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Kunstgenuss

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Die Briefsendung kam von einer bekannten Berliner Galerie. Er riss den Umschlag auf und zog eine gefalzte Briefkarte heraus, die sich als Einladung zu Vivianes Vernissage erwies. Als er die Karte aufklappte, sprang ihm ihr Bild entgegen: Das schmale, etwas längliche Gesicht mit den grünen Augen, der proportional fast zu klein geratenen Nase und dem breiten Mund mit den vollen Lippen zeigte einen freundlichen, leicht ironischen Ausdruck. Ihr Haar war schwarzbraun getönt und kurz geschnitten, aber nicht so kurz, dass nicht ein paar lockige Strähnen in die Stirn- und Wangenpartie fielen und die eigentlich harten Züge ein wenig milderten. Neben dem Foto waren Vivianes Vita und ihre Ausstellungsbiografie abgedruckt. Das Geburtsdatum war zwar nicht angegeben, aber er wusste, dass sie 62 war. Kunststudium in München, London und New York. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen. Neben der Auflistung war eines ihrer Werke abgebildet: die realistische Darstellung einer unbekleideten, mageren Greisin mit stark gebeugtem Rücken, schlaffen, schürzenartig herabhängenden Hautpartien an Brust und Bauch, dünnen, zerbrechlich wirkenden Armen und Beinen und einem faltigen Gesicht, die sich mühsam an einem Gitterbett abstützte. Die Mimik der alten Frau drückte tiefe Traurigkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aus. Zwar hatte Viviane während des Studiums eine Phase durchgemacht, in der auch sie wilde Abstraktionen produzierte, aber im Grunde war sie immer dem Realismus verpflichtet gewesen. Am liebsten arbeitete sie mit spitzen Farbstiften auf schneeweißem großformatigem Karton. Nach Abschluss des Studiums waren ihre gegenständlichen Darstellungen zunächst stark expressiv gewesen; danach hatte sie sich am Phantastischen Realismus orientiert und verstörende Träume und Halluzinationen verbildlicht, später eine eigene unverkennbare Handschrift im Magischen Realismus entwickelt und sonderbare, beängstigende Scheinwelten geschaffen. Inzwischen hatte sie einen Hyperrealismus ausgeprägt, in dem sie die Wirklichkeit in einer so drastischen Form überspitzte, dass der Betrachter durch die sichtbar gemachten Verwundungen und Schädigungen, Defizite und Leidenssituationen, von denen Menschen und Tiere betroffen sein können, aufgeschreckt und aufgerüttelt wurde. Sie entwarf schockierende Szenarien des Verfalls von Körpern und Orten, des Quälens und des Gequältwerdens von Kreaturen. Im Feuilleton hatte Hövelbrink, der Kritiker, Vivianes Schaffen einmal als schonungslosen Brillenlupenrealismus charakterisiert, in dem der Duktus von mit mikrochirurgischer Präzision gesetzten Farbstiftstrichen an Arbeitsspuren von Skalpell und Pinzette denken lasse.

Die Galerie war renommiert, die Eröffnungsrednerin prominent, der Termin passend. Unter der angegebenen E-Mailadresse der Galerie sagte er seine Teilnahme zu.

Er war Jurist, Richter in einer norddeutschen Provinzstadt. Viviane hatte er während seines Referendariats vor fünfunddreißig Jahren in Hamburg kennengelernt. Sie war damals mit einem Staatsanwalt verheiratet, dem er zu Ausbildungszwecken zugeteilt worden war und den sie einmal mit ihrer kleinen Tochter im Büro besucht hatte. Als sie sich ein paar Tage später beim Joggen auf dem Alsterwanderweg begegneten, stoppten beide abrupt und blieben voreinander stehen. Nach kurzem Small-talk, in dem es um das Wetter und bevorzugte Laufstrecken ging, kamen sie auf verbindlichere Themen wie Vivianes Malerei, die Hamburger Kunstszene, aktuelle Ausstellungen und seine Sicht auf die Gegenwartskunst (er hatte ein paar Semester Kunstgeschichte studiert). Die Vorstellung, die Frau nach diesem zufälligen Aufeinandertreffen womöglich niemals mehr wiederzusehen, betrübte ihn. Und so warf er - der eigentlich wortkarg war - immer neue Stichworte in das Gespräch ein, bis sie bemerkte, sie müsse nun unbedingt weiter, aber vielleicht könne man den Austausch ja bald fortsetzen. Sie verabredeten sich für den nächsten Abend auf eine Peperonata beim neuen Italiener in Eppendorf. Vivianes Mann war auf einer Fortbildung, ihre Tochter in der Obhut des französischen Au-pair-Mädchens. Drei Stunden später landeten sie in seinem Apartment; im Zusammensein hatte sich schnell abgezeichnet, dass der soeben gewonnene neue Kontakt auch die enge körperliche Fühlungnahme einschließen würde. Von diesem Abend an trafen sie sich in der Woche mehrmals; das konnte - in Abhängigkeit von Vivianes Möglichkeiten - spätnachmittags oder abends sein. Neben der Tatsache, dass Viviane mit seinem Ausbilder verheiratet war, bestand ein weiteres Problem darin, dass er in einer festen Beziehung mit Mareike lebte. Seitdem er die Stelle als Referendar hatte, reiste er von Freitagnachmittag bis Montagmorgen nach Hannover, um das Wochenende mit ihr zu verbringen.

Durch den Wechsel zwischen seinen Welten in Hamburg und Hannover fühlte er sich beflügelt. Mit Viviane, die damals 31 war und damit nur ein Jahr jünger als er, verbanden ihn die Begeisterung für Kunst, Architektur, Design und ähnliche intellektuelle Ansprüche. Da er selber zurückhaltend, fast schüchtern war, bewunderte er ihre Forschheit, ihren Elan und ihre Spontaneität. Sie führten anregende Gespräche, in denen sie sich über ihre Beobachtungen und Erfahrungen im Alltag und im Beruf austauschten und die aktuellen Geschehnisse in der Welt kommentierten. Vivianes Faible für Antiquitäten, Psychoanalyse, Philosophie und Yoga steckten ihn an. Im Zusammensein mit anderen Menschen zog sie die Aufmerksamkeit auf sich: durch ihre große, schlanke Gestalt, ihre lebhafte Mimik, ihre Kleidung, in der sie Eleganz und Lässigkeit gekonnt vereinte, ihr souveränes Auftreten, ihre Redegewandtheit und Dominanz in Gesprächen. Ihn beeindruckte ihre häusliche Umgebung, - die minimalistisch eingerichtete, großräumige Jugendstilvilla in bester Lage, das lichtdurchflutete Atelierhaus im Park zeugten von Wohlstand (Viviane war durch Erbschaft stille Teilhaberin an einer Sanitärgroßhandlung und verfügte über beträchtliche finanzielle Ressourcen). Erste Ausstellungserfolge sowie Museums- und Privatankäufe zeichneten sich ab.

Mareike - mit 23 - war noch unsicher, wenig selbstbewusst, mehr an sozialen als an kulturellen Themen interessiert. Er hatte mit ihr Gemeinsamkeiten im Sport - beide spielten leidenschaftlich gern Tennis, surften und liefen Ski. Sie hatte eine zierliche, gazellenhafte Figur. Wegen der etwas zu starken Nase mit dem sanft gebogenen Rücken konnte sie nicht als hübsch im landläufigen Sinne verstanden werden, bei dem Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge vorausgesetzt wird. Aber mit ihren dunkelbraunen, ausdrucksvollen Augen, den hohen Wangenknochen, dem kräftigen Mund und den naturschwarzen, schulterlangen Haaren verkörperte sie einen Frauentyp, der gemeinhin als apart bezeichnet wird. Er fand Mareike körperlich sehr anziehend, mochte die frische und unverbildete Art, mit der sie durch ihr junges Erwachsenendasein steuerte, sich dabei an ihn gehängt hatte und ihn - wie er zu spüren meinte - auch ein wenig bewunderte für das, was er besser konnte als sie, z. B. malen, schreiben, psychologisieren, politisieren. Den Pendelverkehr zwischen hier wohltuender Schlichtheit und entspannender Unbekümmertheit, dort anregender Inszenierung und beeindruckender Glanzentfaltung fand er prickelnd.

Viviane wusste von seiner Beziehung zu Mareike, die aber nichts von seiner geteilten Erlebniswelt und der Stellung ahnte, die diese Frau darin einnahm. Nach ein paar Monaten wechselte er planmäßig zur nächsten Ausbildungsstation, zum Verwaltungsgericht. Viviane beendete die Beziehung zu ihrem Mann, ohne dass dieser jemals von der Rolle erfuhr, die der unscheinbare Referendar darin gespielt hatte. Natürlich äußerte sie bald, sich das Zusammenleben mit ihm gut vorstellen zu können. Darauf ging er allerdings nicht ein; weiterhin fuhr er an den Wochenenden zu Mareike - nach Hause. Als er eine Stelle als Proberichter in Hannover erhielt und Mareike die Horrorvorstellung plagte, nach dem Abschluss ihres Vorbereitungsdienstes als Grundschullehrerin wohl nur eine Stelle auf dem Lande zugewiesen zu bekommen und sich dort allein - im Wendland, in der Heide, im Moor oder sonstwo - behaupten zu müssen, sprach sie das Thema Heirat an. Damit wäre sie immerhin ortsgebunden. Ihm war klar, dass diese Dreiecksgeschichte ein Verfallsdatum hatte, das jetzt gekommen war. Der Spagat zwischen den beiden Sphären würde seine Leichtigkeit verlieren - stets müsste er seine Hamburg-Aufenthalte durch vorgeschobene Gründe legitimieren. Wie unwürdig! Er fällte sein Urteil, die Hochzeit wurde abgemacht. Die Heftigkeit, mit der Viviane auf seine beiläufige Erwähnung des bevorstehenden Ereignisses reagierte - ihre Tränen, ihre Wut, mit der sie ihn beschimpfte - überraschte ihn dann doch. War nicht immer klar gewesen, dass seine Hamburger Zeit mit dem Zweiten Staatsexamen beendet sein würde? Hatte er je Anstalten gemacht, nach dem Hinauswurf ihres Ehemannes bei Viviane einzuziehen? Hatte er je seine Beziehung zu Mareike infrage gestellt? Egozentrisches Charakterschwein, gewissenloser Schuft, emotionaler Krüppel - diese Worte hatte sie ihm entgegengeschleudert.

Nach fünf Jahren war er von Mareike geschieden. Ihre Anhänglichkeit hatte sich bald zur Besessenheit gewandelt, mit der sie jeden seiner Schritte, die ihn aus dem Haus führten, argwöhnisch verfolgte: wohin er wolle, wen er zu welchem Zweck träfe, was er mit dieser oder jener Person zu tun habe, wieso ihm dieser oder jener Kontakt so wichtig sei, warum er immer noch eine Arbeitsbeziehung mit einer bestimmten Kollegin unterhalte und so weiter. Natürlich hatte er sich gegen die Kontrolle gewehrt - zunächst offen, protestierend, sich rechtfertigend; dann zunehmend heimlich, sich abschirmend, sein Tun verschleiernd. Irgendwann war er die Spannungen Leid gewesen.

Trotz des abrupten Beziehungsendes zwischen ihm und Viviane hatten sie dennoch seit mehr als drei Jahrzehnten lockeren Kontakt gehalten - ab und zu telefoniert, ein Treffen im Café Wirth, wenn ihn der Weg einmal nach Hamburg führte, ein kurzer Atelierbesuch. Über ihre frühere Beziehung und über ihre neuen Partnerschaften sprachen sie dabei wenig - eher über berufliche Erfolge und Neuigkeiten aus der Kunstszene.

In der Mitte der Wand gegenüber der Tür, durch die der erste der drei hintereinanderliegenden großen Ausstellungsräume betreten wurde, hing ein hochformatiges Bild, das in Lebensgröße eine Ganzfigur zeigte, einen älteren aufrecht stehenden Mann. Die Dreiviertelansicht ließ einen etwas zu runden Rücken erkennen; dadurch schob sich der Hals vor, wirkte vorne verkürzt und ließ den Kopf, das Kinn einzwängend und verdoppelnd, absacken. Mit hartem Stift hatte Viviane den Zustand der Gesichtshaut des Mannes dokumentiert: die rotgeäderte, angeraute Wangenpartie, der schrundige Nasenflügel, die braunen Pigmentflecken auf dem Nasenrücken, zwei Alterswarzen am Kinn. Der Mund bildete einen schmalen Bogen mit sich nach unten, in Kinnfalten verlierenden Winkeln. Die Augen blitzten wässrig zwischen hängenden Oberlidern und halbkreisförmig ausgedehnten Unterlidern hindurch. Eine tiefe, senkrechte Furche über der Nasenwurzel spaltete die durch einen stark zurückgewichenen Haaransatz vergrößerte Stirn. Die eingesunkene Brust hatte zwei hügelige, leicht hängende Verdickungen. Die Flanken waren wulstig nach außen gestülpt, die Leibesmitte war kissenartig aufgepolstert. Die abgeflachte Gesäßhälfte überlappte als dünner Beutel den Übergang zum Bein. Bis auf eine zu große weiße Unterhose aus feingeripptem Baumwollstoff war der Mann unbekleidet. Aus dem zerfaserten Schlitz des Schlüpfers hing welk sein bräunliches, blaugeädertes Glied heraus, das einer länglichen, auf die Haube gekippten Glocke glich. Aus der rot entzündeten Glockenkrone baumelte - wie Befestigungsbänder - der blaue Plastikschlauch eines Blasenkatheters, der sich nach ein paar Zentimetern in zwei Enden teilte und mit gelben Stöpseln verschlossen war. Die bleichen Extremitäten hatten wenig Muskelmasse, aber dichte schwarze Behaarung; an beiden Unterschenkeln traten violettfarbene, knorrige Adern hervor, die Haut dazwischen war von rotem Netzgeflecht durchsetzt. Die Füße waren platt; beide Großzehen wiesen einen überdimensionierten, stark verhornten Ballen auf und standen schief.

Ein Stau auf der Autobahn hatte ihn aufgehalten, sodass ihm die Eröffnungsrede entgangen war. Die Besucher standen in Gruppen, betrachteten und kommentierten die Bilder, unterhielten sich, nippten an Gläsern; die meisten aber drängten sich vor einem der Werke, das offenbar zum Hauptanziehungspunkt geworden war. Kerzengerade, gertenschlank, in einen eng anliegenden schwarzen Hosenanzug gekleidet, stand Viviane neben dem Bild, beantwortete Fragen, wurde gefilmt und fotografiert. Der Titel des Bildes lautet: Alter Knabe, stehend. Sie hat ihn bemerkt und winkt kurz herüber.

Die Blicke einiger Besucher streifen ihn, schweifen fort, kehren zurück, bleiben an ihm haften, mustern ihn aufmerksam. Andere stutzen, reißen die Augen auf und wenden sich ab. Ein paar jüngere Leute stecken lachend die Köpfe zusammen, schauen wiederholt zu ihm herüber. Eine Frau starrt ihn an, ihr Mund steht weit offen. Der ältere Mann an ihrer Seite lächelt ihn freundlich an, erhebt sein Glas und prostet ihm zu: zum Wohl, der Herr. Und was ist das? Ein Zucken im Augenlid des ihm unbekannten Galeriebesuchers. Hat die Person ihm etwa gerade zugezwinkert? Wieso ist der Kerl ihm gegenüber so distanzlos? Meint der ihn vielleicht gar nicht? Oder ist das einfach nur eine lockere Bekundung guter Laune?

Langsam dämmert ihm, dass er in den Mittelpunkt des Publikumsinteresses geraten ist; noch rätselt er, wodurch er diese Beachtung auf sich gezogen hat.

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