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2.1.4 Was sagen Diagnosen?

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Psychiatrische Diagnosen sind reine Beschreibungen von Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten eines Menschen. Sie erklären nichts. Sie geben auch keinerlei Auskunft über die Ätiologie des Beschriebenen. Darin bestand der große Schritt von der ICD-9 zur ICD-10. Die Autorinnen und Autoren der ICD-10 erklärten, man wisse derzeit so wenig über die Ursachen psychischer Störungen, dass man sich entschlossen habe, Überlegungen zu den Ursachen aus den diagnostischen Beschreibungen ganz herauszulassen. Wesentlich aus diesem Grund wählte man auch – wie im Vorwort der ICD-10 ausgeführt – den Begriff »Störung«,

»um den problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie ›Krankheit‹ oder ›Erkrankung‹ zu vermeiden.«

Denn ein populärwissenschaftliches Konzept von Krankheit ist traditionell mit der Idee verbunden, dass Symptome Anzeichen für zugrunde liegende Prozesse seien, die behandelt respektive beseitigt werden müssten – eine Vorstellung, die für psychische Störungen kaum als zutreffend angesehen werden kann.

Diese Beschreibungen von auffälligen, symptomatischen Verhaltensweisen, die zu Syndromen zusammengefasst und mit einem diagnostischen Begriff etikettiert werden, basieren auf Unterscheidungen, die ein Beobachter oder eine Gruppe von Beobachtern

»entweder aufgrund beobachteter Veränderungen in einer Zeitspanne oder aufgrund von Vergleichen mit anderen Menschen, stellvertretend auch mit Normen, gemacht hat. Die Beschreibung von Verhalten beruht auf Unterscheidungen im Phänomenbereich des Verhaltens. Verhalten beschreibt Veränderungen eines Wesens in Bezug auf ein Milieu« (Maturana u. Varela 1987, S. 150).

Demgegenüber dienen diese Verhaltensweisen aus der Sicht des Individuums der Verwirklichung seiner Struktur in Koppelung mit seiner Umgebung und sind deshalb für dieses Individuum sinnvoll und angemessen. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen der Logik des Beobachters und der Logik des diagnostizierten Individuums (Ludewig 1989, S. 32). Diese Diskrepanz zu berücksichtigen ist für die psychotherapeutische Arbeit von hoher Bedeutung (siehe Abschn. 8.5).

Weil Diagnosen lediglich Beschreibungen des Verhaltens und Erlebens eines Menschen sind, können sie selbstverständlich auch niemals Ursache des beschriebenen Verhaltens sein – wenn man das dennoch annimmt, ist das ein abenteuerlicher Zirkelschluss, der aber umgangssprachlich oft (und leider zuweilen auch von Therapeutinnen und Therapeuten) vollzogen wird, beispielsweise mit Aussagen wie: »Sebastian hat ADHS. Und deshalb verhält er sich so unruhig und unkonzentriert« – Verhaltensbeschreibungen, die zuvor zur Diagnose ADHS geführt hatten. Oder, im selben Zirkelschluss: »Sabine hat Trennungsangst [eine Beschreibung dessen, dass sie sich von ihrer Mutter nicht trennen kann], und deshalb kann sie sich von ihrer Mutter nicht trennen.« Lieb (2014b, S. 25) verweist auf die »sozialwissenschaftlich vertraute Tautologie«, die hier vollzogen wird:

»Sie besteht darin, dass von sichtbarem Verhalten auf ein systeminternes Konstrukt [die Diagnose] geschlossen wird, durch das dieses Verhalten dann wieder erklärt wird.«

Ängste von Kindern und Jugendlichen

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