme - Institut für Politik, Felicitas Krusenbusch … guten Tag … was kann ich für Sie tun? - nimmt ihren Anruf entgegen: Auch guten Tag … Friederike Freytag hier … müsste dringend Herrn Schulte sprechen … können Sie mir vielleicht weiterhelfen? Stille auf Seiten der Mitarbeiterin. Hallo … hallo? Sie vernimmt ein Räuspern, dann zögerliche Worte: In welcher Angelegenheit, bitte, sie Professor Schulte zu sprechen wünsche? Ihre ohnehin schon gereizte Stimmung steigt angesichts der Zumutung, sich vor dieser fremden Frau auch noch erklären zu müssen, schlagartig an. Nun ja, stößt sie unwirsch hervor, in einer Familienangelegenheit. Ich bin seine Tochter. Die Frau saugt hörbar Luft an, schweigt sekundenlang, setzt zum Sprechen an: Oh … nein … ach … äh … so? Dann hat sie sich offenbar gefasst: Verzeihung … die Tochter? Ich wusste gar nicht, dass Herr Schulte Familie hat … entschuldigen Sie … aber wissen Sie denn nicht … wissen Sie denn nicht … ich meine, was passiert ist … passiert ist … ja, nein? Wann hatten Sie denn zuletzt Kontakt mit Herrn Schulte? Nun ja, Heiligabend halt, am Telefon. Oh nein … oh nein … Sie wissen es nicht … es tut mir so Leid … es tut mir so Leid … Professor Schulte … entschuldigen Sie … Ihr Herr Vater ist … Herr Schulte ist … t. … äh … lebt nicht mehr … ist plötzlich verstorben … oh, es ist so schrecklich … wir sind alle ganz fertig … ein Schock … wir haben ihn ja so sehr geschätzt … oh, nein … äh … verzeihen Sie … mein herzliches Beileid … ich war dabei … war dabei … wissen Sie … ja … wir haben Herrn Schulte gefunden.

Schulte sei nach der Weihnachtspause nicht in der Uni aufgetaucht und habe auch nichts von sich hören lassen. Daraufhin sei sie von der Institutsdirektorin gebeten worden, diesem Fall unerklärlichen Fernbleibens vom Arbeitsplatz nachzugehen, und zwar ganz systematisch: zunächst einmal bei der Adresse des Professors vorzusprechen … naheliegend, klar … dann Nachbarn in dem Mehrparteien-Wohnkomplex zu befragen … übrigens einem schön renovierten Gründerzeithaus … die Hausverwaltung zu kontaktieren … dann im Polizeirevier um Rat zu fragen … ferner zu versuchen, Angehörige aufzuspüren. Vor Ort sei sie dann schneller erfolgreich vorangekommen als erwartet. Eine Frau im Hochparterre habe einen Ersatzschlüssel in Verwahrung gehabt, - sie begoss ab und zu Pflanzen bei Herrn Schulte, wenn er länger abwesend war. Sie hätten dann aber vorsichtshalber doch die Polizei gerufen, die sich unverzüglich und zielstrebig der Sache angenommen habe. (Pietätvoll lässt die Institutssekretärin den Teil des Erlebnisses der beiden Frauen aus, in dem ihnen beim Hochsteigen ins Dachgeschoss ein eigentümlicher, sich immer mehr zu faulig-süßlicher Schwere verdichtender Geruch entgegengeschlagen war, der sie zum Würgen brachte und - vor der Wohnungstür angekommen - zuerst heftig erbrechen, danach fluchtartig die Treppe hinunterstolpern ließ. Erst danach hatten sie die 110 gewählt. In Einmalschutzanzügen, mit Gummihandschuhen und Atemschutz hatten Beamte die Wohnung betreten). Schulte wurde im Bad aufgefunden. Unbekleidet. Auf der Toilette zusammengesunken. Kopf auf den Knien. Tot. Wohl seit mindestens zehn Tagen. Plötzlicher Herztod? hatte die herbeigeeilte Leichenschauärztin achselzuckend gemurmelt. Die Staatsanwaltschaft habe den Leichnam beschlagnahmt, alles ganz standardmäßig in solchen Fällen, und die Obduktion angeordnet, alles ganz routinemäßig. Tags darauf habe sie - ja, sie, die Institutssekretärin - Herrn Schulte in der Rechtsmedizin identifizieren müssen, alles ganz offiziell. Aus der Familie sei ja niemand greifbar gewesen. Gut, dass nun Kontakt zu den Angehörigen bestehe. Die Uni bereite eine Gedenkfeier vor. In etwas größerem Rahmen, wie sie auf dem Flur gehört habe … also eine hochkarätige Veranstaltung … stilvoll … würdevoll. Deshalb würde sie sie gern heute noch mit der Institutsdirektorin verbinden, damit erste Abstimmungen erfolgen könnten … terminlich, inhaltlich, organisatorisch, Wünsche ihrerseits für die Gästeliste und so. Ginge das in etwa einer halben Stunde … Frau Professorin Kuhwirth müsste dann frei sein? Auch möge sie sich bitte umgehend an die Staatsanwaltschaft wenden, wo sie als nächste Angehörige Auskunft über die Todesursache und den Zeitpunkt der Freigabe der Leiche erhalten werde. Und ach ja, auch ans Ordnungsamt, das mit der Recherche nach Angehörigen befasst sei. Ob sie ihnen Termin und Ort der Beisetzung dann bitte mitteilen wolle? Oder sei ein Abschied im engsten Familienkreis vorgesehen? Ob sie denn wenigstens familiäre Unterstützung habe bei den vielen Regelungen, die sie treffen müsse? Und ach ja … gerade falle ihr das noch ein … die Institutsdirektorin habe das Problem schon als dringlich thematisiert … jemand müsse schnellstens die von Herrn Professor Schulte mit in die Privatwohnung genommenen Uni-Sachen zusammensuchen … Seminararbeiten, Klausuren, Bachelor-Theses, Master-Theses, Dissertationsschriften, Korrekturen, Begutachtungen und so … die Studenten … wissen Sie? … Prüfungsergebnisse und so. Lägen vielleicht noch ausgeliehene Bücher herum? Solle sie einen Kollegen von Professor Schulte ansprechen, ihr dabei behilflich zu sein? Oder wolle sie die Unterlagen freundlicherweise selber sichten und vorbeibringen? Auch Abholung durch einen Boten sei nach Absprache denkbar. Und ach ja … könne sie bei nächster Gelegenheit … also bald einmal … hereinschauen und die persönlichen Gegenstände aus dem Dienstzimmer ihres Herrn Vaters mitnehmen? Vielleicht können wir dann einen Kaffee zusammen trinken? Darf ich mir jetzt noch ihre Kontaktdaten notieren? Besten Dank … und verzeihen Sie, dass wir Ihnen auch noch Mühe machen … machen müssen … aber es muss ja irgendwie geordnet weitergehen … trotz alledem … Herr Schulte hätte Verständnis … war immer so korrekt … und nochmals … mein tiefes Mitgefühl… dann also in etwa einer halben Stunde … wie gesagt … Professorin Wiebke Kuhwirth … wird sich mit Ihnen kurzschließen … am Telefon.

Friederike atmet tief durch. Sie wird wohl hinfahren müssen, - sich um Dinge wie die professionelle Reinigung des Leichenfundortes, die Wohnungssanierung und die Haushaltsauflösung kümmern. Und die Bestattung? Nun ja, eine Urnenbeisetzung im Freytag’schen Familiengrab im Taunus kommt doch wohl infrage. Damit würden die sterblichen Überreste der Zeugungsgemeinschaft zusammengeführt; die Elternschaft erhielte am Ende doch noch so etwas wie eine Gestalt. Aber hat sie überhaupt Anspruch auf den Leichnam? Gibt es letztwillige Verfügungen? Und wenn nicht - wer kriegt die ganze Schulte’sche Hinterlassenschaft? Der Fiskus? Was ist mit ihr, Friederike? Wie werden außerehelich geborene Nachkommen (oder ist ’unehelich‘ besser? Oder ’illegitim‘? Sogar ’Bastard‘ war ihr auf dem Schulhof hinterhergerufen worden) erbtechnisch - oder wie das heißt - berücksichtigt, wenn die Vaterschaft gerichtlich, notariell, standesamtlich - oder wie das sonst geht - nicht bestätigt ist, sich mit einem einfachen DNA-Test jedoch unschwer belegen ließe? Aber hat sie es überhaupt nötig, sich diesen Wust an Problemen aufzuladen, der sich urplötzlich vor ihr aufgetan hat? Soll sie die Checkliste, die so unvermutet in ihr ruhiges Leben geflattert ist, nicht kurzentschlossen wegwerfen? Einfach sagen: Jaja - wohl bin ich ein leiblicher Abkömmling des Herrn Schulte, aber als solcher nicht anerkannt. Insofern geht mich das Ganze gar nichts an. Auf Wiederhören.

Am Telefon ist jetzt die Institutsdirektorin: Kuhwirth … Tag auch … allerherzlichste Anteilnahme am schweren Verlust und so weiter … schrecklich alles … Worst case! … Lehrstuhlinhaber tot … Abgang nicht geordnet … Sie sind also Ansprechpartnerin auf Seiten von Schultes Familie … äh … unseres hochverehrten Kollegen Schulte? … gut so … bin in Eile … Vorbereitung des Gedenkaktes der Fakultät … Liste mit Ihrerseits gewünschten Teilnehmern aus dem Verwandtenkreis und außeruniversitären sozialen Umfeld benötigt … welche drunter, die auch Ansprache halten möchten? … wollen exzellentes Programm zusammenzustellen … Einladungen sollen zügig raus … uns möglichst unverzüglich Rückmeldung geben … wär‘ super … und ach ja … wie ja schon mit der Geschäftsstelle … Felicit. …äh … Frau Krusenbusch … besprochen … nicht wahr? … wir kriegen schnellstens die Unterlagen aus Schultes … äh … Herrn Professor Schultes … äh … der Wohnung Ihres Herrn Vaters, ja? … die der Universität gehören, meine ich, ja? … wollen Sie sich bitte baldmöglichst der Sache annehmen, ja? … die Dinge müssen halt ihren Lauf nehmen … trotz alledem … verstehen Sie? … alles Weitere dann bitte über Felic. … äh … Frau Krusenbusch … okay? … seh‘ Sie dann wohl auf dem Festakt … super … bis dann … ciao!

Ja, sagt Friederike, selbstverständlich nehme ich mich der Sache an. Ciao!

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