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Ach ja, die Buben – ach ja, die Mädchen

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Es ist gerade ein Woche her, da trafen sich zwei mittlerweile gesetzte Männer, die sich von früher kannten. Damals war jeder der beiden in einer gewissen Weise extravagant: der Jüngere von beiden verkehrte in Schauspielerkreisen, er war seinerzeit jedenfalls ein selbst gefühlter Bohemien und wenig an bürgerlichen Tugenden interessiert. Der andere orientierte sich musisch, geisteswissenschaftlich, dennoch entgegen dem Zeitgeist damals zukunfts- und erfolgsbemüht bürgerlich.

Reden wir nicht drum herum, nennen wir sie direkt beim Namen. Beim Jüngeren handelt es sich um den berühmten Jürgen Juvenili und beim Älteren der beiden um den weniger berühmten, aber auch recht erfolgreichen Liam Levirat.

Beide waren so unglaublich von ihren eigenen Meinungen überzeugt, dass sie erst gar nicht bereit waren, aufeinander zu hören; sie versuchten nicht einmal, ihre Äußerungen zu begründen. Man fragt sich im Nachhinein, warum sie sich überhaupt unterhalten haben? Vielleicht sprachen sie aus dem Bemühen, sich darzustellen, oder wie auch immer, oder vielleicht um in der Gesellschaft zu brillieren, denn sie konnten sich total auf den eigenen Redefluss in einer sehr hochstehenden Qualität verlassen. Was auch immer Jürgen Juvenili sagte, es entsprach seiner Meinung nach dem „Consensus Communis“ und war schon daher als breites Allgemeingut unanfechtbar, unzweifelhaft richtig und konnte keiner Kritik ausgesetzt werden. Liam Levirat setzte sogar noch eins drauf und war stets überzeugt, seine Aussagen seien sogar als „Consensus Omnium“ auf höchstem Rang, also noch eine Stufe höher als der „Consensus Communis“.

Das gesamte Gespräch wurde natürlich von einer unglaublichen Inkonsequenz der Meinungen begleitet und jeder der Beteiligten widersprach sich innerhalb eines Satzes je nach Zielführung der Gedankengänge (abhängig davon, ob sie die schmerzliche Qualität ihrer Erziehungsleistung hervorheben oder die Freude an der unkomplizierten, genialen Entwicklung der Kinder betonen wollten) gleich mehrmals. Aber dieses Phänomen der logischen Inkonsequenz tritt bei jedem pädagogischen Thema auf, insbesondere in jedem pädagogischen Spezialthema, besonders aber beim heikelsten aller Themen, die von Eltern von Jungen mit Eltern von Mädchen geführt werden: Welches von den Geschlechtern ist leichter zu handhaben in der Erziehung, Jungen oder Mädchen?

Jetzt sollte man wissen: Jürgen Juvenili hatte zwei Jungen und kein Mädchen, Liam Levirat hatte zwei Mädchen, aber keinen Jungen in seiner engeren Familie.

Es war also schon von vornherein zu erwarten, dass es im Bereich realer, persönlicher Erfahrungen des Einen keinen wirklich toleranten Erfahrungsaustausch geben konnte, aber auch nicht beim Erfahrungsschatz des anderen. Liam Levirat hatte zwar einen Jungen auf der Liste der Enkelkinder, aber dies konnte zum Gesprächszeitpunkt aus Gründen der Parität und Fairness nicht bemüht werden.

Jürgen Juvenili begann den Dialog mit vielen Themen gleichzeitig und so virtuos, als ob er nach seiner Meinung gefragt worden wäre in dem latent vorhandenen Bewusstsein, dass er bei der Erziehung seiner Söhne alles richtig gemacht habe, stolz darauf sein könne und dies unbedingt mitteilen müsse:

„ Immerhin macht er jetzt Abitur, ja, er hat gut gelernt all die Jahre, von Anfang an, auch der zweite Sprössling hat sich selbst das Lesen beigebracht. – Richtig begabt sind die, man braucht da gar nicht viel zu fordern. – Mädchen wären da viel schwieriger, zickiger, sie gehen den Weg zum Beruf nicht so zielorientiert. – Der Ältere möchte jetzt sogar Jura studieren; das habe ich ihm gehörig ausgeredet! Ein Jurist in unserer Familie! –Alles Übel in der Welt kommt von Juristen und Psychologen! Die sind alle problematisch; ich sehe das täglich, wie unbedarft die in wirtschaftlichen Dingen sind!“ Und er fügte alles zusammenfassend hinzu: „ Ich sehe das wie Napoleon: es gibt nur zwei Motive des menschlichen Handelns: Eigennutz und Furcht!“

Liam Levirat unterbrach ihn sanft, teils um eine Lanze für die Volljuristen zu brechen, teils um die Aktualität der Wertevorstellung Napoleons zu relativieren, teils um im ungebremsten Lob auch Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Jungen durchklingen zu lassen, um seinerseits seine Töchter in den Vordergrund zu spielen und um vielleicht den Goethe-Satz aus den Wahlverwandtschaften, „man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern“ bezüglich der Knaben triumphierend zu erwähnen und bezüglich der Mädchen zur angebrachten, modernen Gleichberechtigung zu korrigieren oder weiter zu entwickeln.

Er versuchte dies so:

„Ja, wenn er so gut ist, dass er ohne Mühe Jura studieren könnte, warum sollte er das nicht anstreben? – Meine Töchter haben jeweils ihr akademisches Studium schon erfolgreich abgeschlossen; Pharmazie und Lehramt, die Fächer sind ja auch nicht ohne; außerdem finde ich nicht, dass Töchter schwieriger sind, sie haben´s vielleicht schwerer, aus verschiedenen Gründen...“

Hier hielt es Jürgen Juvenili nicht länger zurück und er entgegnete betont sanft:

„Meine Jungs sind einfach sozial eingestellte, verträgliche Team-Player, die wissen, wo es lang geht, keine Probleme mit Kleidung und Mode, keine Deviationen, um bei zweifelhaften Mädchen zu landen; sie selbst bestimmen immer ihren Weg und ihre Entwicklung, im Bewusstsein, was gut für sie ist;...

Liam Levirat merkte langsam, wie seine Galle sich verhärtete, denn nun kam der Punkt im Dialog, der ihn aggressiv werden ließ:

„Ja, ja, die selbstbewussten Jungs mit punktgenauer Lebensvorstellung gehen ihren Weg im Einklang all ihrer Fähigkeiten und im Reinen mit sich selbst; - aber was ist mit den Mädchen, die ihnen auf diesem Weg begegnen?“

Und in Liam Levirat kochte seine ganze Lebenserfahrung hoch. Wie oft musste er mit größtem Bedauern miterleben, wie seine Töchter die unterschiedlichsten Ausprägungen von Männern kennengelernt haben, wie sie ihr reines, blütenweißes Wesen jeweils den unmöglichsten jungen Männern so angepasst haben, dass weder ihre hochstehenden Charaktermerkmale, noch ihr herausragender Intellekt, noch ihre vorbildliche Erziehung erkennbar blieben? Wo blieben vor allem die anerzogene Souveränität und die stabile Personality, die er so gerne vermittelt hätte?

Liam war so aufgebracht, weil er sich mit Schaudern erinnerte, dass er seinen Töchtern zuliebe schon viele uninteressante junge Männer anlachen musste, mit ihnen freundlich zu konversieren hatte und selbst Kleinigkeiten in seinem Lebensstil ändern musste. Einmal war der Favorit einer der Töchter klapperdürr und fror jämmerlich bei jeder Gelegenheit. Unreflektiert musste die ganze Familie die Raumtemperatur so erhöhen, dass jeder Fernsehabend einer Sauna gleichkam. Dann lachte sich diese Tochter als Kontrast einen schwer Übergewichtigen an, der allein mit seinem Schwitzen für eine schlagartige, totale Einstellungsänderung bezüglich der Heizgewohnheiten sorgte.

Auch wenn es hier nur die Zimmertemperatur betraf: Liam könnte diese und ähnliche Erfahrung zur Anpassungsfähigkeit von Mädchen auf fast alle Bereiche des Lebens ausdehnen: auf den Fahrstil, die bevorzugte Automarke, sportliche Betätigungen, Frisuren, Aussehen, Vorlieben beim Essen, Rauchen, politische Meinungen, Präferenzen bei Musik, Reitstile, Einstellung zu den Eltern,...

Liam Levirat sagte dann doch besonnen und leise, fast wie im resignierten Selbstgespräch:

„Ich mag Mädchen lieber, sie sind kreativer, leistungsfähiger, .....passen sich besser an“,....

Ja da war sie wieder, die geliebte, ungeliebte Anpassung...

Du entrinnst nicht

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